Saturday, March 31, 2018

Qualitäten

Jede Filmkopie hat ihre eigene Materialität, ihre eigene Geschichte. Und es ist vor allem keineswegs so, dass es nur gute und schlechte Kopien gibt, gute, die einem Ideal des Films entsprechen und schlechte, die von ihm Abweichen. Jede Kopie hat eigene Qualitäten und man kann unterschiedliche Kopien höchstens in einzelnen Aspekten, nicht aber in grundsätzlicher Weise gegeneinander ausspielen.

Einige Kopien der Hongkongreihe: Full Contact erglänzt in vollen, dunklen, kräftigen Farben, das Bild erlaubt einen direkten Zugriff, dem sich A Moment of Romance hingegen verweigert. Beides sind gute Kopien, aber bei A Moment of Romance nehme ich in manchen Aufnahmen eine weiße Patina wahr, die ich unbewusst mit der fotografischen Technik zu assoziieren scheine und die das Bild in das Bild eines Bildes verwandelt. Peking Opera Blues ist an den Aktwechseln ziemlich verregnet, leider fällt einer auf jene Szene, in der die drei Mädchen in weißen Nachthemden vor weißem Hintergrund betrunken und kichernd um einen Globus herum sitzen. Auch macht der Film einen leicht verwaschenen Eindruck - und doch lenkt die Kopie zum ersten Mal (vorher hatte ich den Film nur digital gesehen) meine Aufmerksamkeit auf die Studiokulissen selbst, auf die diversen layers an Artifizialität, die den Film zu dem Kunstwerk machen, das er ist. A Chinese Ghost Story ist ebenfalls verregnet, mehr sogar, aber die plastische Klarheit der Figuren lässt das sofort vergessen. Die wunderbar flächige Farbigkeit von Dreadnaught erweckt gelegentlich den Anschein, als sei der Film mit Wasserfarben ausgemalt. Dirty Ho ist leider fast komplett, was dem Film selbstverständlich schadet; ich habe aber auch den Eindruck, dass die monochrome Ornamentalität, die zurückbleibt, auch einige anderen Schwächen des Films, die in der knallbunten digitalen Fassung verborgen geblieben waren, offenlegt. Cherie hat schöne Farben und schöne, weiche Texturen, zunächst irritierend ist ein Wasserschaden, der sich in dunklen Szenen als Flackern über dem Bild manifestiert, aber ich komme schnell darauf, dass das zur Flackerhaftigkeit der Hauptfigur passt. Madame White Snake präpariert Gesichter so hauchzart und scharf vor Studiokulissen, wie ich das noch kaum irgendwo sonst gesehen habe. Genau wie bei A Kingdom and the Beauty stört der leichte Farbstich kein bisschen. In beiden Filmen habe ich das Gefühl, dass die Gesichter Blumen sind, denen ich beim Aufblühen zusehe. Deaf Mute Heroine hat sonderbar antirealistische Farben, sieht ein wenig wie ein leicht ausgeblichenes Aquarell aus. Vielleicht der schönste Farbfilm der Reihe, besonders in der ohnehin grandiosen Szene in der Wäscherei am Ende werden die Farben selbst zu Akteuren. In The Private Eyes hingegen kämpfen die Restfarben gegen den Rotstich, noch tragen sie den Sieg davon, die übers Bild spukenden Primärfarben stehen für mich in Verbindung mit dem bescheidenen Humanismus des Films. The Arch ist leider ziemlich unscharf, was freilich den Effekt hat, dass die Großaufnahmen von Naturdetails, von Tieren oder auch von Wasser, schockartig in den Film einbrechen. In Ah Ying verbinden sich die unaufdringlichen Gebrauchsspuren der Kopie mit der organisch dichten Lebenswelt, in der der Film seine Protagonistin liebevoll platziert. Die gute Kopie von Beyond Hypothermia nimmt dem Film den phony Kultfilmglanz und macht ihn wieder zu dem, was er schon immer war: zu einem kleinen, schönen, verschrobenen Genrestück. Love Without End begeistert mit scharfen, silbern leuchtenden Schwarzweiß-Scope-Bildern, die gelegentlich von einer von einem Wasserschaden herrührende pulsierende Unschärfe attackiert werden. Der Gedanke, dass dieser Wasserschaden die Kopie irgendwann unbrauchbar machen wird, bricht mir das Herz. Long Arm of the Law hat zwei heftige, willkürliche Zensurschnitte, auch die grobe Textur der Bilder macht mir zunächst Angst, aber sie passt dann natürlich doch perfekt zur rauhen Street-Credibility des Films. Eight Taels of Gold ist makellos schön, God of Gamblers gerät an den Aktwechseln auf fast schon bizarre Art aus der Fassung, aber fängt sich dann stets schnell wieder, The Iceman Cometh und Taxi Hunter rollen souverän über die Leinwand und entbergen stimmungsvolle Details, für die kein Digitalscreening der Welt ein Auge hätte, und die stimmungsvolle Kopie von The Boxer's Omen verwandelt Farbfilter und Stop-Motion-Spezialeffekte in Realismuseffekte.

Tuesday, March 27, 2018

No. 5 Checked Out, Ida Lupino, 1956

Die erste Fernsehregiearbeit von Ida Lupino, als Teil von "Screen Director's Playhouse", ist nicht weniger als eine declaration of principle. Teresa Wright spielt Mary, Managerin eines Motels, eine Frau, die sich in einer Männerwelt nicht einfach nur behauptet, sondern die die Männerwelt sinnlich organisiert. Sie ist taub, aber beherrscht das Lippenlesen so perfekt, dass das Gespräch, das sie mit ihrem Vater zu Beginn führt, sich fast unbeschwert entfalten kann. Sie nimmt nur wahr, was sie ansieht, das aber perfekt.

Wie die Regisseurin Lupino kontrolliert Mary den sichtbaren Raum - und kümmert sich nicht darum, was die Männer hinter ihrem Rücken über sie reden. Wie um diese Analogie zu unterstreichen, trägt Mary mehrmals im Film eine Art Scheinwerfer mit sich herum. Sie blickt nicht einfach auf die Welt, sondern definiert ein Blickfeld - und gleichzeitig das zugehörige Off, von dem sie selbst ausgeschlossen bleibt.

Es taucht dann ein Mann auf, den sie unter anderen Umständen lieben könnte - in gewisser Weise entspringt er, das ist eine der erstaunlichsten Passagen der Episode, dem Radio. Nachdem ihr Vater sie allein im Büro zurückgelassen hat, wendet sich Mary dem Gerät nachgerade zärtlich zu, und sie dreht es laut auf, vermutlich, um wenigstens ein klein wenig von der Musik zu hören. Es folgt direkt ein Schnitt auf ein ankommendes Auto, dem zwei Männer entsteigen: Ihr not-quite-love-interest Barney (William Talman) und Peter Lorre, dessen ikonisches Gesicht die kluge Regisseurin Lupino allerdings noch eine Weile im Verborgenen lässt.

Das Radio und Barney sind komplementäre Elemente, beide gemeinsam stehen ein für die sinnliche Ganzheit, die der tauben, einsamen Frau in der Männerwelt verwehrt bleibt. Lorre hingegen ist gewissermaßen die verkörperte Negation von Mary: Wo Mary den gleichzeitig sorgfältigen und selektiven Blick der (gleichwohl blockierten) Liebe kultiviert, ist Lorres Weltbezug determiniert von der paranoiden Allwissenheit des Hasses: Er muss die Dinge und Menschen gar nicht erst anschauen, um zu wissen, was Sache ist.

Im Weiteren laufen zwei Geschichten parallel ab: Ein Gangsterplot um Barney und Lorre (Figurenname: Willy) und eine Annäherung von Barney und Mary, die nicht zu einer Liebesgeschichte werden kann, weil Mary um die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens weiß. Geschieden werden die beiden Handlungsstränge durch Marys Wahrnehmungsapparat: Sie selbst registriert nur Barneys vorsichtige Annäherungsversuche, während sich der Gangsterfilmplot buchstäblich in ihrem Rücken ereignet - und, in einer denkwürdigen Schlusseinstellung, finalisiert. Mary bleibt als überlebende Ausgeschlossene im Bild, im Hintergrund und doch im Zentrum.

Wednesday, March 21, 2018

living archive

DCPs schneiden das Kino von der Geschichte ab. Als Ganzes, aber auch jeden Film für sich. Ein DCP presst den Film in eine einzige, fixierte Form, auf die sich hinfort alle berufen sollen. Das DCP leugnet dabei die eigene Historizität und auch die eigene Vergänglichkeit; denn schon dass es in zehn Jahren noch abspielbar sein wird, ist alles andere als gesichert und selbstverständlich wird es gerade bei den kanonisierten Klassikern, auf die sich die DCPisierung hauptsächlich beschränkt, irgendwann eine neue Abtastung geben müssen, die sich dann zwangsläufig an den künftigen Vorstellungen darüber orientieren wird, wie ein "historischer" Film auszusehen habe.

Im DCP maßt sich die Gegenwart die absolute Definitionsgewalt über die Vergangenheit an. Natürlich waren auch schon früher nachgezogene Kopien faktisch Neuinterpretationen, insbesondere dann, wenn sie mit einen Wechsel des Trägermaterials (Nitrat>Azetat; Azetat>Polyester etc) einhergingen. Aber es blieb stets ein Moment der Kontingenz: Der Film wird dem Trägermaterial anvertraut, und bereits im Moment seiner Umkopierung wieder der Geschichte übergeben, die sich sofort ans Werk macht und die bloße Kopie in ein materielles Artefakt verwandelt. Das entscheidende am Filmkorn ist nicht seine Textur, sondern die nichthintergehbare Kontingenz, auf die es verweist.

Dass dies selbst noch bei Filmen gilt, die digital restauriert und erst anschließend wieder analog ausbelichtet wurden, zeigen die vier Celestial-Restaurationen, die im Rahmen der Hongong-Reihe im Arsenal zu sehen waren. Die Unschärfen in Come Drink With Me und Intimate Confessions of a Chinese Courtisan, die Rückeroberung der digitalen Patina durch analoge Artefakte in The Love Eterne, die im Vergleich dazu noch vergleichsweise versiegelt anmutenden Oberflächen von Golden Swallow - die Filme bleiben dank ihres Trägermaterials (und noch genauer, durch den Akt der Projektion dieses Trägermaterials) Teil einer differentiellen Geschichte der Bilder und Zeichen, anstatt in der ewigen (und darin freilich trügerischen) Gegenwart des digitalen Archivs zu verenden.

Wednesday, March 14, 2018

Liebe, externalisiert (2)

Mabel Cheungs Eight Taels of Gold ist andauernd in Bewegung, oder, genauer gesagt, eingespannt in eine Doppelbewegung: Sammo Hung kehrt aus seiner Wahlheimat New York in die chinesische Provinz zurück, wo Sylvia Chang ihrerseits gerade dabei ist, ihre Emigration in die USA vorzubereiten. Obwohl beide in unterschiedliche Richtungen streben, reisen sie doch, wunderbarerweise, ein Stück des Wegs gemeinsam.

Die Bewegungen im Film sind erst erratisch, werden aber Schritt für Schritt synchronisiert. Sammos Taxi vagabundiert noch völlig wild über New Yorks Strassen, der Flug in Richtung China gerät in Turbulenzen, und das Auto, mit dem er und Sylvia Chang die ersten Wegstrecken in China zurücklegen, ist eine regelrechte loose cannon, weil die beiden sich nicht auf ein geteiltes Koordinatensystem einigen können.

Die Synchronisierung gelingt durch Blicke. Vielleicht zum ersten Mal in einer Szene, in der Sammo Bus fährt und urplötzlich im Stau stecken bleibt (China ist eine Wundertüte im Film; man weiß nie, was sich hinter dem nächsten Schnitt verbirgt). Durchs Fenster sieht er Sylvia Chang auf dem Fahrrad sich durch den Verkehr schlängeln und noch bevor diese Zufallsbegegnung ihn aktiviert, folgt die Kamera per Schwenk seinem Blick. Der Blick verknüpft die beiden, und gleichzeitig trennt er sie. Die Liebe findet eine stabile Existenz nur in ihrer Externalisierung als Blick.

Besonders deutlich und herzzerreißend wird das am Ende sichtbar, wenn sie auf ihrem Brautschiff den Fluss herunter treibt und er ihr auf dem Fahrrad hinterher hechelt. Blicke und Bewegungen sind in einer Montage, die mehrmals die Perspektive wechselt, exakt aufeinander abgestimmt - nur, dass sich diese Harmonie erst im Moment (und im Akt) der absoluten, endgültigen Trennung herstellt.

Monday, March 12, 2018

Liebe, externalisiert

Ein Lieblingsmoment in The Love Eterne: Betty Loh Ti hat die Charade, die sie vorher aufgeführt hatte, hinter sich gelassen und darf endlich enthemmt leiden. In Tränen aufgelöst liegt sie in ihrem Zimmer - und dann drängt Musik durchs Fenster herein; festlich-beschwingte Musik, nicht unähnlich jenen Melodien, die den Film schon vorher geprägt hatten, zu denen sie vorher selbst gesungen und verliebte Blicke geworfen hatte. Jetzt zeigt die Musik allerdings die Versiegelung ihrer Zukunft an: die Heirat mit dem falschen Mann, mit einem "Playboy", der im Film selbst gar nicht richtig aufzutauchen braucht, um das Publikum von seiner Niederträchtigkeit zu versichern. Der Hochzeitszug kommt, um sie zu holen.
Das ist auch ein Maß für die Größe des Films: Das Glück der Liebenden evoziert er, obwohl es ein bloßer Wunschtraum bleibt, derart reichhaltig und vielschichtig, dass er dem Unglück, das sich im Gegenteil zum Glück tatsächlich einstellt, kaum szenische Repräsentanz zubilligen muss. Es wird einfach als das Gegenteil, oder die Abwesenheit des Glücks gesetzt und muss deshalb schlimmer sein als alle Höllenqualen. Stattdessen kehrt der Film, wieder und wieder, zu jenen Orten und Bildern zurück, die, streng genommen, nicht Orte und Bilder der Liebe sind, sondern die an die Stelle der Liebe treten: Anstatt dass die Liebenden zusammengefunden haben, sind sie über eine Brücke gelaufen und haben sich Tiere angeschaut. Später läuft einer der beiden alleine über dieselbe Brücke und erinnert sich daran, wie er mit der Geliebten auf die Tiere geblickt hat; und noch später singt er vom gemeinsamen Gang über die Brücke und dem gemeinsamen Blick auf die Tiere. Die Liebe wird erst von Bildern ersetzt, und dann von Worten.
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Ähnlich funktioniert das auch in The Kingdom and the Beauty, einem nur scheinbar weniger komplexen Film. Denn die geradlinige Handlung (die allerdings immer wieder von der Frage abgelenkt wird, was eigentlich ein Emperor ist) löst sich nach der Hälfte des Films auf und verwandelt sich in ein Erinnerungskabinett. Die Liebe ist ebenfalls an Orte delegiert, und sie findet materialisiert sich außerdem als ein rotes Taschentuch. Entscheidend ist dabei eine Verschiebung: Es ist nicht etwa so, dass der Emperor das Taschentuch verliert, weil er seine Geliebte vergessen hat, sondern genau umgekehrt: weil er das Taschentuch verliert, vergisst er auch die Frau. 

Saturday, March 10, 2018

Das letzte Puzzlestück

(Einführung zum Film The Private Eyes, am 8.2. im Kino Arsenal vorgeführt als Teil der Reihe Splendid Isolation)

Komödien sind neben Actionfilmen die zweite große Konstante im Hongkongkino der letzten 50 Jahren. Die Übergänge sind da ohnehin fließend, das werden Sie auch im Film des heutigen Abends sehen. Man kann das fast als ein Action-Comedy-Kontinuum beschreiben, auf dem sich sicher ¾ aller Hongkongfilme seit Mitte der 1960er verorten lassen. Der Film des heutigen Abends ist ein Klassiker der Hongkongkomödie und auch ein Film, der für die Entwicklung des Hongkongkinos allgemein immens wichtig war. The Private Eyes war in Deutschland in den 1970er Jahren tatsächlich auch im Kino zu sehen, unter dem eher sondebaren Titel “Mr. Boo 1 - Erste allgemeine Verunsicherung”.

Erst ein paar Sätze zu Michael Hui, dem Regisseur und Hauptdarsteller des folgenden Films. Hui war neben Bruce Lee der größte Star im Hongkongkino der 1970er Jahre. Und er ist auch Teil einer neuen Generation von Filmemachern, die das Hongkongkino in dieser Zeit verändern. Hui ist 1942 in Guangdong Province, im Umland Honkongs geboren, und hat fast sein gesamte Leben in Hongkong verbracht, schon das unterscheidet ihn von vielen Regisseuren der Vorgängergeneration wie Li Han-Hsiang und King Hu. Nach seinem Studium arbeitet er erst als Lehrer, wird dann aber fürs Fernsehen entdeckt, als Komiker. Gemeinsam mit seinem Bruder Sam entsteht 1971-1973 die Hui Brothers Show, eine extrem erfolgreiche Sketsch-Comedy-Sendung, die bereits viel von dem erprobt, was später in den Filmen zur Perfektion gelangt.

1972 besetzt der Shaw-Brothers-Regisseur Li Han-Hsiang Hui in der period-Komödie The Warlord. Nach ein paar weiteren Filmen mit Li beschließt er dann aber, eigenverantwortlich Filme zu machen, und zwar nicht bei Shaw, sondern mit einer eigenen Produktionsfirma, der “Hui Film Company”, die ab 1974 eine Reihe von Comedy-Blockbustern produziert, in denen Michael gemeinsam mit seinen Brüdern Sam und Ricky auftritt. Distributor ist Golden Harvest, in deren Studios die Filme auch gedreht werden.

Golden Harvest ist vermutlich die wichtigste Produktionsfirma der 1970er, neben Hui waren dort auch Bruce Lee und später Jackie Chan unter Vertrag. Die Verschiebung der Machtverhältnisse in den 1970er Jahren weg von Shaw und hin zu Firmen wie Golden Harvest ist ein Zeichen dafür, wie sich die Filmindustrie verändert. Shaw ist auch in den 1970ern noch ein sehr konservatives Studio, das Regisseure wie Schauspieler mit langfristigen Verträgen an sich bindet - die Standardlaufzeit dieser Verträge beträgt acht Jahre. Außerdem entstehen die Shaw-Filme fast komplett im Studio, in knallbunten, hochgradig artifiziellen Sets und im Rahmen eines vergleichsweise starren Star- und Genresystem. Eine Weile kann die Firma mit dieser - oft auch ästhetisch hochgradig produktiven - assembly line die Industrie domonieren, aber in den 70ern klappt das nicht mehr. Golden Harvest und einige andere neue Firmen sind dynamischer, weil sie die Filmemacher nicht als Angestellte betrachten, sondern ihnen weitgehende Freiheiten lassen und bereit sind, Risiken einzugehen. Hui hatte nach eigenen Angaben bereits ab seinem zweiten Film komplett freie Hand.

Huis Filme sehen völlig anders aus, sobald er von Shaw zu Golden Harvest wechselt, insbesondere eben, weil er sehr viel on location dreht. Die Titelsequenz von The Private Eyes, die Impressionen des wuselnden Strassenlebens Hongkongs montiert, ist da eines der schönsten Beispiele. Unterlegt ist sie mit einem Kantopopsong von Sam Hui, der im Film die zweite Hauptrolle übernimmt. Sam ist in Hongkong ein ebenso großer Star wie sein Bruder Michael, allerdings ist er in erster Linie als Musiker bekannt, er gilt als der “Father of Kanto-Pop”. Das Titellied von Private Eyes, dessen Melodie den gesamten Film über exzessiv wiederholt wird, ist eines seiner beliebtesten Lieder und gilt noch heute als eine Working Class Hymne. Die ersten Zeilen lauten: “Wir die working poor, bekommen Geschwüre vom vielen Herumlaufen, und als Lohn gibt es nur Hühnerfutter”. Im Kino ist Sam auch sehr erfolgreich, vor allem in den 80er Jahren, mit der Wheels on Meals-Reihe, später spielt er auch für Tsui Hark in Swordsman.

Der Kanto-Pop bringt mich zu einem weiteren Aspekt: Das Hongkongkino war lange Zeit zweigeteilt, in ein kantonesisches und ein Mandarin-Segment. Kantonesisch, die Sprache, die in Südchina und Hongkong hauptsächlich gesprochen wird, hatte im Kino vor allem in den 60ern und frühen 70ern einen schweren Stand. Die Shaw-Brothers und auch ihre Konkurrenzfirma Cathay drehten nur auf Mandarin, vor allem, weil die Filme dadurch besser nach Taiwan und in Südostasiatische Länder mit großen chinesischen Minderheiten verkauft werden konnten. Kantonesische Filme waren dagegen Low-Budget-Produktionen, die fast nur in Hongkong selbst gesehen wurden. Anfang der 70er waren sie fast komplett aus den Kinos verschwunden. Der erste Film, der mit dem Trend bricht, ist tatsächlich eine Shaw-Brothers-Produktion: House of 72 Tenants, eine Ensemblekomödie, die fast komplett in einem Mietshaus spielt. Der Durchbruch für das ab den 80ern konkurrenzlos dominierende kantonesische Kino sind aber die Filme von Michael Hui, die nicht nur das Mandarin hinter sich lassen, sondern auch die anderen Formatierungen des Shaw-Studiokinos. Die Filme von Michael Hui sind Ausdruck einer neu entstehenden, eigenständigen kulturellen Identität Hongkongs, die eng mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 60er und 70er zu tun hat. Es geht in den Filmen auch immer wieder darum, dass die working poor das Hühnerfutter satt haben und auch etwas vom kapitalistischen Kuchen abbekommen wollen.

Der Hauptgrund des umwerfenden Erfolgs der Hui-Filme ist jedoch ziemlich sicher weder das Kantonesisch, noch das location shooting, sondern der originelle und sehr dynamische Humor der Filme. Denn in allererster Linie ist Michael Hui ein Komödienregisseur, und zwar einer der besten überhaupt. Hui ist, zumindest in den 70er Jahren, ein total filmmaker, wie Chaplin, Tati oder Jerry Lewis kontrolliert er alle Aspekte seiner Filme: Er fungiert als Regisseur, Autor, Produzent und Hauptdarsteller, auch den Schnitt hat er wohl oft mehr oder weniger selbst übernommen. Und auch, wenn die Filme zunächst wie aus dem Ärmel geschüttelt ausschauen, sind die einzelnen komischen Nummern unglaublich präzise gebaut und vor allem getimet.

Die Themen seiner Filme schaut Hui sich aus dem Alltag Hongkongs ab. Mal geht es um Fast-Food-Restaurants, mal um Sicherheitsfirmen, mal um Kleinkriminelle, in The Private Eyes um Privatdetektive. Hui selbst spielt immer Variationen derselben Rolle, und zwar gibt er den “mean little man” - ein Comedy-Stereotyp, das in Hongkong schon seit den 50er Jahren bekannt ist. Meist ist er der Boss eines kleinen Unternehmens, träumt vom großen Erfolg, ist zu seinen Untergebenen garstig, aber bekommt gleichzeitig andauernd selbst einen auf den Deckel. Auch die beiden Brüder spielen immer ähnliche Rollen: Sam ist der gutaussehende Straight Man, der oft in eine Liebesgeschichte verwickelt ist, und Ricky ein Helfer von Michael, der sich immer etwas doof anstellt, aber das Herz am rechten Fleck hat. Wie bei den Marx Brothers, mit denen die Hui-Brüder nicht ganz zu Unrecht oft verglichen werden, erweist sich diese vermeintlich starre Struktur als erstaunlich flexibel, weil ganz unterschiedliche Tonlagen und auch Genreformeln in sie eingetragen werden können.

Vor allem die frühen Filme, wie auch The Private Eyes, sind stark episodisch erzählt und stark an einzelnen Comedy-Routinen entlang strukturiert. Diese Routinen funktionieren oft über visuelle Gags. Zum Beispiel taucht in vielen Filmen, in immer neuen Variationen, eine Nummer auf, bei der Michael Hui Bewegungen von anderen Figuren kopiert oder verdoppelt. In The Private Eyes geschieht das während einer großartigen Kochszene. Gerade dieser visuelle und auch stets ausgesprochen körperbetonte Humor hat sich im Hongkongkino als sehr einflussreich erwiesen. Ich würde sogar sagen: Die gleichzeitig filigran erarbeitete und voraussetzungslose, im besten Sinne volkstümliche Lowbrow-Komik der Michael-Hui-Filme war das Puzzlestück, das in den 70ern noch gefehlt hatte, um das Hongkongkino zu dem zu machen, was es in seiner Glanzphase der späten 70er bis frühen 90er war.