Einfache Regel: Nur (im weiteren Sinne) Romane, deutschsprachig, ein Buch pro Autor:in, nur lebende Autor:innen, von denen ich noch nichts - beziehungsweise: noch keinen Roman - gelesen habe. Ansonsten Auswahl nach Lust und Laune, möglichst unspezifischen Interessen folgend.
Von super bis nicht mein Bier:
Marion Poschmann, Die Sonnenposition. Das einzige Buch, nach dessen ich gleich mehr davon will, mehr von Poschmann. Das einzige Buch, bei dem ich immer wieder den Drang verspüre, Sätze mehrmals, zweimal, dreimal zu lesen. Sprache als ein generatives Medium, nicht als Mittel zum Zweck (nicht nur: schreiben, weil man etwas zu sagen hat). Dabei ist das Buch nicht einmal ganz frei von einem der Hauptprobleme, das sich durch das Sample zieht: einem Überschuss an "thematischer" Recherche, der, nicht oder nicht genügend oder auf nicht hinreichend schlüssige Art literarisch integriert, in den Roman hineingestellt wird. Dennoch: Faszinierend ungreifbar, schon die personelle Konstellation, ein Dreieck des Begehrens, das sich einfach nicht schließen, noch nicht einmal wirklich öffnen will. Bei der Hauptfigur dachte ich immer wieder, auch wenn es "habituell" höchtens halb passt, an Thomas Schubert in Roter Himmel.
Marlene Streeruwitz, Die Schmerzmacherin. War on terror und Qualitätsfernsehen, vielleicht. Jedenfalls scheint die Zeitgenossenschaft, die das Buch ncht nur behauptet, sondern zweifellos hat, nicht auf die Sachdimension - globale Sicherheitsrhetorik und existentielle Schutzlosigkeit, einander bedingend, private military contractors, Körper als zu schmierende Maschinen, die irgendwann Leck schlagen - beschränkt zu sein, es geht auch um eine Idee von Erzählbarkeit. Wenn etwas weiterhilft, dann ganz sicher nicht selbstquälerische Dauerreflexion sondern eine nicht unbedingt logisch notwendige, aber affektiv eingängige Abfolge prägnanter, klar umrissener Situationen. Fast schon zu "filmisch" manchmal. Aber andererseits: das ist schon ein verdammt guter Film, den das Buch schiebt, Präzisionsarbeit im Gegenwartsstakkato. Auch davon gerne mehr, aber vielleicht nicht sofort.
Terézia Mora, Der einzige Mann auf dem Kontinent. Auch das kann Sprache (wollen): soziale Lebenswelt plastisch werden lassen, ein Inneres in einem Äußeren verankern, ein Äußeres in einem Inneren spiegeln, beides zusammen in eine sanfte, klebrige und doch unerbittliche Vorwärtsbewegung versetzen. Auf Freitag folgt Samstag, nicht umgekehrt, so ist das Leben. Schön vor allem: Die Versprachlichung von Zeit, die einem unter dem Regime des "Arbeitstags" unter den Fingern zerrinnt. Am Ende ein eher sanftes als disruptives aus-der-Fassung-geraten. Vielleicht alles in allem doch etwas wenig angesichts des - durchweg bewundernswerten - Aufwands, mit dem vorher eine literarische Alltagsmaschine in Gang gesetzt wurde
Kim de l'Horizon, Blutbuch. Ein tolles Schweiz-Buch. Weil die gesittete, gleichwohl auch skurrile, sich in ihrer Provinzialität einigelnde Schweiz (wie Gartenzwerge, die Heteronormativität spielen), schlicht ein toller Gegner ist für eine eruptive Aufwallung der prinzipielleren Art, gegen alles Normative, gefühlt Dominante - dabei die Normen und Dominanzen der eigenen peer group geflissentlich ausblendend, aber warum nicht, ab einem gewissen sprachlichen Fiebrigkeitsniveau, und l'Horizon erreicht es oft genug, braucht autofiktionale Erregung in der Tat keine Begründung außer sich selbst. Die "ideologiekritische" Selbstrecherche auf den Spuren von Eribon/Ernaux freilich, die das Buch schon auch sein will, taugt (mir) nicht viel, findet stets exakt das, was sie sucht. Wäre ja noch schöner, wenn am Ende zum Beispiel rauskäme: Kolonialrassismus Fehlanzeige, hatten wir zwar vermutet, aber sorry, diesmal nicht. Es muss schon immer die ganze Ladung sein, die ganze Leseliste, Grund- und Hauptstudium.
Ulrich Peltzer, Das bessere Leben. Ambitioniert wie nur was, montiert sich derwischartig in freier indirekter Rede durch die Gegenwart, in Satzungetümen, die im ständigen Nachgreifen befangen sind, immer noch ein Gedankenfetzen mehr, der untergebracht werden will, ein ständiges, zweifellos oft nicht nur sprachlich brilliantes Modifizieren und Anbauen, Um- und Einkreisen... nur: Um- und Einkreisen von was? Zumindest bei mir stellt sich immer wieder eine dezente Genervtheit ein angesichts des sehr dezidiert gesetzten und vielleicht doch ein bisschen totgeschriebenen (und -gefilmten; die Bellocchio-Passagen machen trotzdem sofort wieder Lust auf BUONGIORNO, NOTTE) Themas "linke Desillusionierung nach 68". Ein Generationentrauma, zweifellos, aber eines, dessen Bedeutung fürs große Ganze, auf das Peltzer nunmal aus ist (und warum nicht, in dieser Konsequenz ist er ziemlich allein damit im Sample), vielleicht doch ein bisschen überschätzt wird.
Hengameh Yaghoobifarah, Ministerium der Träume. Antifa-Thriller, Familiendrama (fast schon: -melodrama), migrantisch-queeres Coming of Age und Chronik der Baseballschlägerjahre: Viel auf einmal, die Bruchlinien sind nicht immer unsichtbar, auseinander zu fallen droht das Buch dennoch nie. Weil alles auf einem soliden Wirklichkeitseffekt aufsattelt, auf einer reichen Erzählwelt von variabler Dichte: Lübeck ist viel plastischer als Berlin, das auch erzählerisch ein Möglichkeitsraum bleibt. Bei sich selbst ist das Buch in kleinen, schlaglichtartigen Vignetten: Beschreibungen einzelner Situationen und Menschen, in die Subjektivität in Gestalt poetischer Sprachspiele hinein knallt. In den stärker programmatisch gedachten Passagen schlägt die - sonst gut nachvollziehbare - politische Rage manchmal in öde Menschensortiererei um, zum Beispiel in der doofen Elternabendszene. Aber andererseits: habe ich schon einmal eine gute Elternabendszene gelesen? Ist es überhaupt möglich, eine zu schreiben? Vermutlich ist die hier trotz allem noch eine der besseren.
Uwe Tellkamp, Der Eisvogel. Ich hatte keine Lust auf den Turm, also lieber das hier, rückblickend vermutlich eh Tellkamps Schlüsselwerk. Ein eigenartiges Buch, oft schon auch krude und anstrengend, das Jugend-in-Frankreich-Pastiche fast zu Beginn zum Beispiel: zum Fremdschämen grauenhaft; immer wieder faszinierend aber dank einer Vielstimmigkeit, die in einem gewissen Sinne geuin anmutet, das heißt: Die ideologischen und auch sprachlichen Tonlagen werden nicht an einem konstanten "Grundton" abgeglichen, sondern entfalten sich ungeschützt, das heißt auch: ohne Versöhnungsgarantie oder auch nur -perspektive. Eine weitere unaufgelöste Spannung: dass die Erzählung eines Ausstiegs aus der konsumseeligen Konsenskultur ausgerechnet die narrative Form einer postmodernen Groteske - fast wie Tarantino auf schlechten Drogen, teils - annimmt. Trotzdem immer noch keine Lust auf den Turm.
Helene Hegemann, Axolotl Roadkill. Ein wenig wie das Blutbuch in seinem Gestus der schrillen Grundsätzlichkeit, im unbedingten Willen zur gern auch ungeformten Drastik. Abbrucharbeit an der literarischen Tradition, ohne gleich schon ein Angebot zu machen, wie denn der Dialog wieder aufgenommen werden könnte. Fiktion einer Sprache, die nicht mehr anschlussfähig ist an das, was vor ihr kommt. Nur deutlich dreckiger, rougher, punkiger als bei l'Horizon, ohne selbstreflexives Sicherheitsnetz, garantiert ohne Privilegiencheck und Bourdieu-Lektüre. Hört sich natürlich erst einmal super an, macht streckenweise auch Spaß, auf Romanlänge gestreckt setzen freilich bald Ermüdungserscheinungen ein. Hegemanns Prosa drängt nicht zur Introspektion, sondern zur äußeren Handlung, und da bedürfte es, fürchte ich, doch einer etwas sorgfältigeren, "klassischeren" Ausgestaltung des Erzählmaterials.
Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Teils schon auch eine Wohltat: Ein Autor, der in erster Linie dramaturgisch, nicht konzeptionell denkt, der selbstbewusst "auf Effekt" schreibt und einen nicht mit den Befindlichkeiten eines literarischen Ichs behelligt. Solides Literaturhandwerk, und, soweit ich das überblicken kann (kenne mich nicht allzu gut aus mit Pabst), auch filmhistorisch einigermaßen sauber recherchiert. Freilich bleibt die Frage: wozu das alles? Konsequent als Groteske aufgefaltet hätte das funktionieren können, und auch der ein wenig nummernrevueartigen Struktur entsprochen; das Kapitel über den nationalsozialistischen Lesezirkel etwa ist umwerfend. Aber letztlich ist es Kehlmann aus irgendwelchen Gründen eben doch ein Anliegen, noch einmal die Geschichte der Korrumpierung des Künstlergenies durch "die Gegebenheiten" auszuerzählen. Da bin ich recht schnell raus, fürchte ich.
Maxim Biller, das verbotene Buch. Intensität ohne Objekt. Auch hier: wozu das alles? Beziehungsweise, auf den ersten Blick ist das wozu schon recht klar. Selbstverständlich möchte hier tief Empfundenes aufgearbeitet werden, und der breakdown der klassischen narrativen Form, das Ringen um Erzählbarkeit, das obsessive Umkreisen des nie fassbaren Ursprungs des Begehrens, das Labilwerden des begehrenden Subjekts... all das, was man bestenfalls von einer solchen Unternehmung erwarten darf, löst das Buch schon irgendwie ein. Aber auf arg lauwarme Art und Weise. Dass Biller das Objet der Begierde auch in der Erinnerung nicht scharf gestellt bekommt, führt nirgendwo hin außer zur nächsten vor sich hin plätschernden Anektdote oder tristen Sexszene. Die wenigen Ausflüchte in Richtung Fiktion und Spekulation (über Esras mögliche jüdische Identität zum Beispiel) sind noch das Beste dran. Über Legitimität oder Illegitimität möchte ich mir den Kopf beim Lesen nicht zerbrechen. Dem Reiz der Indiskretion kann und möchte auch ich mich jedenfalls nicht komplett entziehen. Die spoils of war fallen halt recht bescheiden aus, insgesamt.
Barbi Marković, Minihorror. Ab hier beginnt die Sektion: maybe I just don't get it (läuft untergründig von Anfang an mit, eh klar). Das hier zum Beispiel fühlt sich für mich an wie egale Kleinkunst in Literaturform. Wenn schon mit dem mittleren Realismus brechen, warum dann trotzdem schreiben über: IKEA-Besuche, gemeinsames Wohnungsaufräumen, Serienbingen? Selbst die besseren - lakonischeren, pointenlosen - Miniaturen setzen letztlich auf 1:1 Wiedererkennbarkeit. Und setzen einen kapitalismuskritischen Minimalkonsens voraus, der gedankliche Spielräume einengt. Literatur für Leute, die gerne einen Spiegel vorgehalten bekommen und auch über sich selbst lachen können.
Anke Stelling, Schäfchen ins Trockene. (Linker Bubble-)Konsens in Konsenssprache, quasi die Langfassung der in meinen Kreisen viel geteilten Stelling-Interviews, mit denen ich auch schon wenig anfangen konnte. Kurzum: I don't get it. Aber sowas von nicht in diesem Fall. Deshalb, und weil das natürlich überhaupt in keiner Weise ein böses Buch ist, spüre ich meinem Missbehagen lieber nicht weiter nach. Nicht verkneifen kann ich mir lediglich eine Bemerkung: Auch angesichts des gesamten Samples könnte man auf die Idee kommen: Vielleicht sollte die deutsche Gegenwartsliteratur weniger über soziale Klasse nachdenken.
Thomas Hettche, Pfaueninsel. Eine sauber recherchierte kulturgeschichtliche Miniatur, die der Wochenendbeilage jeder überregionalen Tageszeitung zu Ehren gereicht hätte, aber leider Romanform angenommen hat. Dass hier so wenig ausgedacht ist, lässt das dann doch Ausgedachte zum bloß Ausgedachten herabsinken. Eine gewisse architektonische Brillianz ist auch dem emanzipativ gemeinten fiktionalen Überschuss nicht abzusprechen; allein, bewundern lässt sich die erst im Nachhinein, die Lektüre selbst erleichtert sie keineswegs.
Bov Bjerg, Serpentinen. Noch eine Eribon-Paraphrase. Diesmal kommt "Rückkehr nach Reims" (muss ich wohl doch irgendwann lesen, hilft alles nichts) sogar in der Erzählwelt vor, freilich ohne Titelnennung. Was die Sache nicht besser macht, im Gegenteil: hier ist die Lektion so glasklar, dass es nicht einmal mehr einer Überschrift bedarf. Ansonsten viel transgenerationale Düsternis, in enervierend kurzen Sätzen fast immer, aber nicht stakkatobrilliant wie bei Streeruwitz, eher molassig vor sich hin schlackend. Die Frage ist dann nur noch: wie weit geht Bjerg. Ziemlich weit scheint es zuerst: Der fehlende Finger des cholerischen Stiefvaters, vom Erzähler selbst entfernt, führt später zum Tod der ... Mutter? Schwester? Schon vergessen. Vor der letzten Konsequenz drückt er sich dann allerdings doch, plötzlich, allzu spät, kommt die Fiktion zu ihrem Recht. Zum Buch hingezogen hatte mich, aus eigenbiografischen Gründen, das schwäbische Provinzsetting. Wiedererkannt habe ich die Sache mit dem alten Namen der Pfennigkracher, inklusive dem retrospektiven, eine bleibende Wunde schlagenden Erschrecken.
Saša Stanišić, Nach dem Fest. Es gäbe sicher gute Gründe, das Buch ans andere Ende des Samples zu sortieren. Fein gedrechselte Vielstimmigkeit, ein Mosaik im Fluss, eine unaufgeregt weit ausgreifende Tiefenbohrung, Lokalgeschichte als Weltgeschichte - kann man alles drin finden, ohne Probleme. Aber wenn man einmal falsch abbiegt, und ich fürchte, das ist bei mir schon auf den ersten Seiten passiert, dann entdeckt man nur noch repetitiven Provinzkitsch und eine Aneinanderreihung literarischer Taschenspielertricks. Nur ein Beispiel: Dass lediglich ein Nazi im Dorf lebt und der auch nur einmal vorkommt und zwar gemalt und schlafend - das ist schon allzu "gewitzt", und dass das Buch diese seine Idee dann auch noch als, eben, "gewitzt" (oder etwas in die Richtung) bezeichnet, das macht die Sache alles, aber sicher nicht besser. Völlig zurecht im Jahr 2019 in Hamburg als Abiturlektüre im Fach Deutsch ausgewählt.
Fortsetzung folgt (vielleicht).