Saturday, August 16, 2025

Gegenwartsliteratur, ein Sample (14)

Eckhart Nickel, Hysteria. Viele eigensinnige, verspulte Schönheiten in einem kleinen, schrägen Buch. Ich lese mich mehr oder weniger "blind" durch das Sample, recherchiere wenn überhaupt, dann erst hinterher, dass Nickel unter "Popliteratur" geführt wird, wusste ich entweder nie oder hatte es vergessen. Das Label passt und es passt doch nicht. Toll an dem Buch finde ich vor allem, wie wenig es auf ein Autoren-Ich durchsichtig ist. Die Hauptfigur Bergheim, eher Chiffre für eine Haltung zur Welt, die alle Figuren des Buches teilen (gelegentlich ist das ein bisschen ein Problem, dieses Ineinanderfließen, inbesondere wozu es den Berheim-Sidekick Ansgar braucht, ist mir nicht ganz klar geworden), als ein Protagonist im engeren Sinne, ist nicht Herr der Distinktionen, aus denen seine Existenz sich zusammensetzt, sondern ihnen hilflos ausgeliefert. Es beginnt mit einem gar nicht mal so unliebevoll ausgearbeiteter Science-Fiction-Paranoia-Plot, der dann systematisch begraben wird unter endlos verfeinerten Befindlichkeiten, außerdem regelrecht überschwemmt wird von Rückblenden, die grundsätzlich und programmatisch zu lang und zu detailliert geraten; die zurückführen in die "Studienzeit" als eine in die Vergangenheit projizierte Utopie der völligen, idiosynkratischen Vergeistigung. Von hier aus kann es keinen Ausweg, kein Jenseits der Posen mehr geben, und so erweist sich auch die "Ökodiktatur" bald als ein eher ästhetisches denn politisches Projekt.

Schorsch Kamerun, Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens. Beim Nichtmitmachen war er immer der Erste. Weiß auch nicht. Der freihändige Stil, die offene, mosaikhaft-anektdotische Struktur, die beschworene Poetik eines undogmatisch-unperfekten Undercovergegenkunstschaffens... all das passt schon ganz gut zusammen. Und dass ihn die Romanform nicht so interessiert, schreibt Kamerun eh auch gleich selbst ins Buch rein. Aber es ist dann halt doch vor allem ein Versuch, die eigene Jugend noch einmal aufleben zu lassen, und das klappt für mich nicht, weil die Anektdoten zu unpräzise bleiben, die abgelehnte Spießerwelt zu sehr auf ihre Überwindung durch die Kunst eines besseren Lebens/das Leben einer besseren Kunst hin perspetiviert ist. Ganz selten mal Beobachtungen, die überraschen (und die nicht genauso in Rocko Schamonis Erinnerungsbuch stehen könnten und vielleicht auch stehen - schon wieder das meiste vergessen), der einsame, kategorisch abseits stehende Drogentyp im Heimatdorf zum Beispiel. Kurz und gut, mich hat's leider ziemlich genervt, das schon ziemlich eitle daran, vor allem auch die andauernde Leutesortiererei, es ist in diesem Buch doch immer immens wichtig, wer die Guten und Angesagten und wer die Anderen sind. Sicher sind die Kriterien dafür weniger verbissen als bei Leuten wie Diederichsen (der nebenbei, wenn ich das richig entschlüssele, eine mitbekommt), aber es bleibt halt trotzdem der Geruch von mir egalen Schulhoffights in der Luft hängen.

Hera Lind, Das letzte Versprechen. Wahrscheinlich habe ich zu wenig Populär/Trivialliteratur ins Sample genommen. Das ist einer der wenigen Trivialromane reinsten Wassers und er ist ziemlich unfassbar. Ein Roman "basierend auf wahren Begebenheiten", die Tagebücher und Gedichte derjenigen, die die "wahren Begebenheiten" einst erlebte, sind in den Text montiert. Es handelt sich um eine Banater Schwäbin, die mit ihrer Familie am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem heutigen Serbien vertrieben wird. Die erste Hälfte ein doppeltes Martyrium: Unschuldige deutsche Mutter wird von sadistischen Russenkommies ins Gulag gesteckt, ihre strohblond-goldige Tochter (die Hauptfigur) wird von sadistischen Jugokommies ins Kinderlager gesteckt. Grausamkeit reiht sich an Grausamkeit, stets kontrastiert mit Erinnerungen an das gottesfürchtige deutsche Leben der Banatschwaben, die niemandem je ein Haar krümmen hätten können. Alle 50 Seiten ein kurzer Hinweis darauf, dass das Schicksal, das die Banater Schwaben ab 1945 erleiden, etwas mit "den Nazis" und ihren Untaten zu tun hatte, wobei "die Nazis" nicht nur mit den Banatschwaben, sondern überhaupt mit den Deutschen nichts zu tun zu haben scheinen. (Wenn irgendwo im Buch von Juden die Rede ist, habe ich's überlesen.) Sind diese kurze Hinweise alles, was das Buch von der Landser- und ähnlich revisionistischer Literatur unterscheidet? Nicht ganz, zeigt sich vor allem im zweiten Teil, der Mutter und Tochter in der Nachkriegs-BRD vereint und ein erstaunlich großformatiges Familienepos skizziert eher denn auserzählt. Fluchtpunkt ist, wird hier klar, nicht die kollektive, deutsche, sondern das individuelle, weibliche Leid, das zumindest literarisch jener psychologischen Behandlung zugeführt werden soll, die ihm zeithistorisch nicht vergönnt war. Lind, eine auf schon auch faszinierende Art schamlose Autorin, interessiert sich freilich stets vor allem für die melodramatischen Spitzen, haarscharf abgewendete medizinische Katastrofen vor allem: ein Motorradunfall des Sohnes verschlingt 100 Seiten, die sich über Jahrzehnte hinziehenden Eheprobleme der Tochter höchstens 10.

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