Saturday, September 26, 2015

Coeur de lilas, Anatole Litvak, 1932

Zu Beginn marschierende Soldaten, rhythmisch, leinwandfüllend. Dann ein Schwenk einen Abhang hinunter: Die Kinder machen es den Soldaten nach, auch sie marschieren, schon in Reih und Glied, aber noch nicht uniformiert und auch noch nicht ganz synchron. Einige haben einen energischen Armschwung drauf, andere nicht. Bald desintegriert die Truppe. Sie wollen Räuber und Gendarm spielen (alles gefilmt in Totalen, die an den Rändern offen sind, Ein- und Austritte zulassen). Wer will Räuber sein? Alle heben die Hände. Wer Gendarm? Niemand. Aber so kann man nunmal nicht Räuber und Gendarm spielen, es muss auch Polizisten geben, deshalb nehmen jetzt die, die schon zufällig (?) Spielzeuggewehre in der Hand haben, diese Rolle ein. Sie toben davon, hinein in die Stadt, die im Jahr 1932 noch ihnen gehört.

Das ist der Prolog, am Ende wird die Klammer geschlossen. Die "Räuber" sind aus dem Bild verschwunden, nur die Gendarmen sind übrig geblieben. Einer richtet einen anderen, der gerade hingefallen ist, auf, tröstet ihn, treibt ihn aber auch gleich wieder an: Die Räuber warten nicht, die Disziplin muss aufrecht erhalten werden, auf dass aus den kleinen spielerischen irgendwann große mörderische Soldaten werden.

Die Klammer um den Film ist bitte und knallhart, aber Coeur de lilas ist auch deshalb eine so wunderbare Entdeckung, weil das von ihr umklammerte sich zur Klammer ambivalent verhält. Der Film erzählt zwar von einem Mann, einem Gendarmen, der auf die Freiheit, die sich vor ihm öffnet, nicht nur verzichten muss, sondern der sich auch gezwungen sieht, gegen diese Freiheit maßregelnd vorzugehen; aber am Ende überwiegt Melancholie und Erinnerung, nicht Abrichtung und Weitermarschieren.

Wichtiger vielleicht noch: Der Akt der motivischen Schließung selbst bleibt diesem Film im Ganzen bis zu einem gewissen Grad äußerlich. Coeur de lilas beginnt nach dem Prolog zielstrebig, mit einem Leichenfund, einem Detektiv, einem schon fast chancenlos der falschen Anklage ausgesetzten Verdächtigen, dessen zweifelndem Verteidiger, einer Undercover-Aktion, die die wahren Schuldigen zum Vorschein bringen soll. Aber schon die Szene in der dies alles verhandelt wird, hat etwas Unbehauenes. Sie spielt auf einer Polizeiwache, in der sich alle gegenseitig anbrüllen, und sie beschreibt eine Stimmung, in der moralische Entrüstung mehr zählt als Argumente. Die Undercoveraktion im Halbweltmilieu, die ein schnurrbarttragender Polizist startet, ist dann eigentlich auch eher Experiment in moralischer Flexibilität.

Wie viele frühe Tonfilme findet (oder: sucht?) Coeur de lilas noch nicht die runde, organische Form, sondern besteht aus einer recht kleinen Anzahl längerer Szenen, die sich gemäß ihrer eigenen (eskalativen, aber nicht eruptiven) Logik entfalten. Zwischendurch gibt es wunderschöne Paris-Montagesequenzen, oder es wird gesungen. Und zwar Lieder, die ziemlich unglaubliche Obszönitäten in klassische Chanson-Melodien verpacken. Jean Gabin, der zwar wie John Wayne oder Clint Eastwood nie wirklich jung war, der aber in diesem Fall trotzdem vor Vitalität manchmal kaum noch laufen kann (und freilich auch dann ganz wunderbar aussieht, wenn er einfach nur an einem Türrahmen lehnt), singt in dem Bordell, in dem die längste und tollste Sequenz des Films spielt, über das "Mädchen mit den Gummibeinen" und dessen Talente im Bett. Eine Prostituierte übernimmt die nächste Strophe: Das Mädchen mit den Gummibeinen, das bin ich. Später auf einer Hochzeit singen sie ein Lied, das dem Bräutigam rät, doch nicht eifersüchtig zu sein, wenn seine Braut Blicke und vielleicht noch mehr von anderen Männern anzieht. Die Lieder aktivieren stets nicht nur den oder die Singenden, sondern den gesamten Raum.

Es gehört zu den unsinnigsten Mythen der Filmgeschichtsschreibung, dass der Tonfilm die Entwicklung des Kinos um Jahre zurückgeworfen habe. Schon die Idee einer kontinuierlichen Entwicklung "nach vorne" (was auch immer das sein soll) ist Blödsinn; vor allem aber glaube ich inzwischen, dass die Jahre zwischen 1929 und 1933 die vielleicht großartigsten der Filmgeschichte waren - weil das Kino in dieser Phase eine bestimmte Art der Entformung vollzieht. Eine Entformung, die nicht mehr (oder auch: nicht wieder) tatsächlich formlos ist, sondern die eher daraus resultiert, dass der Ton noch nicht so recht zur längst vorhandenen Überfülle an Formen passt. Bald darauf verhärtet sich zwar nicht alles, überall, aber vieles, an vielen Orten... und vor allem in Europa. 

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