Tuesday, September 15, 2020

Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, S. 97-122, "Aldous Huxley und die Utopie"

Huxleys Dystopie einer gescheiterten gesellschaftlichen Befreiung bringt Adorno dazu, viel deutlicher und ausführlicher als er das sonst zumeist tut, seine eigene Vorstellung einer dieser entgegen gesetzten gelungenen Befreiung zu formulieren. Ausgangspunkt ist ein längeres Horkheimer-Zitat über die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse als Voraussetzung einer befreiten Gesellschaft (111f). Daran anschließend führt Adorno aus, wie sich mit dem Schritt in die befreite, nicht mehr kapitalistische Gesellschaft auch die Bedürfnisse selbst verändern könnten. So ganz werde ich nicht schlau aus der Passage. Es geht wohl darum, Bedürfnisse nicht mehr zwingend aus der Perspektive ihrer eventuellen Befriedigung denken zu müssen. Wenn man seinen Bedürfnissen nicht mehr ausgeliefert ist, wenn der praktische Geist, der sich an die Bedürfnisse heftet und sie fesselt, verschwindet, dann sind diese Bedürfnisse nicht mehr statisch, sondern... was genau? Es tauchen Formulierungen auf wie ein plötzlich "völlig anders" aussehendes Bedürfnis (112), ein "lustvoller (...) Verzicht" auf Lametta (113), am Ende der Passage redet er gar dem "eigentlichen, nicht entstellten Sinn" der Bedürfnisse (114) das Wort. Die Flucht in die Eigentlichkeit - das ist doch eine kleine Enttäuschung. aber vielleicht verweist es auch nur auf den notwendig anti-utopischen Charakter der kritischen Theorie.

Außerdem wendet Adorno, und das ist vielleicht ergiebiger, einige Passagen des Romans direkt ins Utopische; insbesondere betrifft das solche, die sich mit Sexualität befassen. Die "Verfügung aller über alle" in den Orgien (107) wie auch den "überaus verlockenden" Effekt der "künstliche[n] Anmut und zellophanhafte[n] Schönheit" Leninas (107f) sind für ihn inkompatibel mit der dystopischen Ausrichtung. Denn: "Durch die totale gesellschaftliche Vermittlung [von Sexualität] stellte gleichsam von außen nach innen zweite Unmittelbarkeit, Humanität sich her." (108) Hier ist die Utopie nicht mehr auf Verzicht und Eigentlichkeit angewiesen.

Ansonsten kritisiert Adorno unnachgiebig und luzide die idealistische Schlagseite des Romans, wobei ich mich manchmal gefragt habe, ob die Kritik nicht im Kern auf die Romanform selbst zielen müsste, auf den Akt des Dramatisierens und Fabulierens, etwa wenn er moniert, Huxleys Roman übertrage "die Schuld der Gegenwart gleichsam auf die Ungeborenen" (121). Das lässt sich nun einmal nur schwer vermeiden im Science-Fiction-Genre. Adornos Kritik bleibt durchweg auf der Ebene der Ideologie, der Ideenroman wird reduziert auf die Ideen.

No comments: