Friday, March 30, 2012

Nachtschichten, Ivette Löcker, 2011

Es ist schon etwas her, dass ich Ivette Löckers Nachtschichten gesehen habe: vor einem guten Jahr, auf der Diagonale 2011, im Grazer Schubertkino 1. Es war der letzte Festivaltag, kurz vor der Abreise, deswegen hatte ich damals nichts über den Film geschrieben, ich hatte mich aber sehr darüber gefreut, dass er den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen hatte. Der Deutschlandstart des Films vor zwei Wochen war dann so klein und unscheinbar, dass auch ich ihn übersehen habe. In der Splatting Image hat Thomas Groh einen schönen Text zu diesem für mich schönsten deutschsprachigen Film des Jahres 2011 geschrieben, sonst scheint er überall untergegangen zu sein.

Nachtschichten beschreibt das Verhältnis einiger Menschen zur Berliner Nacht. Der Film folgt zwei Graffiti-Sprayern auf ihren Streifzügen, klettert ihnen auf riskanten Wegen über die Dächer und Fassaden nach, er folgt einer Sozialarbeiterin, die sich um Obdachlose in den Stadtparks kümmern, er folgt einem passionierten Nachtwanderer, der erklärt, wie er sich im Laufe der Jahre in einem Leben ohne soziale Kontakte eingerichtet hat, er folgt einer Wachschutzbeamtin, die sich nicht ganz so weit zurückgezogen hat, die sich aber danach sehnt, ihr Leben nach einfachen, klaren Regeln leben zu können und die vor allem mit Intimität nichts mehr zu tun zu haben mögen scheint, er folgt einem Obdachlosen auf der Suche nach einer Unterkunft, er folgt Polizisten, die (andere) Graffitijäger verfolgen, aber nicht zu fassen bekommen. Mit dem "Nachtleben" der hippen Partystadt Berlin hat das alles nicht das geringste zu tun; okay, es gibt noch ein weiteres Portrait, das einer japanischen DJane, aber auch da interessiert sich Löcker eher für die Einsamkeit hinter dem DJ-Pult, als für diejenigen, die mithilfe ihrer Musik, wie es treffend heißt, "die Nacht zum Tag machen". In Nachtschichten bleibt die Nacht Nacht.

Nacht aber auch nicht als das Romantisch-Raunende, das Mysterium, die dunkle Unterseite der hellen Ratio; die Menschen, denen Löcker folgt (und es geht immer um Passagen), sind nicht "umnachtet", sie werden zwar von der Nacht eingehüllt, vom Dunkel umfangen, dann aber auch isoliert und als Einzelne so genau konturiert, wie sie am Tag, eingespannt in tausenundeine Beziehung, nie konturiert werden könnten. Vielleicht ist das auch eine Besonderheit der urbanen Nacht: Es wird zwar dunkel, aber nie komplett finster. Dunkel genug, um nicht sofort erkannt, identifiziert zu werden (man hat Kontrolle: man kann sich zum Beispiel dafür entscheiden, eine taktvolle Dokumentarfilmerin für ein paar Schritte an sich herantreten zu lassen), hell genug, um sich selbst zu orientieren, um ein eigenes Verhältnis zur dunklen Seite der Stadt aufzubauen. Aber auch das ist eine Vereinfachung; im Film verfestigt sich das nie: für den einen ist Nacht Alltag, für den anderen Distanzierung vom Alltag, für den einen ist sie aufgeladen mit Sehnsucht, der andere scannt sie wie eine offen daliegende Karte. Die Kamera fügt sie zusammen, zur Gemeinschaft derer, die im Dunkel der Vergemeinschaftung widerstehen.

Das Kino Zukunft Berlin zeigt Nachtschichten noch bis zum 11.4., zur Zeit läuft der Film täglich um 18:15. Ich kann ihn nur von ganzem Herzen empfehlen.

Der Trailer verrät über den herzergreifenden Humanismus des Films wenig, seine digitale Schönheit aber lässt er erahnen:

Tuesday, March 27, 2012

Diagonale 2012: ranking und Kurzkommentare

Ergänzung zu hier.

***** This Love of Ours (William Dieterle)
***** Low Definition Control - Malfunctions #0 (Michael Palm)
***** Schwere Augen (Siegfried A. Fruhauf)

Psychedelisches Kino in Reinform: "Follow Me", ein Sog in eine Welt aus gespiegelten Gesichtern, von Blicken, die das Gesicht des Angeblickten wie des Blickenden zersetzen, mittels digitaler Zersetzungen, die sich in das analoge Bild, insbesondere in die analogen Gesichter, graben. Der Film geht von zwei weißen Rechtecken vor schwarzem Hintergrund aus, die an zwei leere Bildkader erinnern und natürlich auch an zwei Augen. In die Leere der Kader scheint sich dann eine Differenz einzuschreiben, die nie ganz aufgehoben wird: linke und rechte Leinwandhälfte stehen in einem verschobenen Spiegelverhältnis zueinander.
Ich werde immer noch nicht so ganz schlau daraus, was Fruhauf das vorgefundene Material, aus dem seine Filme entstehen, eigentlich bedeutet. Er eignet es sich in jedem Fall sehr grundsätzlich an, es geht nicht mehr - wie selbst noch bei den auf den ersten Blick recht ähnlichen Filmen Tscherkasskys - um einen im weitesten Sinne analytischen Zugriff, sondern um eine totale Transformation. Ein nachträgliches, fiebriges, digitales Vibrieren, das das ältere, organische, analoge Leben kannibalisiert.

***** Conference - notes on film 05 (Norbert Pfaffenbichler)

Hitler und das Knarzen. Nazi noise.

***** Way pf Passion (Joerg Burger)
***** Turret (Björn Kämmerer)

Weiße, vertikale Balken, die über die schwarze Leinwand schweben, in einer Art Kreisbewegung. Die Balken haben, aber das erkennt man nicht gleich, eine eindeutig zuschreibbare Materialität: Kämmerer filmt rotierende Fensterleisten, in Spiegelungen erkennt man dann sogar die Glasscheiben. Aber wie dieser faszinierende, kleine Film tatsächlich funktioniert, was für Montagetricks hinter diesen rotierenden Mustern stecken, das ist trotzdem nicht leicht zu erkennen. Großartig, wie da in der totalen Abstraktion das Konkrete aufscheint und trotzdem nicht als Welt gebannt werden kann.

**** Glaube Liebe Tod (Peter Kern)
**** Abschied ein Leben lang (Käthe Kratz)
**** Berlin Express (Jaques Tourneur)
**** Die toten Fische (Michael Synek)
**** Richtung Nova Huta (Dariusz Kowalski)

"Crazy Guides" fahren in rot-schwarz-lackierten Trabants durch einen vormals als Metaller-Modellstadt angelegten Stadtteil Krakaus und erklären Touristen das postkommunistische Polen, dessen aufschlussreiches Symptom sie selbst sind. Kowalskis kluger, kleiner Dokumentarfilm portraitiert eine Stadt, in der vom Kommunismus nur noch architektonische Zeichen künden und einige Motivationsschilder im letzten, verbliebenen Stahlwerk. Soweit das überhaupt geht nähert sich der Film seinem Sujet vorurteilsfrei, er lässt differierende Standpunkte nebeneinander stehen, auch das historische Foto- und (ganz am Ende) Filmmaterial wird nicht dazu missbraucht, das restliche Material überzudeterminieren.

**** Atmen (Karl Markovics)
**** Kern (Veronika Franz / Severin Fiala)

Einen "Fuchtelfilm" hätten sie über ihn gedreht, wirft Peter Kern seinen beiden PortraitistInnen vor. Das ist Blödsinn: Die Kamera bestimmt ihr Verhältnis zu dem kolossalen österreichischen Regisseur, zu dem ein Verhältnis zu finden nicht eben leicht ist, stets auf sehr kluge und tendenziell auch auf eher zurückhaltende Art und Weise. Sie lässt ihm Raum zur Selbstdarstellung, aber zieht sich oft so weit zurück, dass er das Bild doch nicht ganz beherrschen kann, dass seine Situiertheit mitkommuniziert wird.
Natürlich ist Kern auch ein Film über Selbstinszenierung. Und der Versuchung, diese zu durchschauen und den wahren Kern im Kern zu finden, kann der Film auch nicht ganz nachgeben, was dann in selbstreflexiven Momenten mündet, die nicht unbedingt die stärksten des Films sind. Toll dagegen, wenn Kern auf den Schnittlauch schimpft, seine Wohnung herzeigt, seine eigenen Filme anschaut, bei der Arbeit beobachtet wird.

**** Ship of Fools (Stanley Kramer)
**** Am Rand (und andere Filme von Ferry Radax)
**** Im freien (Albert Sackl)

Erst ein umwerfender Zeitraffer-Landschaftsfilm, der die Welt und den Blick auf sie transformiert. Die Bewegung des Films, die durch die Möglichkeiten des Kinos halluzinatorisch verformte Landschaft dann mit abstrahierten, hartwinkligen Formen, allso dem Gegenteil von Natur, zu konfrontieren, funktioniert zunächst ganz gut (ein balken, der immerzu zwischen schwarz und weiß switcht, dass dann aber die Bewegung des Films eine weg von der Natur und hin zur Abstraktion (und dann sogar irgendwann hin zum menschlichen Körper) ist, tut ihm nicht wirklich gut.

*** Outing (Sebastian Meise / Thomas Reider)
*** Griffen - Auf den Spuren von Peter Handke)

Die Skurrilitäten der Kärntner Bauernschaft verstellen leider des öfteren den Blick auf die interessanten Elemente, die der Film eigentlich durchaus auch für Handke-nicht-so-richtig-interessant-Finder (oder vielleicht auch nur: Handke-schon-lange-nicht-mehr-gelesen-Haber?) wie zum Beispiel mich haben könnte.

*** What Is Love (Ruth Mader)

Seidl in langweilig (?)

*** 1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh (Carmen Tartarotti)
** Brand (Thomas Roth)
* Stillleben (Sebastian Meise)

Outing ist ein durchaus interessanter, wenn auch in seinem gelegentlich seltsam paternalistisch anmutenden Gestus nicht unproblematischer (Langzeit-)Dokumentarfilm über einen Architekturstudenten, der sehr freimütig über seine pädophile Neigung und seinen Vorsatz, ihr niemals nachgeben zu wollen, Auskunft gibt. Warum Meise aus dem Stoff dann aber ein Spielfilm und, was allerdings eher ein Nebenproblem ist, aus dem Archäologiestudenten einen gestandenen Familienvater machen musste, erschließt sich mir überhaupt nicht. Heraus kommt eine technisch slicke, dramaturgisch zähe, psychologisch reichlich unbeholfene Vereindeutigung der im Dokumentarfilm so viel eindringlicher und komplexer bearbeiteten Thematik; weiß der Geier, warum der Film den Spielfilmpreis des Festivals erhalten hat.

* Spanien (Anja Salomonowitz)

Tuesday, March 20, 2012

in passing (American Eighties 18)

Alone in the Dark, Jack Sholder, 1983

Worauf der Film hinausläuft - vier Insassen einer psychiatrischen Klinik brechen aus und terrorisieren einen ihrer Ärzte samt Familie - ist von Anfang an klar, trotzdem überrascht der Film immer wieder, in seinen plötzlichen Schwerpunktverlagerungen und Tonlagenwechseln. Am Anfang eine lyncheske Alptraumsequenz in einer Bar mit dem Namen "Mom's", in der schweigsame Männer am allzu langen Tresen sitzen, bis einer das Messer auspackt; dann Schnitt vom ausholenden Messer auf eine sehr generische Titelsequenz: menschenleerer Flur, gewinkelte Kamera, cheesy Eightiesmusik; dann erst einmal eine ganze Weile fast schon sozialrealistisches Problemkino um einen Psychiater, seine Patienten, seine Frau, seine liebevoll und ausführlich gezeichnete friedensbewegte Schwester und so weiter; ein Stromausfall bringt Chaos und Dunkelheit, aber dann ist erst einmal wieder Ruhe. Gegen Ende wird Alone in the Dark dann doch noch Terrorkino pur, aber so ganz rechnet der Film das alles nicht gegeneinander auf.
Besonders (und wenn man sich nur an der bloßen Genreökonomie orientiert: unangemessen) viel investiert der Film in zwei Figuren: in die Schwester und in den Chefpsychiater (Donald Pleasance), der auch dann noch an das Gute im Psychopathen glaubt, wenn der sich schon seit geraumer Zeit auf fröhlicher Menschenjagd befindet. Beide Figuren binden das Psychotiker-Motiv an die Utopien der Siebziger Jahre (eigentlich stammt die gesamte Idee eines "sozialen Bösen" aus den seventies, in den Achtzigern gibt es da nur wenige Nachzügler; Alone in the Dark ist einer der Interessantesten); es ist nicht so, dass der Film dann einfach nur diese Utopien diskreditieren, in einem Blutbad auflösen möchte. Denn gleichzeitig gibt es eine Kritik am Konzept des Patienten und eine tendenzielle Nivellierung der Unterschiede zwischen Gesunden und Kranken. Und allgemeiner geht es durchaus den ganzen Film über um Möglichkeiten, andere Menschen verstehen, zu ihnen eine Beziehung aufbauen zu können. Die letzte Szene (Jack Palance auf dem Punk-Konzert) ist dann so oder so ziemlich unglaublich.

Sole Survivor, Thom Eberhardt, 1983

Gleiches Jahr, wieder ein Horrorfilm mit psychiatrischem Thema, aber ganz andere Stimmungslage; es geht um ein angebliches "sole survivor"-Syndrom, das laut Drehbuch-Küchenpsychologie dazu führt, dass Überlebende von Unglücksfällen eine psychischen Todestrieb entwickeln. Die "Materialisierung" dieses Syndroms in Gestalt von wandelnden Leichen (eine tolle Figur ist ein aus nicht nachvollziehbaren Gründen staatsskeptischer Arzt, der sich darüber wundert, dass immer mehr Leichen auftauchen, deren Blut in ihre Beine gesackt ist) lässt sich dann natürlich bald nicht mehr auf Psychisches zurückbinden.
Ich kenne, glaube ich, keinen Hollywoodfilm der Achtziger (ach was, der gesamten letzten vier Jahrzehnte), der den Val-Lewton-Filmen so nahe gekommen wäre, wie dieser. In seinem Versuch, Stimmungen in Texturen einzufangen, zum Beispiel (wie die verregnete Fensterscheibe das Gesicht ornamentiert); in seinem Versuch, den ontologischen Status der "verstörenden Bilder" so lange wie möglich so offen wie nur möglich zu lassen; in einzelnen Einstellungen, in denen sich die Verstörung, der Riss im Alltagsrealismus als filmischer Effekt langsam entfalten kann (wenn sich die beiden Liebenden trennen, er läuft nach hinten weg, sie nach vorne auf die Kamera zu, sie wird von einer Stimme aus dem Off "angerufen", er ist noch zu sehen, aber nicht mehr erreichbar); auch in Figurenzeichnung und Schauspielführung - kaum zu glauben und eine Schande, dass Anita Skinner nach dieser großartigen Rolle keinen weiteren imdb-Credit mehr hat, wie sie die stets reflektionsfähige, smarte Hauptfigur anlegt, das ist einfach großartig.

I, Madman, Tibor Takacs, 1989

Komplett ins Imaginäre, Selbstbezügliche gekippt ist der Horrorfilm dann in I, Madman. Ein Roman macht sich selbstständig, als Text auf der Tonspur (in erster Person vorgetragen, eine emphatische, psychotische Subjektivität, die Welten erschafft, um sie gleich wieder zu vernichten) zunächst, später als ein Serienkiller, der sich selbst "zusammenflicken" muss: von jedem Opfer ein Körperteil. Die Leserin, die den Horror aufgrund ihrer Liebe zum pulp erst in die Welt gesetzt hat, wird ihm schließlich auch wieder ein Ende setzen, mithilfe eines anderen Hirngespinsts. Der Endkampf findet, wie auch andere zentrale Szenen, in einer überquellenden Buchhandlung statt, deren hartgekochte Besitzerin einen eigenen Film verdient hätte. Unterhaltsam ist das alles durchaus.

Alle drei Filme wurden mir von Oliver Nöding empfohlen. Vielen Dank dafür!

Thursday, March 15, 2012

Across 110th Street, Barry Shear, 1972

Lange ist da nicht so wahnsinnig viel los, es wird viel erklärt und charakterisiert, man hat, wie bei einigen anderen der größeren Studio-Blaxploitationfilme, das Gefühl, dass der Film meint, sich irgendwie immer noch rechtfertigen zu müssen für die Hautfarbe seiner Figuren. Immerhin gibt es Richard Wards tiefes, dröhnendes Lachen. Und die Kamera ist von Anfang an toll, wenn sie durch Ladenfronten hindurch filmt, die Stadt in den Film eindringen lässt, als Bildtiefe, wenn sie, von Bobby Womacks tollem Soundtrack beschwingt, Sprünge wagt, die im amerikanischen Kino sonst nicht immer drin sind (direkt auf den italienischen Gangsterboss, der in Großaufnahme die Treppe herunterschwebt, Schattenstreifen über dem Gesicht).

All das bereitet nicht auf die unglaublichen letzten zehn Minuten vor, auf die Jagd auf dden letzten überlebenden Gangster, der sich in einem Mietshaus verschanzt hat. "I already know how it's gonna turn out" sagt Ward zu Beginn des Finales und lacht noch ein letztes Mal leise dröhnend in sich hinein, während die Kamera langsam autonom wird, weil sie auch schon etwas zu ahnen scheint von dem, was jetzt kommt. Es folgt dann ein unglaublicher shoot-out, in dem nur noch Schüsse mit Autohupen und Womacks Funk kommunizieren, erst im Treppenhaus, dann auf der Straße, dann über Bauschrott aufs Dach, der Gangster hat ein Maschinengewehr und mäht die Angreifer nieder (das Maschinengewehr als letzte und einzige Möglichkeit, sich noch zur Welt zu verhalten), aber zwischen den Schornsteinen wird er dann erledigt, mit drei gezielten, kaltblütigen Schüssen, von drei Polizisten, die ganz hinter ihrer Waffe verschwinden, wird er niedergeschossen, wie Richard Wrights Native son. Ganz am Ende noch ein weiterer Schuss, aus einer schallgedämpften Waffe, einer der Polizisten ist im Kopf getroffen, bricht zusammen und der Film kollabiert mit ihm: eine Serie von Standbildern, eine verhallte Polizeisirene und dann ist Schluss.

Wednesday, March 07, 2012

Now Showing, Raya Martin, 2008

Ein Mädchen, Rita, vielleicht sieben, acht Jahre alt, in ihrem Schlafzimmer, sie singt ein Lied nach und dann tanzt sie. Dann ist sie draußen und spielt mit ihren Freunden. Dann gibt es irgendwann eine Geburtstagsfeier. Dann irgendwann Gespräche mit der Mutter (unter anderem über die Großmutter: die war Filmschauspierin), irgendwann liegen die beiden, Mutter und Tochter, auch gemeinsam im Bett und hören sich eine Horrorsendung im Radio an. Irgendwann lernt sie so viel und so lange, dass die Mutter sich schon fast über sie lustig macht, irgendwann verreist sie. Und so geht das fast zwei Stunden lang, Szenen einer Kindheit, die sich nicht in eine Struktur fügen, keine Nacherzählung von Prägung, sondern unbehauene, hintereinander geschaltene Erfahrungsblöcke (Warten, Laufen, Essen, Spielen, Weinen), nervöse, oft fast verwischte Bilder, Szenen, die ereignislos minutenlang stehen bleiben und dann mitten in einem ziellosen Gespräch abbrechen, wenn gerade eine Katze durchs Bild läuft, fokussiert die Kamera noch einen Moment länger. Kaum zu fassen ist dieser erste Filmabschnitt, ich kannte solche Bilder vorher nicht, vielleicht sind es hypothetische Erinnerungsbilder: wie wenn man versucht, sich zu erinnern, wie es gewesen ist, ein Kind zu sein, ohne gleich zu versuchen, die Dinge zu sortieren. Jeder Moment ist da exakt gleich wichtig, es ist nicht einfach, sich dazu zu verhalten als Zuschauer.
Dann ein Zwischenspiel, Szenen aus dem Film Tunay na Ina, einem von zwei, drei philippinischen Filme, die aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg überlebt haben. Auch da scheint es um eine Mutter und eine Tochter zu gehen, Raya Martin reißt auch da einzelne Szenen aus einem Zusammenhang, der nicht interessiert, weil er von Anfang an nur konstruiert war, um das Verlangen zu verstecken, das die Menschen offenbaren, wenn man sie einfach nur filmt. Aber nicht aggressiv, zerstückelnd, analytisch (nicht wie Ken Jacobs, zum Beispiel) geht Martin mit dem alten Film um, statt dessen sind seine Eingriffe sanft, fast, als würde er die alten Bilder streicheln, wenn er sie neu ordnet, mal eine Szene rückwärts, die nächste in Zeitlupe laufen lässt und schließlich eine Art Geistererscheinung in die Geistererscheinung projiziert, wenn er in eine Szene einen Spiegeleffekt einbaut. Man müsste Laura Mulveys "Death 24x a Second" noch einmal mit diesem Film lesen, auch bei Mulveys Idee von einem "delayed cinema" geht es ja nicht nur um den "forschenden Blick", sondern gleichzeitig um die Rührung, die einen überkommt, wenn man alte Filmschnipsel durchsieht, anhält, mit ihnen spielt.
Im dritten Teil ist Rita älter, eine Jugendliche, die in einem kleinen Ladengeschäft Filme auf gebrannten DVDs verkauft, einen Freund hat, wieder geht es um eine Geburtstagsfeier, wieder gibt es Gespräche mit der Mutter (die in einem alten Fotoalbum blättert und weint), wieder verreist sie. Es scheint etwas eingerastet zu sein zwischen den beiden Zeitebenen, gefilmt ist dieser dritte Teil in starren, langen Einstellungen, es gibt narrative Verknüpfungen, sogar unterfüttert mit einigen Redundanzen. Man redet über etwas und danach tut man es. Aber kaum haben sich ein paar Handlungsstränge etabliert, lösen sie sich schon wieder auf, Rita verlässt die Party ihrer Freundin, sitzt regungslos in Kneipen, die Kamera findet kein rechtes Verhältnis mehr zu ihr, der Film desintegriert, löst sich in einer letzten Busfahrt und einer extatischen Schlusstitelsequenz auf. Viereinhalb Stunden dauert der Film insgesamt. Das philippinische Kino ist seit Jahren schon das schönste der Welt.

Monday, March 05, 2012

Serafin Geronimo: Ang kriminal ng Baryo Concepcion / The Criminal of Barrio Concepcion, Lav Diaz, 1998

Am Anfang wird Serafin Geronimo zur Ordnung gerufen: Alle anderen haben ihre Äcker schon bestellt, nur er nicht. Er sitzt auf einer Wiese, wie gelähmt, wie herausgefallen aus den Bewegungsdynamiken des Alltags. Im Film sitzt er immer wieder regungslos da, oft blickt er nach unten, auf den Boden, gelegentlich nach oben, in den Himmel, auch wenn er geradeaus schaut, kann er seinen Blick nicht in Bewegung übersetzen. Statt dessen verkrümmt ihn die Welt, schief steht er in ihr herum, wenn er sich doch rührt, dann nicht, weil er sich die Welt in der Bewegung Untertan machen will, eher verformt ihn die Welt (und noch mehr: die Vergangenheit), drückt ihn zu Boden, verleitet ihn zu kurzen, hilflosen Affektbewegungen, die dann aber stillgestellt werden: nicht einmal der wütende Faustschlag auf den Tisch steht ihm zur Verfügung. Lav Diaz erzählt vieleicht immer die Geschichten derer, die ihr Land zuletzt pflügen.
Es gibt zwei Zeitebenen im Film: In der Gegenwart wird Serafin Geronimo (dessen Nachname vermutlich kein Zufall ist) von einer Journalistin angesprochen, die, das zeigt der Film zumindest dann, wenn er sie im Profil filmt, ebenfalls eine Angehörige des schiefen, krummen, selbstzerstörerischen Lav-Diaz-Stamms ist, die in ihm vermutlich ihresgleichen erkannt hat, die aber trotz allem noch nicht aufgegeben hat und die sogar ganz am Ende, wenn sie eigentlich schon längst hätte aufgeben müssen, noch daran glaubt, mit ihrer Arbeit die Welt verändern zu können: Sie wird dann vor ihrer Schreibmaschine sitzen, eingespannt ein leeres Blatt, bereit loszulegen: Worte, wo Bewegungen nicht mehr möglich sind. Serafim hat ihr seine Geschichte erzählt, während zweier Nächte, in der Stadt, in Cafes und Discos, während draußen ewig der Regen vom Himmel fällt, ein Regen, der nichts wegspült, der nicht befreiend ist, sondern der ganz im Gegenteil auf diesem großen Film lastet wie Blei.
Die Rückblenden, entlang der Erzählung Serafins, dagegen werden verbrannt vom unbarmherzigen Sonnenschein der Provinz, der Menschen leben, die, wenn sie sich nicht auf dem Feld abschuften, verloren in der wunderschönen Landschaft kauern, in diesen typischen Lav-Diaz-Aufnahmen, die durchaus schon in diesem ersten Film auftauchen (jene Aufnahmen, über die Ekkehard Knörer schreibt: "Die Totalen aber sind nie zentralperspektivisch, die Bilder sind keine Tableaus, sondern immer schon durch einen Blick asymmetrisiert, der von vorneherein alle Objektivitätsbehauptungen unterläuft."). Serafin landet dann bei Terroristen, sie entführen eine Politikergattin und ihr Kind. Serafim macht mit, aber gleichzeitig schaut er auch immer nur zu, weil er abgeschnitten ist von der Welt, im Guten wie im Bösen. Während der Entführung pumpen die Beats, "The Criminal of Barrio Concepcion" entstand noch innerhalb der philippinischen Filmindustrie, über die Tonspur hatte Lav Diaz ganz eindeutig nicht die allleinige Verfügungsgewalt.
Zurück in der Stadt geht es weiter in eine Disco, ein wenig melancholische, drogengeschwängerte Extase, dann wieder der ewige Regen der aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein fällt. In der Vergangenheit der Widerschein von Explosionen auf Serafins Gesicht. Es wird nasty, der durchgeknallte Anführer der Terroristen wühlt in Gedärmen, schießt Geiseln und unliebsamen Kontrahenten aus heiterem Himmel in den Kopf, nicht zufällig, vermutlich, erinnert er von Ferne an den psychotischen Major Contra aus Lino Brockas Orapronobis. Das neue philippinische Kino besteht, das fällt mir in diesen Szenen seines vielleicht ersten Meisterwerks ein weiteres Mal auf, hauptsächlich aus Horrorfilmen.
Am Ende, wie angeklebt, schleicht sich ein sogar leicht übersinnlich eingefärbtes Melodram ein: es geht um das entführte Kind und um Serafins kranke Frau. Eine Braut mit blutüberströmten Füßen taucht auf. Wie dann aber der Stiefvater versucht, Serafim, als es zum Schlimmsten kommt, zu trösten und dabei zweimal die Hand von dessen Schulter wieder wegzieht: da versagt das Melodram, allen Geigen zum Trotz, vor dem historischen Trauma.

Thursday, March 01, 2012

Kem Nunn / Charles Band (American Eighties 17)

Schön an den neuen Qualitätsserien nicht nur von HBO ist ja auch, dass man über sie einen Einstieg finden kann in die amerikanische Gegenwartsliteratur. Dass The Wire aus einer bestimmten Perspektive vor allem eine Schnittstelle ganz unterschiedlicher literarischer Werkzusammenhänge ist, dürfte sich schon herumgesprochen haben. Aber auch im Universum des David Milch gibt es Abzweigungen in die Belletristik. Für die Deadwood-Episode 3.8 heuerte Milch den Romanautor Kem Nunn an, bei dem leider nur kurzlebigen Nachfolgeformat John from Cincinatti war Nunn dann sogar co-creator.
Kem Nunn hat seit den frühen Achtziger Jahren fünf Surferromane geschrieben, "surf noirs", genauer gesagt. Ich lese gerade den ersten, Tapping the Source, bisher gefällt er mir sehr gut. Ein Junge auf der Suche nach seiner Schwester in Südkalifornien, Huntington Beach, die Siebziger sind vorbei, der Vietnamkrieg ist es auch, die meisten Drogen sind nicht mehr da, aber nüchtern sieht man auch nicht klarer. Ein wenig Surferpoesie, aber das hatte ich mir schlimmer vorgestellt - Erlösung findet man auch in den Wellen nicht. Die Hoffnung auf eine neue Welt hat sich nicht erfüllt, trotzdem gibt es keine Sehnsucht nach der Alten, nach Familie zum Beispiel. Ike, die Hautfigur weiß: In seiner Familie gab es nie jemanden, der ein normales Leben geführt hat, auch für ihn gilt es vor allem, mit so wenig Platzwunden wie möglich davon zu kommen. Er kommt aus der Wüste ans Meer, kennt von der Zivilisation nur den Rand, blickt immer auf eine endlose Fläche, die sich jenseits von ihr befindet. Die Überreste der Siebziger heißen Hound Adams oder Preston Marsh, sie schlagen sich gegenseitig die Schädel ein, verlieren alle Finger außer ihren Daumen. Ein Buch über blockierte Träume, das man vielleicht als eine Art sequel zu Pynchons Inherent Vice lesen lann - oder eben als prequel zu John from Cincinatti.
Charles Band schönen Low-Budget-Science-Fiction-Film Parasite (in 3D gedreht, immerhin) habe ich aus irgendeinem Grund mit Nunns Buch in Verbindung gebracht. Miteinander zu tun haben Buch und Film erst einmal gar nichts: In Parasite geht es um zwei Monsterwürmer, die aus einem Labor entkommen, einer nistet sich in Robert Glaudinis Bauch ein, der andere wird von Glaudini gejagt und frisst sich durch mehrere Wirtskörper. Glaudini und die Würmer landen in irgendeinem Kaff in der kalifornischen Einöde, Staub, Canons, ein schäbiges Hotel, ein schäbiges Diner, Demi Moore in ihrer zweiten Filmrolle, nicht viel mehr. Eine Jugendgang, drei Jungs, drei Mädels, die das Kaff terrorisiert, aber so schlimm ist das nicht, irgendwie mag man sie auch. Glaudini und sein Verfolger (in einem dieser absurden Sportwagen, deren Türen sich nach oben öffnen) bringen eine Thrillerhandlung in die Gänge, die freilich über ihre eigene mangelnde Reichweite weiß: Immer wieder unterhalten sich die Figuren über einen anderen, größeren Film, der sich vielleicht zur selben Zeit in Los Angeles abspielt, mit Killerviren, Straflager, vielleicht sogar mit einem waschechten Bürgerkrieg. Hier, in der Wüste, bleiben nur ein paar lächerliche Strahlenkanonen übrig und Wurmmonster, die sich schon fast zärtlich an Frauenoberschenkel schmiegen. Was den Film vielleicht mit Tapping the Source verbindet: seine Sehnsuchtslosigkeit, seine Nüchternheit. Von hier werden keine großen Karrieren ausgehen, aber weitermachen muss man trotzdem. Charles Band hat seit Parasite 33 weitere Filme gedreht und unglaubliche 283 produziert.