Wednesday, July 11, 2012

Kaçıklık diploması, Tunç Başaran, 1998

Das Verrückten-Diplom bekommt Nur, die Hauptfigur, am Ende des Films - und damit ihre Freiheit. Gegen drei Männer hat sie sie erkämpfen müssen: gegen ihren spielerisch repressiven, politisch rechten Vater, gegen ihren träge repressiven, alkoholisierten, politisch linken Ehemann und gegen Kemal Atatürk, den Übervater der Nation. Mit letzterem ist am Ende eine Aussöhnung möglich, mit den beiden ersten nicht. Nicht einfach nur zeigt der genuin aufklärerische Film (inszeniert von einem Altmeister des türkischen Kinos) Kaçıklık diploması die Geisteskrankheit als angemessene Reaktion auf die Schizophrenie des Realen: Vor allem nimmt er ganz unbedingt Partei für die individuelle Psychose und gegen die kollektive.

Kaçıklık diploması ist ein ziemlich toller Film, der die Psychiatrie, in die Nur mehrmals mit eher unklaren Symptomen (so ungefähr: bipolare Störung cum Schizophrenie; eine nationale Psychose, die nicht zu trennen ist von einem sehr konkreten Unterdrückungszusammenhang) eingeliefert wird, zuerst als Hölle auf Erden einführt, von der aus der Film sich als Traumaerzählung in die Vergangenheit hinein ausbreitet; und der diese Anordnung dann so konsequent umstülpt, dass am Ende die Psychiatrie als der einzige Ort sichtbar wird, an dem Nur menschliche Bindungen aufrecht erhalten und vor allem einüben kann: mit einer wohlwollenden Ärztin, vor allem aber auch mit den anderen Patientinnen, die vom Film nicht ausgebeutet werden als "weitere Fallbeispiele" in einem psychosozialen Gruselkabinett, sondern an denen nur der individuelle - individuierende - Ausdruck von Leid interessiert.

Der Film ist demnächst im Videodrom entleihbar.

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