Tuesday, October 23, 2007

Still Life, Jia Zhang-Ke, 2006

Jia Zhang-kes Bilder sind in alle Richtungen durchlässig. Der Film erweitert sich konsequent über die ohnehin eher wie mit dem lockeren Pinselstrich der Impressionisten sanft angedeutet, als klar ausformuliert (welches Mädchen auf dem Foto die Tochter der Hauptfigur ist, weiss er, wir aber nicht) ist. Schlammverschmierte Gänse und Hunde laufen ins Bild, ein kleiner Junge stielt eine Zigarette, Schriftzeichen legen sich über die Bilder und sorgen für eine – allerdings wiederum äußerst sanfte – Distanzierung, initiieren Serien fließender Kamerabewegungen, aus dem Fernseher blickt Chow Yun Fat und findet ein Ebenbild in der chinesischen Provinz. Hinter den Hauptfiguren, wenn sie denn tatsächlich einmal das Zentrum des Bildes einnehmen, reißen andere Menschen Löcher in Häuser und Landschaft, unterhalb der dritten Staustufe muss alles weg, bevor das Wasser kommt. Doch noch wohnen zwischen den Mauerresten Menschen und zwar sehr viele. Tritt in Still Life ein Mensch durch eine Maueröffnung, so kann man darauf wetten, dass ihm noch mindestens fünf weitere folgen. Die Mauern, die hier eingerissen werden, werden anderswo, irgendwo oberhalb der dritten Staustufe, wieder aufgebaut werden. Der Titel Still Life ist in zweierlei Hinsicht missverständlich: Weder steht hier irgendetwas still, noch ist Jias Film einer über die letzten Überreste des Lebens vor der großen Flut, die alles mit sich reißen wird. Jeder Hammerschlag ist mehr Transformation als Destruktion und noch im elegischsten Trümmerpanorama findet die Kamera Lebenszeichen, wenn sie nur lange genau darauf wartet.
Möglicherweise könnte man gar diesem wunderbaren Film aus seinem Vitalismus einen Strick drehen, wenn man auf politische Kritik im engeren Sinne aus wäre. In der Tat fand Jias Abkehr vom minimalistischen, düsteren Stil seines Frühwerkes gleichzeitig statt mit dem (vorsichtigen) Friedensschluss des Regisseurs mit der chinesischen Zensur. Seit The World sehen Jias Filme anders aus, offener und heterogener, jedoch eben auch sinnlicher, nicht unbedingt optimistischer, aber irgendwie mondäner und vor allem im Falle von Still Life auch auf konventionellere Weise humanistisch und damit eventuell nicht nur arthauskompatibler, sondern schlicht und einfach weniger radikal.
Doch bleibt es grundsätzlich ein fragwürdiges Phänomen, dass das chinesische Kino hierzulande fast ausschließlich in Bezug auf die (chinesische) Zensur thematisiert wird. Fast scheint es, als solle der chinesische Film das politische Potential ausagieren, welches dem deutschen (wenn nicht dem gesamten europäischen) längst abhanden gekommen zu sein scheint. Wie die Frontstellungen in China tatsächlich aussehen, ist sicherlich weitaus komplizierter als es aus europäischer Perspektiver erscheint. Hier findet sich eine Einführung in die Problematik.
Und überhaupt (auch wenn dies obiges Argument nicht wirklich entkräftet) findet sich unter der slicken, hippen Oberfläche Still Lifes immer noch dasselbe politische Bewusstsein. Deutlich wird dies beispielsweise in den Unterschieden zwischen den beiden Geschichten. Die Klassendifferenz zwischen den jeweiligen Hauptfiguren muss nicht langwierig etabliert werden, sondern ist von Anfang an in ihre unterschiedliche Kleidung eingeschrieben, aber vor allem in dem jeweils verschiedenen Verhältnis zur sie umgebenden Welt. Während Han sich den ihm fremden sozialen Raum sofort zu eigen macht, durch zahlreiche Interaktionen mit Taxifahrern, Bauarbeitern und so weiter, aber auch durch direkte Kontakte mit der sich ständig transformierenden Architektur, bleibt zwischen der (verhältnismäßig) wohlhabenden Shen und ihrer Umgebung stets eine unüberbrückbare Distanz. Ihre Handlungen beziehen sich zwar letztlich auf denselben Raum, benötigen jedoch immer Vermittlungen: Innerdiegetisch nehmen Figuren der Spielfilmhandlung wie der Jia-Regular Wang Hong Wei diese Rolle ein, noch entscheidender sind jedoch im stilistische Verfahren, also Techniken, die als Eingriffe des Regisseurs selbst erkennbar bleiben. Die im engeren Sinne antirealistischen Elemente des Films, insbesondere die vielbeachtete UFO-Sequenz, finden sich allesamt in Shens Episode. Jias Regie isoliert Shen sanft aber bestimmt von ihrer Umgebung und verweigert ihr letztlich den Eintritt in den sozialen Erfahrungsraum.
Still Life sieht aus und fühlt sich an wie das Werk eines Regisseurs, der den Zenit seines Schaffens erreicht hat und sich auf dem Höhenkamm der eigenen Karriere sichtlich wohl fühlt. Zu hoffen bleibt allerdings, dass er den mit den letzten beiden Filmen eingeschlagenen Weg nicht allzu konsequent weiterverfolgt. Denn noch rosaroter, als er es ohnehin schon ist, sollte der Neorealismus Jias nun doch nicht werden. Sonst könnte der Regisseur irgendwann bei Scheußlichkeiten wie De Sicas Miracolo in Milano enden, mit welchem bereits Still Life – ungerechtfertigterweise obwohl meistens in lobender Absicht – hier und da verglichen wurde.

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