Fast völlig untergegangen ist der Deutschlandstart des vielleicht schönsten Films des bisherigen Kinojahres. Die Regiearbeiten Miyazakis haben spätestens seit den Neunzigern einen Hang zum Expansiven, Ausgreifenden, Barocken. Der neue Ghibli-Film Arrietty, bei dem der Meister zwar für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, aber die Regie dem jungen Debütanten Hiromasa Yonebayashi überlassen hat, findet zur Linearität und scheinbaren Einfachheit von Tonari no Totoro zurück. Wie in Totoro nimmt der Film seinen Anfang bei Kindheit und Einsamkeit, die fantastische Welt, die auf dieser Basis entsteht, gewinnt dann aber ein Eigenleben, das nicht mehr auf den psychologischen Maßstab zum Beispiel einer Projektion gebracht werden kann.
Die Titelfigur Arrietty gehört zu den "Borrowers". Die Borrowers sind "kleine Menschen", die sich in den Häusern der Großen eingerichtet haben und diesen einige Kleinigkeiten für die eigene Existenz entwenden: einzelne Zuckerwürfel, Stecknadeln, Papiertaschentücher, stest nur solche Dinge, deren Verlust nicht bemerkt, die also im Maßstab der Großen nicht einzigartig, sondern ohne Probleme ersetzbar sind. Der Größenunterschied zwischen kleinen und großen Menschen führt nicht nur zu einer Umwertung der Dingwelt, er prägt den gesamten Film. Aber, das ist das Schöne, nie als bloße Cuteness oder als Pointe, sondern als Simulation realen Erlebens. Eine lange, ausführliche Szene am Anfang des Films beschreibt einen Streifzug Arriettys mit ihrem Vater durch das Haus der großen "Wirtsfamilie". Der Film nimmt sein Szenario ganz und gar ernst und lädt konsequent die Details der alltäglichen Welt, die im gewöhnlichen Erleben kaum noch wahrgenommen werden, mit einem "sense of adventure" auf: Nägel, die ein wenig aus der Wand ragen, Stromkabel, Klebestreifen und so weiter. Später spielen auch die "großen Menschen" eine wichtige Rolle im Film, es gibt dann immer wieder ein Spiel mit der Perspektive, am schönsten während der ersten gelungenen Begegnung Arriettys mit dem jungen Sho: vorher konnte er stets nur ihren Schattenwurf sehen, jetzt zeigt sie sich ihm vollständig. Sie tritt an das für sie riesenhafte Kind heran, er dreht seinen Kopf, es folgt ein Schnitt auf seinen Point of View, auf eine Nahaufnahme Arriettys zwischen wogenden Blumenblüten, die teilweise größer sind als ihr gesamter Kopf. Dieser Schnitt gehört zum Schönsten, was ich dieses Jahr im Kino gesehen habe. (Natürlich auch aufgrund der wundervollen Melodie, die Arriettys Blumenporträt unterlegt wird; musikalisch vergreift sich der Film gleich am Anfang erheblich, das englischsprachige Titellied ist unterirdisch, der Rest des Soundtracks dafür umso großartiger).
Wie in vielen anderen Gibli-Filmen ist die Geschichte nicht einmal auf den ersten Blick so einfach und oppositionell strukturiert, wie die Gegenüberstellung von klein und groß glauben machen könnte. Auch Arrietty entwirft eine Welt, die gleichzeitig und oft ununterscheidbar Sozial- und Ökosystem ist, in deren Inneren eher Dialektik als eine transzendente Moral waltet. Das gilt schon für die Struktur der Bilder, für ihre Textur selbst. Von weitem, in der Totalen, ist die Wiese ein impressionistischer Aquarelltraum, aber wenn sich Arrietty und ihre Familie durch sie hindurchschlagen müssen, ist die Lieblichkeit verschwunden, lauern an allen Ecken und Enden Gefahren.
Ein Detail macht die eben gerade nicht eindimensionale Beziehung zwischen den beiden Sphären des Films besonders deutlich: Die "großen Menschen" haben für die kleinen mit den besten paternalistischen Absichten ein Puppenhaus gebaut, aber das wird nicht als Friedensangebot interpretiert, sondern als Falle. Und vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wenn auch aus Gründen, die den Borrowers selbst nicht bewusst sind; schließlich lauert im Puppenhaus die Domestizierung. Die Kommunikation zwischen den beiden Parteien scheitert also an einem doppelten Missverständnis. (Die Borrowers setzen statt dessen auf Abschottung von der bei gleichzeitiger Mimikry an die Lebenswelt der Großen. Diese Selbstdomestizierung wird ihnen erst bewusst, als sie einen anderen, in tatsächlicher Freiheit, aber dafür noch fast vorsprachlich lebenden Borrower kennenlernen. Auch könnte man auf die verschiedenen Familienmodelle hinweisen, auf die intakte, aber tendenziell repressive Borrower-Familie und auf die im Zerfallen begriffene Wirtsfamilie und auf deren Verhältnis zur eigenen Hausangestellten.)
Mittlerfiguren zwischen den beiden Sphären sind die Tiere, innerhalb der Handlung spielt vor allem eine Katze eine Rolle, allerdings haben auch jede Menge Vögel, Hunde, Mäuse und vor allem Insekten Kurzauftritte. Die Tiere stehen außerhalb der Differenz, die den Film strukturiert zumindest insofern, wie diese eine begriffliche ist und gerade deshalb eignen sie sich zu ihrer Überwindung. Der Angriff eines Rabens bringt Sho und Arrietty zum ersten Mal einander näher, Käfer, Schaben und Ameisen bekommen in liebevollen Großaufnahmen eine wundervolle Materialität (für die Borrowers sind Insekten nicht das Abjekte an der Natur, sondern selbstverständlicher Teil der Umwelt). Aber selbst die intelligente, in manchen Hinsichten lernfähige Katze bleibt eine rätselhafte Kreatur, der auch dann kein mit menschlichem analoges Bewusstsein zugeschrieben wird, wenn sie scheinbar altruistisch handelt (die Katze hat Teil an einer anderen Art von Freiheit, ihre Freiheit ist nicht sozial bedingt, sondern ganz und gar unbedingt). In einer meiner Lieblingsszenen läuft eine Kellerschabe über einen Stein, eine andere taucht auf, die beiden reiben sanft ihre Fühler aneinander und verschwinden gemeinsam. Nichts gegen die Dinosaurier in The Tree of Life, die fand ich auch toll; aber Yonebayashis Kellerschaben habe ich doch noch gerner.
(Siehe auch, unter anderem zur Katze, Fabian).
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