Ein Mädchen, Rita, vielleicht sieben, acht Jahre alt, in ihrem Schlafzimmer, sie singt ein Lied nach und dann tanzt sie. Dann ist sie draußen und spielt mit ihren Freunden. Dann gibt es irgendwann eine Geburtstagsfeier. Dann irgendwann Gespräche mit der Mutter (unter anderem über die Großmutter: die war Filmschauspierin), irgendwann liegen die beiden, Mutter und Tochter, auch gemeinsam im Bett und hören sich eine Horrorsendung im Radio an. Irgendwann lernt sie so viel und so lange, dass die Mutter sich schon fast über sie lustig macht, irgendwann verreist sie. Und so geht das fast zwei Stunden lang, Szenen einer Kindheit, die sich nicht in eine Struktur fügen, keine Nacherzählung von Prägung, sondern unbehauene, hintereinander geschaltene Erfahrungsblöcke (Warten, Laufen, Essen, Spielen, Weinen), nervöse, oft fast verwischte Bilder, Szenen, die ereignislos minutenlang stehen bleiben und dann mitten in einem ziellosen Gespräch abbrechen, wenn gerade eine Katze durchs Bild läuft, fokussiert die Kamera noch einen Moment länger. Kaum zu fassen ist dieser erste Filmabschnitt, ich kannte solche Bilder vorher nicht, vielleicht sind es hypothetische Erinnerungsbilder: wie wenn man versucht, sich zu erinnern, wie es gewesen ist, ein Kind zu sein, ohne gleich zu versuchen, die Dinge zu sortieren. Jeder Moment ist da exakt gleich wichtig, es ist nicht einfach, sich dazu zu verhalten als Zuschauer.
Dann ein Zwischenspiel, Szenen aus dem Film Tunay na Ina, einem von zwei, drei philippinischen Filme, die aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg überlebt haben. Auch da scheint es um eine Mutter und eine Tochter zu gehen, Raya Martin reißt auch da einzelne Szenen aus einem Zusammenhang, der nicht interessiert, weil er von Anfang an nur konstruiert war, um das Verlangen zu verstecken, das die Menschen offenbaren, wenn man sie einfach nur filmt. Aber nicht aggressiv, zerstückelnd, analytisch (nicht wie Ken Jacobs, zum Beispiel) geht Martin mit dem alten Film um, statt dessen sind seine Eingriffe sanft, fast, als würde er die alten Bilder streicheln, wenn er sie neu ordnet, mal eine Szene rückwärts, die nächste in Zeitlupe laufen lässt und schließlich eine Art Geistererscheinung in die Geistererscheinung projiziert, wenn er in eine Szene einen Spiegeleffekt einbaut. Man müsste Laura Mulveys "Death 24x a Second" noch einmal mit diesem Film lesen, auch bei Mulveys Idee von einem "delayed cinema" geht es ja nicht nur um den "forschenden Blick", sondern gleichzeitig um die Rührung, die einen überkommt, wenn man alte Filmschnipsel durchsieht, anhält, mit ihnen spielt.
Im dritten Teil ist Rita älter, eine Jugendliche, die in einem kleinen Ladengeschäft Filme auf gebrannten DVDs verkauft, einen Freund hat, wieder geht es um eine Geburtstagsfeier, wieder gibt es Gespräche mit der Mutter (die in einem alten Fotoalbum blättert und weint), wieder verreist sie. Es scheint etwas eingerastet zu sein zwischen den beiden Zeitebenen, gefilmt ist dieser dritte Teil in starren, langen Einstellungen, es gibt narrative Verknüpfungen, sogar unterfüttert mit einigen Redundanzen. Man redet über etwas und danach tut man es. Aber kaum haben sich ein paar Handlungsstränge etabliert, lösen sie sich schon wieder auf, Rita verlässt die Party ihrer Freundin, sitzt regungslos in Kneipen, die Kamera findet kein rechtes Verhältnis mehr zu ihr, der Film desintegriert, löst sich in einer letzten Busfahrt und einer extatischen Schlusstitelsequenz auf. Viereinhalb Stunden dauert der Film insgesamt. Das philippinische Kino ist seit Jahren schon das schönste der Welt.
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