Wednesday, September 26, 2018

Konfetti 17: Unsichtbarkeit

Der Kinosaal ist, so könnte ein Definitionsversuch beginnen, ein Raum, in dem sich die Frage nach dem Licht stellt. Genauer gesagt geht es um die Frage der Verteilung von Sicht- und Unsichtbarkeit - eine Frage, die sich auch in vielen anderen Räumen auf die eine oder andere Art stellen mag, die sich aber kaum irgendwo so deutlich stellt wie im Kinosaal. Fast könnte man sagen, dass die Frage nach der Verteilung von Sicht- und Unsichtbarkeit die Urfrage des Kinosaals ist, und dass sich alle anderen Fragen, die man an den und im Kinosaal stellt, von ihr ableiten.

Und eigentlich ist die Antwort naheliegend: Der Kinosaal sollte so organisiert sein, dass der Film auf der Leinwand möglichst sichtbar und alles andere möglichst unsichtbar ist. Das “möglichst” bezieht sich in beiden Fällen auf die praktischen Hindernisse, die sich einer idealen Kinoerfahrung zwangsläufig in den Weg stellen: Weder ist der Film jemals komplett und für alle Zuschauerinnen und Zuschauer gleich sichtbar, noch ist der Rest des Raums je komplett unsichtbar. Für Ersteres sorgen bereits die unterschiedlichen Sitzpositionen, ganz zu schweigen von Projektionsproblemen und Köpfen, die ins Bild ragen. Anschließen könnte man an dieser Stelle ein erkenntnistheoretisches Problem: Was wäre überhaupt eine perfekte, komplette Sichtbarkeit? Ein Film, der das gesamte visuelle Feld einer Zuschauerin einnimmt? Nicht zwangsläufig, schließlich gehört zur filmischen Einstellung auch ihre Begrenzung, das Off des Bildes hat Teil an der Bedeutungsproduktion und auch am sinnlichen Erleben eines Films. Der Kinosaal muss beides erfahrbar machen: Die Sichtbarkeit der Leinwand und die Unsichtbarkeit, die sie umschließt.

Solche grundsätzlicheren Fragen sollen an dieser Stelle beiseite bleiben. Hier interessiert mich mehr der andere Teil der Unterscheidung: die möglichst weitgehende Unsichtbarkeit von allem, was nicht filmisches Bild ist. Auch hier gilt, wie gesagt, dass diese Unsichtbarkeit zwangsläufig keine perfekte ist, schließlich ist der Film selbst eine Lichtquelle, die zwangsläufig auch ihre Umgebung illuminiert. Dennoch: je weniger wir im Kino von unserer nichtfilmischen Umgebung sehen, desto besser. Wände und Decken in Kinos sind idealerweise in mattem, lichtschluckendem Schwarz gehalten und die Sitzreihen so installiert, dass wir auch von den anderen Zuschauern möglichst wenig (zumeist nur eine Reihe von Haarbüscheln) zu Gesicht bekommen. Soweit, so eigentlich ziemlich simpel. Tatsächlich bauen ganze Filmtheorien, insbesondere psychoanalytisch inspirierte, auf diesem Ideal auf: Der Film, der vor uns nicht als Teil der Welt, sondern als ein idealisiertes Traumbild erscheint, dem wir, eben wie der Träumende dem Traum, komplett ausgeliefert sind.

Eine andere Konsequenz aus diesem Ideal der Unsichtbarkeit von Kinoarchitektur: Je weniger Lichtquellen in einem Kinosaal in Konkurrenz mit der Leinwand treten, desto besser. Eben deshalb werden in vielen Kinos die Zuschauer vor der Filmvorführung darum angehalten, ihre Handybildschirme nicht aufleuchten zu lassen. Ein interessantes Element der Kinosäle sind aus dieser Perspektive die leuchtenden “Exit”-Schilder, die die Position der Notausgänge anzeigen. (Dummerweise befinden sich die Notausgänge in den meisten Fällen unmittelbar neben der Leinwand…) Die Schilder gehören zu jenen Elementen der Kinoarchitektur, die der strikten Aufteilung von Sicht- und Unsichtbarkeit entgegenwirken. Was nicht heißt, dass sie mit dem Kino inkompatibel sind (oder gar, dass ich ihre Abschaffung fordern würde; es wird schon gute Gründe dafür geben, dass es sie gibt, wenn sie nur in einer einzelnen Vorführung ein Leben retten, sind sie auch in allen anderen nicht umsonst eingeschaltet). Die “Exit”-Schilder sind eben eine jener Imperfektionen, mit denen sich das Kino arrangieren muss (und immer schon arrangiert hat).

Ich habe allerdings den Eindruck, dass Kinobetreiber sich immer weniger Mühe damit geben, die “Exit”-Schilder so zu installieren, dass sie möglichst wenig invasiv wirken. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass das Ideal des “unsichtbaren Kinos” (so die Bezeichnung des Filmsaals des Österreichischen Filmmuseums) überhaupt an Zugkraft verloren hat. Vielleicht ist die oben skizzierte klassische Konzeption eines Kinosaals - eine Sphäre der idealisierten Sichtbarkeit auf der Leinwand, ein Areal der idealisierten Unsichtbarkeit drumherum - in eine Krise geraten ist, beziehungsweise vielleicht hat sie bereits heute keinen Bestand mehr.

Gerade in neueren Multiplexsälen (aber Arthauskinos sind vielleicht nur deshalb weniger betroffen, weil sie zumeist ältere Räume bespielen) bemerke ich schon seit längerem, aber in den letzten Jahren noch einmal forciert, eine grundsätzlich andere Lichtarchitektur. Während der Vorführung bleiben nicht nur, gemäß Vorschrift, die oft ziemlich grell leuchtenden Notausgangschilder beleuchtet, auch zahlreiche weitere Lichter an den Rändern des Saals, teilweise sogar an der Decke, werden zwar gedämmt, aber nicht komplett abgedreht. Der Saal verschwindet nicht mehr in der Dunkelheit, sondern wird in eine Art Dämmerzustand versetzt, die Illumination erinnert an ein Zimmer mit zwar zugezogenen, aber nicht komplett lichtundurchlässigen Vorhängen.

Die Entwicklung mag auch mit mir unbekannten Innovationen in der Lichttechnik zusammenhängen; ich habe jedenfalls den Eindruck, dass es sich keineswegs um eine bloße Modeerscheinung handelt. Vielmehr könnte sie ein Hinweis darauf sein, dass “Film” heute nicht mehr dasselbe bedeutet wie früher: Der Film ist im Kinosaal der Gegenwart nicht mehr das eine, alternative Lichtereignis, die Insel der Sichtbarkeit im Meer der Unsichtbarkeit, sondern er ist nur noch eines unter mehreren Elementen eines Lichtarrangements. Möglicherweise lohnt es sich, auch die derzeit neu aufkommende onyx-Technik aus dieser Perspektive zu untersuchen: Wenn der Film nicht mehr durch den gesamten Kinosaal projiziert wird, sondern lediglich auf einem überdimensionierten Bildschirm (beziehungsweise einer Konstellation diverser Bildschirme) aufleuchtet, dann verliert er ein Stück weit die Definitionsmacht über den Raum, in dem er vorgeführt wird. Auf der LED-Leinwand ist der Film nicht mehr das Zentrum der sichtbaren Welt, sondern nur ein weiteres Lichtelement, das nach Belieben aus- und eingeschaltet, beziehungsweise moduliert werden kann.

Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

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