Dass an Filmen zumeist nicht das große Ganze, der gesamtkünstlerische Masterplan, das Entscheidende ist, sondern die gestalterische Sorgfalt im Detail, gerät im Alltagsbetrieb der Tageskritik oft aus dem Blick. Das ist kein Zufall. Das Kino drängt ihr in gewisser Weise selbst diese Betrachtungsweise auf. Die meisten Filme tragen stolz ihre großen Themen, ihre Franchise-Zugehörigkeit oder (seltener) ihre raffinierten Plot-Twists vor sich her – alles gute Argumente im Verkaufsgespräch, in den Multiplexen genauso wie auf Filmfestivals. Es gibt Ausnahmen: Komödien werden immerhin noch mit ein paar gelungenen Gags und One-Linern beworben, Actionfilme mit Explosionen, Erotikfilme mit nackter Haut.
Aber von solchen Schlüsselreizen (die von der Kritik auch zumeist eher abschätzig behandelt werden, weil sie angeblich von den darunterliegenden „tiefen Themen“ ablenken) abgesehen, bleiben die eigentlichen Substanzen des Filmischen, die Feinheiten der Inszenierung, der schauspielerischen Körpersprache, oder auch die dokumentarischen Überschüsse, die sich noch in den artifiziellsten Filmen ausfindig machen, dem Produkt „Spielfilm“ seltsam äußerlich. Vermutlich, weil es sich dabei um diffuse Qualitäten handelt, die nicht so recht zum Branding taugen. Die Kritik verhält sich, wie gesagt, entsprechend, und hangelt sich an Diskursmarkierungen entlang, die mit den Bildern auf der Leinwand und den Tönen aus dem Lautsprecher oft nur peripher etwas zu tun haben.
Umso schöner, dass es Filme wie „Lady Bird“ gibt. Natürlich ist auch das ein Film, der als Produkt funktioniert, er tut das sogar ausgesprochen gut. Ein Großteil seines Erfolgs, bei Publikum wie Kritik, dürfte damit zusammenhängen, dass er gewisse Sensibilitäten des Indie-Kinos bedient. Aber zu einem großen Film wird er mit ziemlicher Ausschließlichkeit durch die Details, durch die szenischen Details vor allem.
Insbesondere ist das ein Film über die Doppelbedeutung des Wortes „Spielraum“. Es geht um den Spielraum, den ein Mensch hat – im wörtlichen, physischen, wie im übertragenen, emotionalen Sinn – wenn er in einer Familie lebt. Und es geht um den Spielraum als den zu bespielenden Raum, auf dem Filmset, beziehungsweise auf der Leinwand.
Zum Beispiel in einer von vielen Szenen, die dem praktisch über den gesamten Film hinweg fortgesetzten Streit zwischen Lady Bird (Saoirse Ronan) und ihrer Mutter Marion (Laurie Metcalf) gewidmet sind. Sie spielt im Wohnzimmer der Familie. In einem Eck steht der einzige Computer im Haus, schon das macht es zu einem Akkumulationspunkt. Es ist hier etwas zu dunkel, und eigentlich ist auch zu wenig Platz. Aber das ist schon eine der Paradoxien, aus der der Film seine Kraft zieht: Obwohl sie so eng aufeinander hocken, kommen die Familienmitglieder sich nie wirklich nahe. Im familiären Alltag sind gleichzeitig Freiheit und Intimität inhibiert. Alle Beteiligten achten auf Abstand, auf ihren "personal space", auf Spielraum.
Schon Marions Eintritt zu Beginn der Szene macht das deutlich. Sie erzählt ihrer Tochter von den Strapazen, die die Familie auf sich nimmt, damit sie, Lady Bird, es einmal besser haben wird: „Everything we do is for you. Everything!“ Dabei breitet sie, in einer etwas ungelenken Geste, die Arme aus, wie um das ganze Haus und ihre ganze Lebensrealität in das Argument mit einzubeziehen. Die Mutter identifiziert sich selbst mit dem Raum und gibt ihrer Tochter gleichzeitig zu verstehen: Wenn du dich gegen mich wendest, dann wendest du dich auch gegen das Haus, in dem du aufgewachsen bist. Gleichzeitig stellt sich aber auch das Problem: Wie soll sich Lady Bird ihrer Mutter als einem einzelnen Menschen, als ihresgleichen nähern, wenn die Mutter immer gleichzeitig das Haus und die Familie mitrepräsentiert? Es geht nicht nur in dieser Szene um die Unfähigkeit von Tochter und Mutter, sich ineinander zu erkennen.
Die Mutter schimpft, aber sie kommt der Tochter nicht näher, versucht stattdessen, den unwilligen Vater mit ins Gespräch zu involvieren. Das Wohnzimmer, die Mutter und der Vater formen einen Halbkreis um Lady Bird herum, die zunächst auf dem Sofa sitzt, niedergeschlagen, stillgestellt und in die Defensive gedrängt. Wenn sie sich schließlich doch bewegt, dann nicht geschmeidig wie ihre Mutter, sondern eruptiv. Sie schnappt sich einen Schreibblock; auf ihm möchte sie schriftlich festhalten, wie viel ihre Erziehung ihre Eltern tatsächlich gekostet hat, auf dass sie einmal alles zurückzahlen kann. Ein Versuch, das von wechselseitigen Schuldzuweisungen und Ausweichmanövern geprägte Verhältnis zu der Mutter auf eine objektive Ebene zu heben und damit bewältigbar zu machen. Natürlich kann das nicht funktionieren, die Mutter hat gleich wieder eine schnippische Antwort parat. Letztlich braucht sie den Schreibblock nur, um ihn wütend von sich zu werfen. Und zwar schleudert sie ihn vor sich auf den Boden, den Abstand ausnützend, den die Mutter zu ihr gelassen hat. Und nur, weil es diesen Abstand gibt, weil alle Figuren und auch die Regie auf Spielraum bedacht sind, wird Lady Birds frustrierte Geste zu einer genuinen Ausdrucksbewegung, zu einem körperlich artikulierten Aufbegehren, das Teil eines Erkenntnisprozesses ist.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
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