Sunday, October 18, 2020

Phantombilder

Wenn ich müde bin und einen langsamen Film anschaue, dann bilde ich mir manchmal ein, Bilder oder auch ganze Szenen zu sehen, die tatsächlich nicht auf dem Bildschirm (im Kino ist mir das, glaube ich, noch nie passiert) erschienen sind. Ich bin mir nicht sicher, wie das phänomenologisch abläuft; die Müdigkeit ruft das Phänomen hervor und verhindert gleichzeitig seine analytische Durchdringung. Sind das schlichtweg Traumbilder, die ich hinterher dem Film zurechne? Habe ich, während ich sie "sehe", die Augen geschlossen? (Ich glaube nicht.)


Oder ist es so, dass sich im müden Zustand die gedanklichen Abschweifungen, die mich auch im wachen Zustand beim Filmschauen gelegentlich überkommen, verfestigen und als geistiges Bild sich manifestieren? Das dann ebenfalls mit dem Filmbild amalgamiert. Einen Schritt weiter: Hieße das nicht, dass der Film in solchen Momenten zu meinem Welthorizont wird, dass er also nicht mehr nur ein "als ob", bzw "was wäre, wenn" ist, sondern die jeweils nächstliegende Referenz für alle Gedanken, die mir durch den Kopf gehen? Dürfte ich daraus schließen, dass ich in den Film tiefer eintauche, wenn ich ihn nicht allzu exakt wahrnehme? Einschränkend allerdings: Wenn ich meine halbbewußten Gedankenspiele auf den Film projiziere, bedeutet das sicherlich nicht, dass ich den Film mit der Wirklichkeit verwechsele. Eher ist es so, dass ich plötzlich nicht mehr zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Fiktion unterscheiden kann.


Eine andere Hypothese: Habe ich diese Bilder in auch nur irgendeinem Sinne gesehen? Ist es nicht eher so, dass ich plötzlich denke, ich hätte gerade etwas gesehen? ("War da nicht gerade eine Szene, in der...?") Entstehen diese Phantombilder vielleicht immer nur retrospektiv, als gefälschte Erinnerungen? Was aber wäre dann ihr Auslöser? Etwas im Film oder etwas in mir oder die Verbindung von beidem? Überhaupt stellt sich die Frage, was der Film für die Bilder, die in ihm nicht enthalten sind, für eine Funktion hat. Ist er ihr Nährboden oder lediglich eine neutrale Projektionsfläche? Zeigen die Bilder einen Mangel an oder einen Reichtum / ein generatives Potential?


Wie auch immer diese Bilder entstehen: Manchmal sind sie so plastisch, dass ich tatsächlich im Film zurückspringe, um zu überprüfen, ob ich die Szene nun gesehen oder mit nur eingebildet habe. Es stellt sich dann jedesmal heraus, dass die Szene nicht im Film ist, das heißt schon die Unsicherheit darüber, ob ein Bild Teil des Films war, ist ein Indiz dafür, dass das nicht der Fall ist. Wie müsste ein Film beschaffen sein, dass er wiederum diesen Effekt simuliert?


Es wäre schön, wenn es mir gelänge, eine Sammlung anzulegen, einerseits der Phantombilder und andererseits der Bilder, die von den Phantombildern zugedeckt oder zumindest überlagert werden.

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