Zwei Schwestern verlieren ihren Namen. Die eine findet sich damit ab und wartet auf den Mann, der ihr statt dessen seinen gibt; die andere findet sich nicht damit ab und erfindet sich einen Namen nach dem anderen, eine Identität nach der anderen, um ihren ursprünglichen wieder zu erlangen. Seinem Inhalt nach gibt das Buch der ersten recht: die heiratet ausgerechnet jenen Mann, dem ihr eigenes Erbe aufgrund finsterer Winkelzüge zugefallen ist. Seiner Existenz nach gibt das Buch der zweiten recht: Die Geschichte der ersten Schwester ist langweilig, wird nebenbei, hauptsächlich in zwischen die Hauptkapitel ("Szenen") geschaltenen Briefwechseln vorangetrieben. Die Szenen selbst schlagen sich ganz auf die Seite der zweiten Schwester, derjenigen, die den Namensverlust als Chance begreift: weg mit der Selbstidentität, weg mit der Fremdbestimmung, alles, von Verwandschaftsverhältnissen über charakterliche Voraussetzungen bis hin zu körperlichen Attributen (zwei Muttermale am Hals) wird Spielmaterial. Unterstützt und eingewiesen wird sie dabei von einem "Kapitän", einem "moral agriculturalist", für den ein moralisch integres Buch eigentlich keinerlei Sympathien haben dürfte; nur dummerweise ist nicht zu übersehen, dass Wilkie Collins niemanden in seinem Buch mehr liebt als diesen Horatio Wragge.
Mal mit, mal ohne Unterstützung des Kapitäns stürzt sich die zweite Schwester in immer vertracktere, immer komplexere Maskierungsspiele; rechts und links sterben bösartige Intriganten oder werden naive Mägde geschwängert und mal eben nach Australien geschickt. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Die Welt des Romans ist der Abenteuerspielplatz einer postfeudalen Gesellschaft, die sich noch nicht wieder darauf verständigt hat, wie sie sich selbst reproduziert, ihr Grundprinzip ist vorerst die Falle. Der Moralisierer Collins legt Einspruch gegen das Selbstumschreiben von Biografien ein, aber seine eigene literarische Praxis (nicht nur in diesem Buch) gibt der zweiten Schwester recht.
Immer wieder tauchen in dem Buch Schriftstücke auf, in denen "blank spaces" enthalten sind, in die noch eingetragen werden muss: eine Zahl, ein Name, oder ein Geldbetrag. Sowohl das modulare Erzählen Collins (die Helden setzt sich selbst drei Alternativen, am Ende der dritten stehen drei weitere etc) als auch die Entessenzialisierung einer namenlos gewordenen Welt kommen in diesen "blank spaces" zu sich selbst.
Ich glaube, kurz gesagt, dass No Name ein Buch nicht so sehr über die Moderne ist; sondern eher eines, das wirkt, als sei es hinter dem Rücken des Autors von der hervorbrechenden Moderne selbst geschrieben worden. Andererseits liebe ich Collins Bücher aber auch dafür, dass in ihnen Menschen noch an Gefühlen sterben.
Ein Film, den ich mir nach diesem Buch noch einmal ansehen möchte: Mysterios de Lisboa von Raoul Ruiz.
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