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Monday, June 20, 2016

KoreanFilm 6: Hyeolmaek / Kinship, Kim Soo-yong, 1963

https://www.youtube.com/watch?v=PkOExw6yU8s

Flüchtlinge aus dem Norden in einem Slum hoch über der Stadt... wobei ich weder die räumlichen, noch die politischen Bezüge bis ins letzte verstanden habe. Es scheint um eine Fortschrittserzählung zu gehen, um die gesellschaftliche Modernisierung, die einerseits als Generationenkonflikt ausagiert wird (auch in dem Sinne, dass dem freudigen, hemmungslosen overacting der Eltern das eher zurückgenommene Spiel der Kinder gegenübersteht), andererseits quer steht zur politischen Teilung des Landes.

In einem Haus schimpft der Vater mit dem Sohn, in dem anderen die Mutter mit der Tochter. Was in dem einen Haus passiert, ist im anderen sicht- und hörbar, alle Häuser sind auf die eine oder andere Art durchlässig, jeder sieht alles, jeder hat eine Meinung zu allem. Der Sohn soll in die amerikansiche Armee, die Tochter als Geisha an eine Bar verschachert werden. Dafür werden ihr anzügliche Barlieder eingehämmert - mit einem Rhythmusstock, der Geschirr maltraitiert. Sohn wie Tochter wollen lieber weg aus der engen Welt, in der sie aufgewachsen sind, in die Produktion. Erst ganz am Ende gelingt es ihnen, die Fabrik, in der sie ankommen, ist ein Ort der Befreiung.

Vorerst sind sie gefangen zwischen Fenstern. Kinship ist ein lebhafter Film, der aber auch zeigt, dass es eine bedrückende, erdrückende Art von Lebhaftigkeit gibt. Die sich über Fenster artikuliert, die ihrerseits immer wieder klug in die Scope-Einstellungen integriert sind. In einer großartigen, lang ungeschnitten weiterlaufenden, in gekanteter Kameraperspektive gefilmten Einstellung wütet ein Patriarch in seinem Haus, knallt zuerst ein Fenster aus dem Rahmen, das zwei Zimmer miteinander verbindet, macht dann noch allerhand kaputt, bis er von zwei weiblichen Familienangehörigen überwältigt wird und man gemeinsam auf dem Boden liegend die Tristesse des eigenen Lebens einsieht. Fenster öffnen sich nicht ins Freie, sondern auf andere Fenster, es geht nicht so sehr darum, dass man durch sie hinausblicken kann, sondern eher darum, dass man in sie hineinblicken kann; wenn nicht gar hineingreifen, hineinspringen, in einer Szene auch: hineinpissen.

Sunday, September 02, 2012

No Name von Wilkie Collins

Zwei Schwestern verlieren ihren Namen. Die eine findet sich damit ab und wartet auf den Mann, der ihr statt dessen seinen gibt; die andere findet sich nicht damit ab und erfindet sich einen Namen nach dem anderen, eine Identität nach der anderen, um ihren ursprünglichen wieder zu erlangen. Seinem Inhalt nach gibt das Buch der ersten recht: die heiratet ausgerechnet jenen Mann, dem ihr eigenes Erbe aufgrund finsterer Winkelzüge zugefallen ist. Seiner Existenz nach gibt das Buch der zweiten recht: Die Geschichte der ersten Schwester ist langweilig, wird nebenbei, hauptsächlich in zwischen die Hauptkapitel ("Szenen") geschaltenen Briefwechseln vorangetrieben. Die Szenen selbst schlagen sich ganz auf die Seite der zweiten Schwester, derjenigen, die den Namensverlust als Chance begreift: weg mit der Selbstidentität, weg mit der Fremdbestimmung, alles, von Verwandschaftsverhältnissen über charakterliche Voraussetzungen bis hin zu körperlichen Attributen (zwei Muttermale am Hals) wird Spielmaterial. Unterstützt und eingewiesen wird sie dabei von einem "Kapitän", einem "moral agriculturalist", für den ein moralisch integres Buch eigentlich keinerlei Sympathien haben dürfte; nur dummerweise ist nicht zu übersehen, dass Wilkie Collins niemanden in seinem Buch mehr liebt als diesen Horatio Wragge.

Mal mit, mal ohne Unterstützung des Kapitäns stürzt sich die zweite Schwester in immer vertracktere, immer komplexere Maskierungsspiele; rechts und links sterben bösartige Intriganten oder werden naive Mägde geschwängert und mal eben nach Australien geschickt. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Die Welt des Romans ist der Abenteuerspielplatz einer postfeudalen Gesellschaft, die sich noch nicht wieder darauf verständigt hat, wie sie sich selbst reproduziert, ihr Grundprinzip ist vorerst die Falle. Der Moralisierer Collins legt Einspruch gegen das Selbstumschreiben von Biografien ein, aber seine eigene literarische Praxis (nicht nur in diesem Buch) gibt der zweiten Schwester recht.

Immer wieder tauchen in dem Buch Schriftstücke auf, in denen "blank spaces" enthalten sind, in die noch eingetragen werden muss: eine Zahl, ein Name, oder ein Geldbetrag. Sowohl das modulare Erzählen Collins (die Helden setzt sich selbst drei Alternativen, am Ende der dritten stehen drei weitere etc) als auch die Entessenzialisierung einer namenlos gewordenen Welt kommen in diesen "blank spaces" zu sich selbst.

Ich glaube, kurz gesagt, dass No Name ein Buch nicht so sehr über die Moderne ist; sondern eher eines, das wirkt, als sei es hinter dem Rücken des Autors von der hervorbrechenden Moderne selbst geschrieben worden. Andererseits liebe ich Collins Bücher aber auch dafür, dass in ihnen Menschen noch an Gefühlen sterben.

Ein Film, den ich mir nach diesem Buch noch einmal ansehen möchte: Mysterios de Lisboa von Raoul Ruiz.

Wednesday, June 08, 2011

A Female Boss, Han Hyeong-mo, 1959

Eine elegante koreanische romantische Komödie aus den späten Fünfzigern; der Bürgerkrieg ist vorbei, bald wird die Wirtschaft boomen, schon jetzt ist einiges durcheinander geraten. In den letzten paar Minuten des Films wird die Hackordnung der Geschlechter wieder zurecht gerückt, in den gut eineinhalb Stunden davor aber gibt es ausgiebig zu bestaunen: selbstbewusste Frauen in Chefsesseln, duckmäuserische Männer, die in Vorstellungsgesprächen zu Objekten eines erotisierenden Blicks werden, die sich für die eigenen Essgewohnheiten entschuldigen müssen und fast bis zum Fußboden verbeugen, die sich mit misslungenen Golfschlägen lächerlich machen. Weite Teile des Films spielen in den Büroräumen der Zeitschrift "Modern Women". Über dem Schreibtisch der Chefin hängt ein Plakat: "Frauen sind den Männern überlegen". Am Ende wird es ausgetauscht: "Männer sind den Frauen überlegen". Wenn Ideologie immer so geradlinig operieren würde, würde so manches Problem gar nicht erst entstehen. Andererseits: Wenn am Ende wieder der Mann im Büro sitzt, dann liegt zuhause neben dem Sofa der Frau immer noch kein Menschen-, sondern weiterhin lediglich das Hundebaby, das den ganzen Film über als ein sonderbares, zwiespältiges Zeichen der prinzipiellen, aber nicht mehr konventionellen, von Anfang an vorauszusetzenden Zähmbarkeit und Mütterlichkeit der Hauptfigur fungiert. Gleich am Anfang versetzt ihr love interest dem Tier einen kräftigen, durch keinerlei special effects entschärften Tritt.


Vorerst ist die Frau Chefredakteurin und genießt ihre Macht über die Männer, die mehrere Meter leeren Raums durchschreiten müssen, um zu ihr zu gelangen.

Einmal legt sie sogar eine Bananenschale aus:

Im Vorzimmer setzt sich der Geschlechterkrieg fort, auch dort haben die Frauen lange die Überhand. Han Hyeong-mo (der in diesem Blog schon zweimal aufgetaucht ist) dreht dynamische eher denn organisch-runde Filme; A Female Boss desintegriert in der zweiten Hälfte ein wenig, einmal unternimmt die Belegschaft einen Ausflug zu einem Basketballspiel, das der Film ganze zehn Minuten lang beobachtet. Historisch ist das vielleicht lesbar als ein neugieriger Blick auf die Attraktionen der westlichen Moderne, die in die Gesellschaft eindringt, ähnliches gilt sicherlich für die Nachtclubszenen, die mir bereits in Madame Freedom begegnet waren und die hier mindestens genauso großartig sind.

Friday, December 12, 2008

Kein Platz für Ağa

Züğürt Ağa, Nesli Çölgeçen, 1985

Ein Ağa ist, wenn ich das richtig verstanden habe, Bürgermeister und Lehnsherr in einer Person. Der Titel entstammt eigentlich dem osmanischen Reich und wurde dort von militärischen und zivilen Würdenträgern verschiedener Ränge geführt. Offiziell abgeschafft im Jahr 1934 überlebte er in der modernen Türkei informell überall dort, wo die feudalen Besitzverhältnisse bestehen blieben.
Der Ağa in Züğürt Ağa herrscht über ein kleines Dorf im Südosten der Türkei. Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein, beziehungsweise Paternalismus der alten Schule. Der Ağa ist nicht nur Dorfbesitzer- und vorsteher, sondern gleichzeitig trotz eher schmächtiger Gestalt Ringkämpfer und wird als solcher während der Kämpfe von seinen Untertanen pflichtschuldig bejubelt. Und er gewinnt natürlich auch, obwohl der sportliche Wert dieser Siege fragwürdig ist, schließlich bekäme ein Triumph seinem jeweiligen Kontrahenten schlecht.
Noch ist alles eitel Sonnenschein, wie gesagt. Etwas zu viel Sonnenschein freilich und zu wenig Regen, weshalb ein Imam aktiviert wird, der für Regenwasser beten soll. Mehr als eine winzige Wolke, die per Rückprojektion über den ansonsten glänzend blauen Himmel zieht (die archaischen special effects wirken in dem ansonsten technisch sehr ordentlich produzierten Film etwas anachronistisch) springt dabei jedoch nicht heraus. Der Imam verfolgt sowieso eigene Interessen und verkauft Grundstücke im Paradies an die Dorfbewohner gegen Wählerstimmen.
In der ausführlichen Exposition ist das größte Problem des Ağa die Geilheit seines Vaters, welcher bei jeder Gelegenheit lautstark seinen Wunsch kundtut, seine Gemahlin zu verlassen, um wieder mit jungen Frauen schlafen zu können. Der Ağa selbst flirtet zwar auch lieber mit der jungen Kiraz, als mit seiner Frau zu schlafen - was man ihm kaum vorwerfen kann, schließlich bezeichnet sogar diese selbst den ehelichen Sex als "Ringkampf" -, ist geschlechterpolitisch aber eher liberal unterwegs, zumindest gemessen an den realen Verhältnissen in seiner Umgebung. Auch als Ganzes positioniert sich der Film in vielen Disursen, von Religion bis Feminismus, liberal-humanistisch. Mehr als diese im Detail dann doch oft fragwürdige Ideologie (beispielsweise sind die Frauen im Film eigentlich fast ausschließlich damit beschäftigt, sich im Bildhintergrund gegenseitig an die Gurgel zu gehen) interessieren mich an Züğürt Ağa die eher impliziten Aspekte seines Gesellschaftsbilds, und die finde ich, wie es sich für einen ordentlichen Salonmarxisten gehört, natürlich im Bereich der Produktionsverhältnisse.
Nach der Exposition bricht die Sozialstruktur des Dorfes mit erstaunlicher Konsequenz und Radikalität zusammen. Weil Züğürt Ağa kommerzielles Kino ist, beginnt alles auf der symbolischen Ebene: Ein Ringkämpfer wurde nicht hinreichend bestochen und macht den Ağa gnadenlos platt. Noch sind die Dorfbewohner zwar loyal und jagen den Sieger gemeinsam zum Teufel, doch fortan geht alles schief. Denn weil Züğürt Ağa gutes kommerzielles Kino ist, beschränken sich die Veränderungen nicht auf die symbolische Ebene. Es geht Schlag auf Schlag. Der Vater stirbt, die Ernte ist mieß, die Dörfler gehorchen bei der Wahl nicht der eigentlich verbindlichen Empfehlung ihres Ağa und wählen statt dessen wegen der Grundstücke im Paradies den Kadidaten des Imams (vielleicht ist in dieser Entscheidung schon prophetisch der Elitenwechsel von den Kemalisten zu den Islamisten vorgezeichnet, der in der realen Türkei erst ein Jahrzehnt später einsetzte), daraufhin kürzt der Ağa ihnen die Getreideration, was die Bauern wiederum dazu veranlasst, die Scheune zu stürmen und mit der Beute nach Istanbul durchzubrennen.
Das alles ist in humorvolle Vignetten verpackt, die jedoch nie die fast mechanische und selbst im Detail folgerichtige Dynamik der Destruktion einer ganzen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung, die sie antreibt und der sie Bilder leihen, verleugnen können, oder auch nur wollen. Bald steht der Ağa vor den Trümmern seines feudalistischen Paradieses und verkauft es alsbald an den Höchstbietenden. Auch er macht sich auf nach Istanbul.
Hier, in Istanbul, spielt der zweite Teil des Films. In Istanbul ist alles anders. Züğürt Ağa postuliert einen ähnlich radikalen Bruch zwischen Land und Stadt wie Yilmaz Güneys Meisterwerk Sürü. Natürlich verklebt der Mainstreamfilm Züğürt Ağa die beiden Filmhälften auf der Ebene des Genres - durch ein rührseliges Melodram um Kiraz etwa -, wo Güney und sein Regisseur Zeki Ökten den Bruch auf allen filmischen Ebenen suchten. Die soziale Erfahrung, von der die Filme berichten, ist aber erkennbar dieselbe. Çölgeçen hat sehr wohl einen Begriff von dieser Erfahrung und er vermittelt sie auch, obwohl nicht als Begriff.
Für die Komik sorgt jetzt der Ağa selbst, nicht mehr sein Vater. Für letzteren wäre in Istanbul sowieso kein Platz, doch auch sein Sohn tut sich schwer. Geschäft um Geschäft geht vor die Hunde, bald müssen die Möbel verkauft werden und die Ehefrau wird immer ungeduldiger.
Der Ağa trifft in der Stadt auf seine ehemaligen Untergebenen. Als er ihr Cafe betritt, funktionieren die alten Reflexe, aber sie sind nur noch nutzlose Muskelerinnerung, nicht mehr die Verkörperlichung der Produktionsverhältnisse. Statt dessen kollidieren sie mit der großstädtischen Dingwelt (die macht dem Ağa sowieso, auch darin ist der Film ganz kommerzielles Kino, am meisten zu schaffen in der neuen Umgebung). Wie in der Heimat möchten sie sich im Halbkreis um ihren Boss herum aufstellen, aber im engen Cafe will das nicht so recht funktionieren. Im Stühleklappern manifestiert sich ein qualitativer Sprung.
Die Unterwerfung ist sowieso nur noch Charade und wird bald aufgegeben. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse ist eine asymetrische. Der Paternalismus des Ağa überlebt länger als die Loyalität seiner ehemaligen Untertanen. Doch seine wohlwollenden Gesten sind nicht mehr die symbolische Belohnung für die realen Leistungen der Untergebenen, sondern gehen ganz im Gegenteil dem Ağa ganz real an den Geldbeutel, während er sich umgekehrt von nur noch symbolischen Unterwerfungsgesten(und selbst die verschwinden, wie gesagt, alsbald) nicht ernähren kann.
Das Ergebnis ist gleichzeitig flüssig erzähltes, lustiges und technisch gutes kommerzielles Kino (inklusive, das sei nebenbei angemerkt, einem schönen funky Leitmotiv auf der Tonspur) und das nachvollziehbare, erstaunlich komplexe Selbstbild einer Gesellschaft, die bis heute stark von sozialen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten geprägt ist. Ideologische blinde Flecken gibt es natürlich auch (welcher Film hat die nicht?) und zwar nicht zu knapp, aber Züğürt Ağa scheint doch auf einer ganz fundamentalen Ebene sehr ehrlich über die Gesellschaft nachzudenken, aus der er entstammt.

Tuesday, October 23, 2007

Still Life, Jia Zhang-Ke, 2006

Jia Zhang-kes Bilder sind in alle Richtungen durchlässig. Der Film erweitert sich konsequent über die ohnehin eher wie mit dem lockeren Pinselstrich der Impressionisten sanft angedeutet, als klar ausformuliert (welches Mädchen auf dem Foto die Tochter der Hauptfigur ist, weiss er, wir aber nicht) ist. Schlammverschmierte Gänse und Hunde laufen ins Bild, ein kleiner Junge stielt eine Zigarette, Schriftzeichen legen sich über die Bilder und sorgen für eine – allerdings wiederum äußerst sanfte – Distanzierung, initiieren Serien fließender Kamerabewegungen, aus dem Fernseher blickt Chow Yun Fat und findet ein Ebenbild in der chinesischen Provinz. Hinter den Hauptfiguren, wenn sie denn tatsächlich einmal das Zentrum des Bildes einnehmen, reißen andere Menschen Löcher in Häuser und Landschaft, unterhalb der dritten Staustufe muss alles weg, bevor das Wasser kommt. Doch noch wohnen zwischen den Mauerresten Menschen und zwar sehr viele. Tritt in Still Life ein Mensch durch eine Maueröffnung, so kann man darauf wetten, dass ihm noch mindestens fünf weitere folgen. Die Mauern, die hier eingerissen werden, werden anderswo, irgendwo oberhalb der dritten Staustufe, wieder aufgebaut werden. Der Titel Still Life ist in zweierlei Hinsicht missverständlich: Weder steht hier irgendetwas still, noch ist Jias Film einer über die letzten Überreste des Lebens vor der großen Flut, die alles mit sich reißen wird. Jeder Hammerschlag ist mehr Transformation als Destruktion und noch im elegischsten Trümmerpanorama findet die Kamera Lebenszeichen, wenn sie nur lange genau darauf wartet.
Möglicherweise könnte man gar diesem wunderbaren Film aus seinem Vitalismus einen Strick drehen, wenn man auf politische Kritik im engeren Sinne aus wäre. In der Tat fand Jias Abkehr vom minimalistischen, düsteren Stil seines Frühwerkes gleichzeitig statt mit dem (vorsichtigen) Friedensschluss des Regisseurs mit der chinesischen Zensur. Seit The World sehen Jias Filme anders aus, offener und heterogener, jedoch eben auch sinnlicher, nicht unbedingt optimistischer, aber irgendwie mondäner und vor allem im Falle von Still Life auch auf konventionellere Weise humanistisch und damit eventuell nicht nur arthauskompatibler, sondern schlicht und einfach weniger radikal.
Doch bleibt es grundsätzlich ein fragwürdiges Phänomen, dass das chinesische Kino hierzulande fast ausschließlich in Bezug auf die (chinesische) Zensur thematisiert wird. Fast scheint es, als solle der chinesische Film das politische Potential ausagieren, welches dem deutschen (wenn nicht dem gesamten europäischen) längst abhanden gekommen zu sein scheint. Wie die Frontstellungen in China tatsächlich aussehen, ist sicherlich weitaus komplizierter als es aus europäischer Perspektiver erscheint. Hier findet sich eine Einführung in die Problematik.
Und überhaupt (auch wenn dies obiges Argument nicht wirklich entkräftet) findet sich unter der slicken, hippen Oberfläche Still Lifes immer noch dasselbe politische Bewusstsein. Deutlich wird dies beispielsweise in den Unterschieden zwischen den beiden Geschichten. Die Klassendifferenz zwischen den jeweiligen Hauptfiguren muss nicht langwierig etabliert werden, sondern ist von Anfang an in ihre unterschiedliche Kleidung eingeschrieben, aber vor allem in dem jeweils verschiedenen Verhältnis zur sie umgebenden Welt. Während Han sich den ihm fremden sozialen Raum sofort zu eigen macht, durch zahlreiche Interaktionen mit Taxifahrern, Bauarbeitern und so weiter, aber auch durch direkte Kontakte mit der sich ständig transformierenden Architektur, bleibt zwischen der (verhältnismäßig) wohlhabenden Shen und ihrer Umgebung stets eine unüberbrückbare Distanz. Ihre Handlungen beziehen sich zwar letztlich auf denselben Raum, benötigen jedoch immer Vermittlungen: Innerdiegetisch nehmen Figuren der Spielfilmhandlung wie der Jia-Regular Wang Hong Wei diese Rolle ein, noch entscheidender sind jedoch im stilistische Verfahren, also Techniken, die als Eingriffe des Regisseurs selbst erkennbar bleiben. Die im engeren Sinne antirealistischen Elemente des Films, insbesondere die vielbeachtete UFO-Sequenz, finden sich allesamt in Shens Episode. Jias Regie isoliert Shen sanft aber bestimmt von ihrer Umgebung und verweigert ihr letztlich den Eintritt in den sozialen Erfahrungsraum.
Still Life sieht aus und fühlt sich an wie das Werk eines Regisseurs, der den Zenit seines Schaffens erreicht hat und sich auf dem Höhenkamm der eigenen Karriere sichtlich wohl fühlt. Zu hoffen bleibt allerdings, dass er den mit den letzten beiden Filmen eingeschlagenen Weg nicht allzu konsequent weiterverfolgt. Denn noch rosaroter, als er es ohnehin schon ist, sollte der Neorealismus Jias nun doch nicht werden. Sonst könnte der Regisseur irgendwann bei Scheußlichkeiten wie De Sicas Miracolo in Milano enden, mit welchem bereits Still Life – ungerechtfertigterweise obwohl meistens in lobender Absicht – hier und da verglichen wurde.

Wednesday, March 28, 2007

Sürü, Zeki Ökten, 1978

Ein tieftrauriger Film aus den Weiten der ländlichen Türkei, noch während der Hochzeit der türkischen Filmindustrie entstanden, gleichzeitig, in einer wohl äußerst peripheren Position, in ihr und - so ist zu vermuten - gegen sie. Auch wenn der Film 1979 auf der Berlinale zu sehen war (natürlich im Forum), ist er meilenweit entfernt vom Festivalkino heutiger Tage.
Wenn Kino überhaupt wirklich politisch sein kann, dann ist Sürü ein politischer Film - einer unter sehr wenigen, vermutlich. Und das gerade weil Ökten und Drehbuchautor Yilmaz Güney nie versuchen, die Handlung direkt zu politisieren. Zwischen der marxistischen Theorie, genauer gesagt zwischen der Ausformulierung ihres dialektischen Prinzips, und dem Alltagsleben der Schäfer klafft eine Lücke, die der Film nicht auf der Ebene der Handlung zu schließen versucht.
Wenn die Schäfer des Hochlandes in die Städte ziehen, sieht man im Hintergrund einen Traktor einen Pflug ziehen. Doch erst anschließend folgt eine fast eisensteinsche Montagesequenz, die den Alltag der Hirten mit der maschinellen Zukunft konfrontiert, die ihre gesamte Lebensart zerstören werden. Und in der Stadt bleibt es einem altklug daherredenden Kind vorbehalten, auf die Wiedersprüche der bestehenden Gesellschaftsordnung hinzuweisen. Die eigentlichen Protagonisten sind nicht nur in der alten Ordnung der Familienfehden und Ehrenmorde gefangen, sondern in einem weiteren Sinne auch in ihrem eigenen Körper.
Immer bleibt eine nicht zu schließende Lücke bestehen zwischen dem konkreten, sinnlichen wie sozialen Erleben einerseits und dem unerbittlichen politischen Projekt des Films andererseits, dem das Volk hier tatsächlich im deleuzeschen Sinne fehlt, erzwungendermaßen und unwiederbringlich.
Eine lange Bahnfahrt verbindet Land und Stadt. Mithilfe punktgenauer Beobachtungen durchquert Öktens Film den geografischen wie den sozialen Raum. Hier erreicht der Film eine Intensität und Dringlichkeit, wie sie das Kino im postfordistischen Zeitalter in Westeuropa wohl nie wieder erreichen kann - oder höchstens in postkolonialen Zusammenhängen. Die radikale Verschiedenheit der Hirtendörfer einerseits und Ankaras hat Auswirkungen auf alle filmische Register. Doch beiden Lebensformen entsprechen spezifische sinnliche Konfigurationen. Und diese sind miteinander absolut unkompatibel.
In der Stadt angekommen werden die Hirten mit einer Warenform jenseits der traditionellen Tauschgeschäfte konfrontiert: Sie starren die - für sie unerschwinglichen - Elektrogeräte einer Ladenauslage an. Und die Heizungen und Backöfen starren zurück.
Sürü ist kein marxistischer Thesenfilm, auch wenn er deutlich in jeder Szene von marxistischer Theorie durchdrungen ist. Sürü ist das tieftraurige, unendlich bewegende Dokument des Untergangs einer präkapitalistischen Gesellschaftsform, ohne Hoffnung auf Errettung durch Transformation, da sie mit einer spezifischen sinnlichen Konfiguration, einer somatischen realität verbunden ist, die vom Kapitalismus radikal konsequent vernichtet wird. Und zu allererst ist Sürü ein Film, der gesehen werden muss. Wer in Berlin wohnt, kann ihn sich in Kürze im Videodrom auf DVD ausleihen.
Mehr (und kompetenter) zu dem Film hier: http://www.sensesofcinema.com/contents/cteq/04/32/suru.html