Saturday, September 24, 2011

Christiane Schröder greift sich tief in den Pullover

Der Text der Einführung, die ich im Zeughauskino zu Der Papierblumenmörder gehalten habe:

Der Kommissar war die erste deutsche Krimiserie nach amerikanischem Vorbild, mit einem durchgängigen Ermittlerteam, das jede Woche einen neuen Fall bearbeitet. Inszeniert wurden viele Episoden von bekannten Kinoregisseuren der Fünfziger Jahre: Wolfgang Staudte, Wolgang Becker, Georg Tressler oder auch Helmut Käutner. Man könnte vielleicht sagen, dass die Serie diesen alternden Männern, die mit dem Kino der Zeit wenig Berührungspunkte hatten, noch einmal die Möglichkeit bot, über und zur Gegenwart zu sprechen. Allerdings nur vermittelt über Erik Ode als Kommissar Keller, einen sonderbar lethargischen Ermittler, der fünfzig Minuten lang ins Ungenaue spricht und sich überhaupt so wenig wie möglich bewegt, nur um in den letzten zehn Minuten plötzlich den Schuldigen aus dem Hut zu zaubern. Rainer Knepperges beschreibt, bezogen auf die Episode Parkplatzhyänen sehr treffend, wie Ode einen Verdächtigen “durch schildkrötenhaftes Rumsitzen in dessen Kneipe” zermürbt. Die Drehbücher stammen von Herbert Reinecker, sie wimmeln nur so von zerbrochenen Familien, gefallenen Mädchen und blind aufbegehrenden jungen Männern. Die konservative Färbung der Serie, die sich auch in der strikten Hierarchie innerhalb des Ermittlerteams niederschlägt, fasste Georg Seeßlen 1973 folgendermaßen zusammen: »Der Übervater Kommissar stellt die Ruhe wieder her, indem er das kranke Kind, das die anderen anzustecken droht, entfernt und einer Sonderbehandlung zuführt.«
Rückblickend erscheint diese Diagnose zu pauschal gestellt. Vor allem auf die vier Episoden, die der Tscheche Zbynek Brynych inszenierte, trifft sie eindeutig nicht zu. Das ist schon deswegen erstaunlich, weil das Fernsehen eigentlich kein Regisseursmedium ist. Fernsehregisseure gelten, oft zurecht, als bloße Erfüllungsgehilfen der Produzenten und Autoren. Doch es gibt Konstellationen, in denen den Regisseuren Freiräume erwachsen, Ende der Sechziger Jahre scheint sich im ZDF eine solche Konstellation ergeben zu haben.
Brynych hat einen anderen Hintergrund als die übrigen Kommissar-Regisseure, er ist geprägt vom neuen europäischen Kino der Sechziger. Anfang des Jahrzehnts gehört er zur tschechischen “Neuen Welle”, sein Film Smyk aus dem Jahr 1961, eine stilisierte Spionagegeschichte im Zeichen des kalten Kriegs, war vor ein paar Monaten hier im Zeughauskino zu sehen. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings im April 1968 geht er nach Westdeutschland und findet dort schnell Anschluss an die Film- und Fernsehszene, Ende 1970 muss er in die CSSR zurück und darf sein Heimatland für einige Jahre nicht verlassen. Deswegen bleibt es bei vier Kommissar-Episoden, jede für sich heute legendär: Die Schrecklichen von 1969, Der Papierblumenmörder, Tod einer Zeugin und Parkplatzhyänen von 1970. Das Jahr 1970 war auch abseits davon ein besonders produktives für Brynych. Neben drei Kommissar-Episoden werden in diesen zwölf Monaten auch die einzigen drei deutschen Kinofilme des Regisseurs veröffentlicht. Der bekannteste der drei, “Engel, die ihre Flügel verbrennen”, basiert ebenfalls auf einem Reinecker-Drehbuch. Mitte der Siebziger kehrt Brynych zurück nach Deutschland, in der Folge arbeitet er bis zu seinem Tod 1995 zwischen beiden Ländern, inszeniert in der CSSR Kinofilme, in der BRD Episoden von Krimiserien wie Derrick und Der Alte.
Der Regisseur Dominik Graf, der heute wie Brynych damals sowohl fürs Kino als auch fürs Fernsehen dreht, ist ein großer Bewunderer des Tschechen. In der FAZ schreibt er: “Denn ausgerechnet uns Westdeutschen hat dieser wundersam fröhliche tschechische Herr gegen Ende der Sechziger Jahre in seinem Münchner Exil das vielleicht größte filmische Geschenk gemacht: vier exorbitante Folgen des guten alten "Kommissar", vier kurze Filme, die an schierer Vitalität der Erzählweise und der Figuren - und an heute noch glücklich machender BRD-Schmutzigkeit - so ziemlich alles schlagen, wovon das deutsche Fernsehen - und der deutsche Film sowieso - je zu träumen gewagt hätte. In München, in diesen Herbert Reinecker-Plots, die immer wie mit einer Bleistiftlinie gezogen ins Herz der westdeutschen Nachkriegs-Befindlichkeit trafen, da kam Brynychs Genialität nochmal zu einer neuen Bestimmung.” Was Graf an Brynych gefällt: “Die Unorderntlichkeit, die Schmuddeligkeit, das Vulgäre, die Lust, die Lebensfreude.”
Wie kann man so eine Beschreibung mit der moralisierenden Tendenz der Reinecker-Plots zusammenbringen? Was Rainer Knepperges über Engel, die ihre Flügel verbrennen in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift mit dem sonderbaren Titel “Gdinetmao” schreibt, kann man, glaube ich, auch auf die Kommissar-Episoden übertragen: “Man wird das Gefühl nicht los, Brynych mache sich einen Spaß daraus, die Biederkeit des Reinecker-Drehbuchs ironisch zuzuspitzen.” An allen Kommissar-Episoden Brynychs fällt eine Exzessivität auf, eine Exzessivität des Stils, wie auch des Schauspiels.
Beurteilt man sie nur als klassische Kriminalerzählung, ist Der Papierblumenmörder, die zweite Brynych-Episode, nicht besonders gelungen. Zwar gibt es einen spektakulären Mord, eine ganze Reihe von Verdächtigen und durchaus auch einige überraschende Wendungen, aber allzu viel Sinn ergibt das alles nicht. Insbesondere die letzte Pointe ist, ich denke da werden Sie mir in einer guten Stunde zustimmen, bei aller poetischen Schönheit der Inszenierung, doch eher an den Haaren herbeigezogen.
Außergewöhnlich sind die von Brynych inszenierten Episoden, weil in ihnen einzelne Szenen, Dialoge, Kamerafahrten, Musikstücke ein Eigengewicht erhalten, das sich dem Ganzen der Erzählung entgegenstellt. Gleich die erste Einstellung, die als Schwenk über einen Autofriedhof beginnt und sich dann als Subjektive entpuppt, zeigt, wie wenig Brynychs Regie mit dem zu tun hat, was man bis heute despektierlich als Fernsehregie bezeichnet. Fast die gesamte Episode ist auf diese Weise verunreinigt: viele Zooms, hastige Kamerabewegungen, abrupte Schärfeverlagerungen. Es ist dann vor allem Christiane Schröder als Bonnie, die Freundin der Toten, die immer wieder in einer Art außer sich zu geraten scheint, wie sie auf keine handlungspsychologische Motivation zurückzurechenen ist. Hier sei nur die Szene erwähnt, in der sie sich mit ihrer Hand tief in den Pullover greift, einen Schlüssel hervorzieht und diesen dann, diabolisch grinsend, den Polizisten wie eine Waffe entgegenstreckt.
Eine besondere Erwähnung verdient Brynychs Musikeinsatz. Zumindest in drei der vier Kommissar-Episoden taucht jeweils ein Popsong wieder und wieder auf, in fast zwanghafter Manier. In Der Papierblumenmörder sind es genau genommen sogar zwei Motive: eine langsame, sentimentale Melodie, zu der Erik Ode in einer denkwürdigen Szene tanzt, sowie ein schneller, treibender Popsong. Brynych sagt dazu in einem Interview: “Ich liebe Wiederholungen, nicht nur in Liedern, auch in Dialogen und Situationen. Das Leben besteht aus lauter Wiederholungen.” Oft werden die Musikstücke auf einer Jukebox gespielt, was den mechanisch-manischen Charakter der ewig-gleichen Melodien unterstreicht.
Der Papierblumenmörder ist, kurzum, nicht nur ein Teil der bundesdeutschen Fernsehgeschichte, sondern auch einer der europäischen Kinogeschichte. Und schließlich ist er auch Teil einer Geschichte der deutschen Cinephilie. Das erwähnte Magazin “Gdinetmao” wirkte gelegentlich fast wie ein Brynych-Fanzine. Die inzwischen eingestellte Zeitschrift trug den Untertitel “Abweichungen vom deutschen Film”. Eine solche Abweichung macht sie in den frühen Neunzigern ausgerechnet in einem vermeintlich unrettbar biederen, schon damals gut zwanzig Jahre alten Fernsehkrimi ausfindig. Auch die inoffizielle Nachfolgezeitschrift mit dem ebenso sonderbaren Namen “Sigi Götz Entertainment” hält große Stücke auf Brynych und interessiert sich in ähnlicher Weise für die widerständigen Momente im Populären. Über den cinephilen Filmemacher Dominik Graf schließt sich der Bogen in die Gegenwart. Thomas Groh hat mich darauf hingewiesen, dass in Grafs neuem Polizeiruf Kassandras Warnung eine Tanzszene auftaucht, die direkt auf Erik Ode und den Papierblumenmörder verweist.

Zitate aus:
Georg Seeßlen: Romantik und Gewalt. 1973
Rainer Knepperges (Hg.): Gdinetmao. Abweichungen vom deutschen Film. 2001
Dominik Graf: "Ein wundersam fröhlicher tschechischer Herr." FAZ, 30.4.2008
Dominik Graf: "Brynych Village." cargo 06, 2010

Interview Brynych

4 comments:

Christoph said...

Sehr schön, dass du das hier konservierst. Als ich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass du - ausgerechnet!, dachte ich - diese Einführung hältst, habe ich mich - wieder einmal, auch angesichts der beiden 35mm-Brynych-Vorstellungen der von mir verehrten Kinofilme (auch wenn OH HAPPY DAY wieder einmal unterschlagen wurde) - ganz schnell nach Berlin gewünscht.

Ich werde es mir in den nächsten Tagen in aller Ruhe zu Gemüte führen und eventuell kommentieren. Es juckte mich schon in den Fingern, als ich zu meiner immensen Verwirrung und Freude gesehen habe, dass du die vier Kommissare und die Engel gesehen - und gemocht - hast. Und obendrein in dieser "Rangfolge".

Anonymous said...

What a happy day! Zbynek Brynych wird wiederentdeckt- beziehungsweise: ist er überhaupt jemals entdeckt worden bevor Gdinetmao ihn als grandiosen Regisseur identifizierte? Seit einigen Tagen kann man auch seine aberwitzige ZDF- Version von Remarques "Nacht von Lissabon" auf DVD kaufen. Martin Benrath, Vadim Glowna, Horst Frank - und als lebende Tote auf Reisen Erika Pluhar.

Lukas Foerster said...

@Christoph: Da musst Du schon genauer werden. Warum Verwirrung? Warum "ausgerechnet"? Was stimmt mit der Reihenfolge nicht? Und der Text: zu ideologiekritisch? Zu akademisch? Don't leave me hanging...

Anonymous said...

Aktueller Hinweis fuer den Norden!!!

Im Metropolis, Hamburg findet zwischen dem 12.12. und 18.12. ein kleines BRYNYCH “Festival” statt mit 10 Vorfuehrungen inclusive eines Komissar Special Abends.

http://www.metropoliskino.de/data/reihen/index.php?IDD=1353066527&d=1354316400

BIZARRE CINEMA EXPANDED:
FILME VON ZBYNEK BRYNYCH

»Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich selbstverständlich ein Gynäkologe werden. Das ist natürlich; jeder 16-Jährige will das. Als ich 19 war, wollte ich ein Kommissar sein. Jetzt bin ich Filmregisseur, das ist so etwas dazwischen.« (Zbynek Brynych)
Irgendwo dazwischen, das ist vielleicht der beste Ort zum Filmemachen. 1968, kurz nachdem sowjetische Truppen in sein Land einmarschiert waren, traf der tschechische Regisseur Zbynek Brynych in München Herbert Reinecker und Helmut Ringelmann. Ein Jahr später drehte Brynych die erste von vier »Kommissar«-Folgen für das erfolgreiche Autoren/Produzenten-Duo, 1970/71 folgten drei weitere Episoden und vier Filme, die zum Besten, Aufregendsten, Wahnsinnigsten gehören, was jemals in Deutschland inszeniert worden ist. Brynych ließ Erik Ode tanzen, Fritz Wepper von minderjährigen Mädchen träumen, Nadja Tiller enthemmt vögeln und blutjunge Schauspielerinnen wie Susanne Uhlen, Helga Anders, Christiane Schröder und Eva Mattes schamlos mit der Kamera flirten. Er war ein kühner Experimentator, jederzeit sind bei Brynych atmosphärische Umschwünge, abrupte Übergänge, radikale Wechsel der Gefühlslagen, irre Schwenks und Kameraperspektiven möglich. Er war ein guter Beobachter mit großer Neugier für die unterschiedlichsten Menschen, für Wirte und Säufer, für Huren und Hausmeister, für die verkommenen Alten und die desillusionierten Jungen. Er war ein Grenzgänger, der mit der formalen Kühnheit der tschechischen Neuen Welle die sanft schlummernden Dämonen des Filmschaffens der Bundesrepublik entfesselte und Exzess und Freiheit in die Münchner Mietskasernen und Eckkneipen brachte. Und er war viel zu lange vergessen, deshalb freut sich Bizarre Cinema als Gast auf den Autor und Regisseur Rainer Knepperges, der maßgeblichen Anteil an der Wiederentdeckung von Brynychs Werk hat.

12.12. Mi 17.00 Uhr • WOLFGANG STAUDTE
Der Seewolf
19.00 Uhr • DaF
Die Thomaner
21.15 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Engel, die ihre Flügel verbrennen
Einführung: Volker Hummel
13.12. Do 14.30 Uhr • SENIORENKINO
Sissi
Filmbeginn: 15.00
17.00 Uhr • WOLFGANG STAUDTE
Der Seewolf
19.00 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Die Nacht von Lissabon
21.15 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Die Weibchen
14.12. Fr 16.30 Uhr • SOULFOOD TRAFFIC
Fellinis Schiff der Träume • DF
Mit Einführung
19.00 Uhr • FILMLAND POLEN – KOSMOPOLITEN
Between Two Fires • OmU
21.30 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
»Kommissar«-Nacht
15.12. Sa 17.00 Uhr • FILMLAND POLEN – KOSMOPOLITEN
Das bessere Leben • DF
19.00 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Oh Happy Day
Einführung: Rainer Knepperges
22.00 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Sitting Ducks • OF
16.12. So 14.30 Uhr • BIZARRE CINEMA
Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe • DF
Einführung: Mike Schimana
17.00 Uhr • FILMLAND POLEN
Frauen sind irgendwie anders • OmU
Zu Gast: Robert Wieckiewicz und Adam Woronowicz
20.30 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Engel, die ihre Flügel verbrennen
17.12. Mo 17.00 Uhr • BETTE DAVIS SPEZIAL
Alles über Eva • DF
19.30 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Die Nacht von Lissabon
21.30 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Oh Happy Day
18.12. Di 17.00 Uhr • PREMIEREN
Perret in Frankreich und Algerien
19.00 Uhr • BIZARRE CINEMA EXPANDED
Die Weibchen
21.15 Uhr • BETTE DAVIS SPEZIAL
Hush Hush, Sweet Charlotte • OF