Friday, October 25, 2019

Konfetti 40: Spalier

Im Spalier aufgereiht erwarten Soldaten hinter dem Grenzzaun des fiktiven Fürstentums Marana die Passagiere eines Schiffes, das soeben im Hafen angelegt hat. Das Empfangskomitee soll den Prinzen Michael ausfindig und dingfest machen, der im Land erwartet wird (und die Herrschaft eines anderen, illegitimen Prinzen gefährdet).

Da wird ein Spießrutenlauf vorbereitet, könnte man meinen. Tatsächlich jedoch formen die Soldaten mitsamt ihrer in die Gasse hineinragenden Gewehre kein Bestrafungsdispositiv; vielmehr definieren sie eine Bühne. Deutlich wird das schon vor dem Eintreffen des Schiffes: Die Truppe wird von ihrem Vorgesetzten nicht mit militärischem Drill auf die Aufgabe eingeschworen - sondern musikalisch. Die steckbriefartige Beschreibung des Prinzen verwandelt sich in den Text eines mehrstimmig vorgetragenen Liedes (“Blaue Augen, blondes Haar / Alter: Fünfundzwanzig Jahr / Gesicht oval / Gestalt normal / und desgleichen / keine besonderen Kennzeichen”), das, sobald das Schiff anlegt, bruchlos übergeht in ein komplexeres musikalisches Arrangement: Die Stimme Gitta Alpars, der Sopranistin des Ensembles, legt sich über den Männerchor. Der plötzlich nur noch eine Art Rhythmusgruppe ist für das Solo der Diva. Es besteht jedenfalls eine hörbare Übereinkunft des Singens, des gemeinsam Musizierens, die Jäger und Gejagte miteinander verbindet.

Vor dem Grenzzaun stehen also die musikalischen Soldaten, in zwei Reihen in die Tiefe des Bilds gestaffelt. Einer nach dem Anderen treten dann die Mitglieder eines Opernensembles, das in Marana gastiert (oder zu gastieren vorgibt, eigentlich haben sie andere Pläne und natürlich ist Michael, der Gesuchte, Teil des Ensembles) in die Gasse, die von den Soldaten definiert wird. Die Ankommenden sind, nachdem sie durch ein Tor im Zaun treten, zunächst nur klein, im Hintergrund zu sehen und schreiten dann, während sie schon zu singen beginnen, durch das Spalier auf die Kamera zu, bis sie in einer Nahaufnahme ankommen und also das Bild dominieren. Nun erst ist der Bühnenraum komplett etabliert. Und zwar handelt es sich nicht um einen theaterhaften, sondern um einen genuin filmischen Bühnenraum, also einen, der in erster Linie vom zweidimensionalen Bild her gedacht ist: Die links und rechts jeweils zuvorderst platzierten Soldaten verdoppeln die Ränder der Leinwand, die ins Bild ragenden Gewehre isolieren, als zusätzliche Rahmung, die Gesichter der Vortretenden.

Wer vorn im Bild angekommen ist, sieht sich, im nächsten Schritt, mit der Aufgabe konfrontiert, diese Rahmungen zu überschreiten und also das Spalier zu durchbrechen. Den Sängerinnen und Sängern gelingt das, natürlich, singend. Jeder Neuankömmling trägt eine eigene Strophe vor, stets in derselben Melodie und stets im Stil einer humoristischen Selbstvorstellung: “Ich bin der Opernbösewicht / aber keine Angst, ich tu nur so / im Leben bin ich’s nicht”, “Ich bin noch jung und sing schon Alt” und so weiter. Die Musik greift auf alle Elemente der Filmsprache über: Wenn der Bass seine Stimme immer tiefer absenkt, spielt die Kamera das Spiel mit und gleitet ebenfalls an seinem Körper entlang in Richtung Boden.

Es geht bei alldem darum, die Grenzen des Bildraums zu erweitern, aber nicht rabiat, sondern spielerisch; es gilt, die Mensch gewordenen Begrenzungen des filmischen Bühnenraums weichzusingen, zu bezirzen, ihnen schöne Augen zu machen. Jeder und jede erreicht dies auf seine oder ihre eigene Weise. Selbstverständlich ist auch die List, mit deren Hilfe Michael, der Prinz, die Soldaten überlistet, eine musikalische List und gleichzeitig eine Bühnenlist: Max Hansen, der Darsteller des Prinzen, schreitet mit Perücke und in Frauenkleidern durch die Reihen der Soldaten und gibt sich als Understudy der Sopranistin aus: “Mir unterdrückt man mein Talent / Weil man mich zweite Besetzung nennt”. Raffinierter noch als alle seine Kollegen beherrscht der falsche (aber mit einem erstaunlichen Stimmumfang ausgestattete) Sopran den Bildraum und hängt, aus Lust am Rollenspiel, gleich noch eine zweite Strophe dran: “Was kann so schön sein / Wie Deine Liebe / Küss mich um die ganze Welt”.

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Die Szene findet sich in Carl Froelichs Die - oder keine, einer der Sternstunden des inzwischen weitgehend vergessenen, aber einst enorm populären Genres des Operettenfilms. Die - oder keine entstand 1932. Ein Jahr später übernahmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht und auch das Kino. Die oben beschriebene Szene führt mir noch einmal in schmerzhaften Deutlichkeit vor Augen, was der deutschen Filmgeschichte in der Folge verloren gegangen ist: Im Nazikino wird der alle Aspekte des Filmischen umfassende musikalische Konsens aufgekündigt und die vorher noch flexiblen Ränder des Bildes verhärten sich.

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