Sunday, November 30, 2008

alles neu...

...und in der Tat viel besser als zuvor. Das alte Design war mir eigentlich schon nach den ersten zwei Wochen auf die Nerven gegangen.
Rechts gibt es jetzt nach dem Vorbild des filmtagebuchs eine Liste der zuletzt gesehenen Filme, mitsamt akribisch errechneter Punktwertung.

Saturday, November 29, 2008

Coeur fidèle, Jean Epstein, 1923

Marie (gespielt von Gina Manès, der man inden Großaufnahmen einige ihrer 30 Lebensjahre zuviel ansieht) ist ein Waisenkind und arbeitet in einer Kneipe. Ihr Blick aus dem Fenster sucht, wie so oft im französischen Stummfilm, den Hafen und das Meer. Dort, an der freien Luft, treibt sich Jean herum, ihr Liebster. Doch drinnen, in der Kneipe, steht Paul, ein brutaler Schläger, der sich Marie als seine zukünftige Frau bereits ausgesucht hat.
Zunächst gewährt Epstein den Bildern viele Freiheiten. Die erste Filmhälfte spielt fast ausschließlich draußen und meist am Meer. Der Blick geht in Richtung Horizint, der Film überblendet Figuren und Wellen. Die Liebenden müssen nicht am selben Ort sein, um sich zu sehen. Das erledigt der Film für sie. Als Jean Marie sucht, genügt ein Blick in Richtung Stadt, um sie Kilometer entfernt im Vergnügungspark ausfindig zu machen.
Hier, im Vergnügungspark, entwickelt der Film seine zurecht berühmteste Szene. In rhythmischer und rhythmisierender Montage verbindet Epstein die Verfolgungsjagden und Blickwechsel des Plots mit mechanisierten Vergnügungen mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten, deren Eigendynamik jeder Funktionalität (und besonders der für die Spielfilmhandlung) entgegen steht.
Ganz anders die zweite Hälfte, die im Grunde eine Wiederholung der ersten ist: Wieder möchte Jean Marie vor Paul retten. Diese zweite Hälfte sperrt die Figuren und die Geschichte ein, wo sie davor frei waren: architektonisch wie filmsprachlich. Fast alle Szenen spielen in engen Räumen und werden mithilfe analytischer Montage aufgelöst. Auch in sozialer Hinsicht weicht das unspezifisch romantisierende Hafensetting dem kitchen sink. Paul wird vom Anarchoproll zum tumben Schläger, Marie vom naiven Lustobjekt zur besorgten Mutter und zu allem Überfluss taucht auch noch eine behinderte Nachbarin auf (gespielt von Epsteins Schwester Marie), die am Ende auf nicht unbedingt besonders elegante Art und Weise zur Auflösung aller narrativen Probleme missbraucht wird (u.a. wohin mit dem Kind von Marie und Paul).
Die Freiheit des ersten Abschnitts taucht nur noch als Erinnerung auf, wird korrekt psychologisch und narrativ integriert. Was es wohl zu bedeuten hat, dass die erste, avantgardistische Runde an Paul geht und die zweite, konventionelle an Jean?

Ein Teil der filmtheoretischen Schriften Epsteins ist seit ein paar Monaten in deutscher Übersetzung greifbar. Hier mehr.

Tuesday, November 25, 2008

Filmkritik im Internet - Versuch einer Positionsbestimmung

Im Nachhall einer Tagung am vergangenen Donnerstag im Berliner Filmhaus zur Filmkritik im Internet wird online - neben der leidigen Geldfrage - vor allem eine Opposition diskutiert, die ungefähr folgendermaßen aussieht: Auf der einen Seite stehen - hauptsächlich - Blogger, die persönlich / privatistisch und subjektiv über obskure Filme schreiben, auf der anderen - hauptsächlich - Onlinemagazine, die auf journalistischen Diskursregeln beharren, objektive Kriterien zu etablieren versuchen und ihre Themenwahl am Publikum und damit gleichzeitig am Markt orientieren. Hier findet zur Zeit eine exemplarische Diskussion statt.
Ich selber bin, wie viele andere, auf beiden Seiten des Grabens aktiv. Hier soll es nur um die erste der beiden Scheinalternativen gehen. "Dirty Laundry" ist ein Blog, und zwar eines, auf das obige Beschreibung, ob als Vorwurf oder nicht, ganz besonders gut zu passen scheint. Mein Verständnis von dem, was ich hier machen (oder eher: machen möchte), hat mit diesen Beschreibungen sehr wenig zu tun. Vor allem gegen zwei Begriffe möchte ich mich wehren: Gegen den des Persönlichen und den der Obskurität.

Nicht persönlich

Eine Opposition, auf die ich mich nicht erst einlassen möchte, ist die zwischen Subjektivität und Objektivität. Selbst wenn Objektivität in der Praxis der Filmkritik nicht, wie Ekkehard Knörer es völlig richtig formuliert, automatisch die Objektivität des Marktes wäre, wäre sie unter den Bedingungen des Internets zurückzuweisen. Manch einer mag argumentieren, dass "objektive" Verfahren wie Kanonbildung und ähnliche Hierarchisierungen historisch zumindest für die Textproduktion und den Diskursfluss produktiv waren. Im Internet aber hat jede Filmliste eine inhärente Tendenz zur Expansion ins Unendliche und jeder Film hat, genau wie jeder Gedanke zu einem Film, zunächst dieselben Startbedingungen. Jeder Film hat - soweit dort gelistet - genau eine Seite auf imdb, nicht mehr und nicht weniger. Objektive Filmkritik im Internet wird angesichts der wiki-Struktur des gesamten Netzes zum Anachronismus.
Mir scheint jedoch der subjektive Pol, an dem sich Filmkritik im Internet ausschließlich abspielen kann, unterdefiniert zu sein. Der Widerspruch, der mich interessiert, ist nicht der zwischen subjektiv und objektiv, sondern der zwischen idiosynkratisch und persönlich.
"Dirty Laundry" ist kein persönliches Blog. Wer meine Texte liest, weiß, was für Filme ich sehe, welche mir gefallen und welche nicht, manchmal weiß er/sie auch, was ich lese und allerhöchstens noch, was ich über bestimmte politische Fragen denke. Sicherlich nichts wird er/sie hier über meine Persönlichkeit lernen.
Im Internet kann man - abseits vom Geschäft - auf zwei Arten aktiv werden: idiosynkratisch oder persönlich. Persönlich sind von ihrem Wesen her Webcams, idiosynkratisch Weblogs (was nicht heißen soll, dass es keine idiosynkratischen Weblogs geben kann, "persönliche" Weblogs im Sinne von Internettagebüchern gibt es jede Menge). Webcams haben mich nie interessiert (ebensowenig wie Internettagebücher, Facebook und dieser ganze andere Blödsinn).
In meinem Blog schreibe ich nicht persönlich, sondern idiosynkratisch. Zwar beziehe ich mich, wenn ich über einen Film schreibe, auf eine konkrete sinnliche Erfahrung, doch in wiefern diese sich auf Kategorien des Persönlichen bezieht, das interessiert mich am wenigsten, wenn ich über sie schreibe. Die Idiosynkrasien meines Interesses an Film lösen sich von mir als Person ab und manifestieren sich als unpersönliche, idiosynkratische Schrift im Netz (insofern möchte ich auch dem Titel des zweiten Podiums der Tagung widersprechen: Das Wort ist, wenn es einem Gedanken dient, der es Wert ist, gedacht zu werden, durchaus genug). Lange Zeit habe ich hier sogar anonym gebloggt.
Das Internet ermöglicht keine Transzendierung / Transformation des Persönlichen, aber es ermöglicht eine Vertiefung, eine Emanzipation und - in Maßen - eine Autonomisierung von Idiosynkrasien. Meine Netzpersönlichkeit ist eines gerade nicht mehr: persönlich.
Gerade weil sich im Netz die Idiosynkrasien so leicht vom Persönlichen lösen, taugen sie zu mehr als zu bloßen Nischendiskursen. Zwar sind Idiosynkrasien von Natur aus eher tief als breit, aber im Netz erweitern sie sich, sind anschlussfähig für Querverbindungen aller Art.
(Noch etwas holprig alles, da muss ich irgendwann einen neuen Anlauf versuchen)

Nicht obskur

Leichter zurückweisen könnte ich den Vorwurf, ich schreibe hier über obskure Filme. Das stimmt schlicht und einfach nicht. Die wenigsten der Filme, die hier vorkommen sind obskur, es sei denn aus einer strikten Multiplexperspektive. Als Beispiele meine letzten Einträge. Pineapple Express geschenkt, der Text sollte eigentlich nicht hier veröffentlicht werden. Doch weiter zurück: Las doce sillas ist eines der Schlüsselwerke des kubanischen Kinos und in Deutschland auf DVD erhältlich (sogar wahlweise in der synchronisierten DEFA-Fassung); Lino Brocka ist der wichtigste Regisseur der philippinischen Filmgeschichte, Insiang ist vielleicht sein Meisterwerk und lief seinerzeit in Cannes im Wettbewerb. Eben dort feierte dieses Jahr Lucrecia Martels wundervoller La mujer sin cabeza Premiere - und wird in der englischsprachigen Blogosphäre seither intensiv diskutiert. Lav Diaz wird seit Jahren weltweit gefeiert und ist inzwischen Stammgast in Venedig. Und so weiter.
Ich schreibe hier äußerst selten über Filme, die mit gutem Recht als obskur bezeichnet werden könnten. Es gibt durchaus Blogs und Magazine, die das tun: Mitternachtskino, Esotica etc. Auch solche Projekte feiern nicht ihr Expertenwissen als Selbstzweck; Ihnen geht es gerade darum, die entsprechenden Filme der unverdienten Obskurität zu entreißen.
Ich schreibe hier hauptsächlich über Filme, die früher einmal auch in Deutschland durchaus konsens-, wenn nicht sogar kanonfähig waren / gewesen wären. (Dass meine Texte zu kryptisch sind, hat damit nichts zu tun, das ist zu Teilen meiner Nachlässigkeit geschuldet, die ich hoffentlich demnächst besser in den Griff bekomme; in diesem Text leider wieder nicht so recht.) Wenn die Auswahl der Filme, über die ich hier schreibe, obskur erscheint, so liegt das nicht an der Auswahl, sondern daran, dass hierzulande der Diskurs fehlt, in den ich sie liebend gerne einbetten würde.

Saturday, November 22, 2008

Ananas Express / Pineapple Express, David Gordon Green, 2008

Dale Denton (Seth Rogen) und Saul Silver (James Franco) wollen Red (Danny McBride) zum sprechen bringen. Der Drogenzwischenhändler sitzt vor ihnen, auf denkbar unökonomische Weise mit circa 30 Meter Klebeband an seinen Stuhl gefesselt. Doch Red schweigt beharrlich. Schließlich hält Dale ihm eine Kaktus-Topfpflanze vors Gesicht. Ob diese Mikrophonersatz sein soll oder Folterdrohung, weiß keiner der Beteiligten, am allerwenigsten Dale selbst.

Komödien funktionieren im Kleinen, in der einzelnen Pointe, im komischen Detail oder gar nicht. Ananas Express funktioniert wegen Szenen wie der mit dem zweckentfremdeten Kaktus. Die Pointen sind knapp neben dem banal Alltäglichen platziert, wirken fast wie Improvisationen, stehen aber mit Sicherheit genau so im Drehbuch. Die vermeintliche Leichtigkeit ist, ebenso wie die aus ihr resultierende Lebensnähe in Wirklichkeit gleichzeitig perfektes Handwerk und - ja - große Kunst.

Dale und Saul wollen Red zum Sprechen bringen weil sie in der Klemme stecken. Dale ist Gerichtszusteller und ständig high. Den Joint in der einen, die zuzustellende Vorladung in der anderen Hand, beobachtet er eines abends einen Mord. Auf der Flucht vor den Killern, die den unliebsamen Zeugen aus dem Weg räumen möchten, verliert er den Joint. Diesen wiederum hat er bei Saul erstanden. Der ist sein Dealer und der einzige, der das Supergras „Ananas Express“ in Dales Heimatstadt verkauft. Und ausgerechnet der Mörder ist der Großhändler.

Urplötzlich werden Dale und Saul mit der gesamten Ökonomie des Drogenhandels konfrontiert. Dabei fühlen sich beide bereits am verhältnismäßig isolierten unteren Ende derselben nicht wohl. Dale versucht, den Kontakt zu Saul auf ein Minimum zu beschränken, während dieser sich selbst einredet, dass das Dealen nur eine Übergangslösung darstellt zum Traumjob Landschaftsarchitekt.

Zwischen Marihuannaschwaden und Kugelhagel lösen sich die Hierarchien auf und dadurch auch die Berührungsängste. Sobald ihre Beziehung zueinander nicht mehr vom Warenaustausch determiniert ist, werden die ehemaligen Geschäftspartner zu Buddys. Und als solche schlagen sich Dale und Saul erfolgreich durch Autoverfolgungsjagden, Schießereien und Liebesgeschichten aller Art. Dass mindestens einer der beiden immer etwas zu rauchen dabei hat, macht die Sache nicht einfacher. Das Finale ist dann reiner Comic, irgendwo zwischen Tarantino, John Woos Hard Boiled und Star Wars.

Judd Apatow hat als Produzent, bisweilen auch als Drehbuchautor und Regisseur bereits einige Komödiensubgenres einer sanften Frischzellenkur unterzogen, den High-School-Film beispielsweise (Superbad), die Romkom (Beim ersten Mal) oder die Genreparodie (Ricky Bobby – König der Rennfahrer). Mit Ananas Express wendet er sich dem Kifferfilm zu, der in den Siebziger und Achtziger Jahren mit den Cheech-&-Chong-Streifen seine größten Erfolge feierte. Wie andere Apatow-Produktionen auch ist Ananas Express keine Negation bewährter Formen, sondern der Versuch, diese mit ein wenig lebensechteren Figuren und Schauplätzen zu konfrontieren.

Ananas Express besticht primär durch ein Fülle liebevoll gezeichneter Charaktere auch jenseits der beiden Hauptfiguren und ihres unmittelbaren Umfelds. Selbst der Bösewicht, verkörpert von Gary Cole, der aus der Polit-Fernsehserie The West Wing als unglücklich agierender Vizepräsidenten „Bingo“ Bob Russell bekannt ist und hier eine wunderbare Christopher-Walken-Imitation abliefert, ist mehr als nur eine Schießbudenfigur.


Ananas Express ist ein Film aus der Mitte des Mainstreamkinos, ein Film, dessen Qualitäten nicht im Singulären, nicht in der originellen Vision eines Künstlersubjekts ihren Ursprung haben, sondern im über Jahre akkumulierten kollektiven Wissen der Genrefimproduktion. Dennoch überrascht an dieser Produktion ein Name, und zwar der des Regisseurs. David Gordon Green galt nach seinem phänomenalen Erstling George Washington aus dem Jahr 2000 als neues Wunderkind des amerikanischen Kinos. Das Debüt des damals 24-jährigen entwarf in glasklaren, leuchtenden Bildern die von einem traumartigem Glanz überfärbte Lebenswelt einer Gruppe vorwiegend schwarzer Jugendlicher in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel des amerikanischen Südens. Seither gelang dem Regisseur freilich nicht mehr viel. Bereits der Nachfolger All the Real Girls versandete im banalen Befindlichkeitskino und Undertow, ein von Südstaatenklischees aller Art durchsetztes Quasiremake des Klassikers Night of the Hunter, war schlicht und einfach unerträglich. Auch wenn er kaum als Auteur des Films anzusehen ist, stellt Ananas Express für Green, trotz solcher Fehlschläge ohne Zweifel einer der talentiertesten amerikanischen Regisseure seiner Generation, keine schlechte Wahl dar für einen Karriereneustart jenseits der kreativen Wüste des Sundance-Indiekinos.

Wednesday, November 19, 2008

Las doce sillas, Tomas Gutierrez Alea, 1962

Eine Zeichentrickdame möchte Perlen und Gebiss im Safe verstauen, doch der ist schon voll. Dann fällt ihr Blick auf eine Gruppe von zwölf Stühlen. Einer schiebt sich in den Vordergrund, wird neue Heimat der Diamanten und ist hinfort mehr als nur ein Stuhl. Oder vielleicht auch weniger, denn sich einfach auf ihn draufsetzen, das geht jetzt nicht mehr. Zumindest wenn man weiß, was im Bezug versteckt ist.
Wahrscheinlich schon an die 20 Verfilmungen hat Ilya Ilf und Jevgeni Petrovs Roman hinter sich (nicht nur Mel Brooks hat sich an dem Stoff versucht, sondern - Oh Gott! - auch Ulrike Ottinger). Gesehen habe ich keine davon, auch das Buch kenne ich nicht. Aleas Adaption zumindest ist großartig.
Das Intro ist animiert und sicherlich auch ein Stilzitat (in der Geschichte des Animationsfilms kenne ich mich kaum aus, da vage ich keine Vermutung worauf diese ebenso plumpe wie plump gezeichnete Figur sich bezieht), später dann wildert Alea hemmunglos in der Filmgeschichte, insbesodere in der Stummfilmästhetik. Der eigentliche Reiz des Films aber liegt nicht im souveränen Umgang mit visuellen Klischees und Filmgeschichte, ja überhaupt nicht im Bereich des Formalästhetischen. Da ist Aleas Film nur höchst solide.
Mehr als ein gut geöltes Stück Neo-Slapstick wird Las doce sillas, wenn man den Film in seinem historisch-ideengeschichtlichen Kontext sieht. Denn Las doce sillas ist in erster Linie eine Allegorie auf die kubanische Revolution, die sich in zweiter Linie dann langsam aber sicher in eine Allegorie auf beziehungsweise in eine Bearbeitung des marxschen Fetischbegriffs verwandelt. Und bleibt dabei immer Komödie.
Zunächst sind die Stühle historisch und sie bleiben es auch bis zum Ende. Verteilt in der Bevölkerung sind sie keine Statussymbole mehr, sondern werden reduziert auf ihren Gebrauchswert für die postrevolutionären Individuen. Und der ist gering, denn sie taugen nicht viel. Für den alten Aristokraten, der von den Diamanten weiß, sieht alles ganz anders aus. Der Wert der Stühle steigt für ihn in einer Gesellschaft, die nicht mehr um den Tauschwert herum organisiert ist, ins Unermessliche und ist nicht mehr kategorlial zu erfassen. Sein Versuch, die Stühle auf einer Auktion zurück zu kaufen, scheitert denn auch kläglich.
Las doce sillas materialisiert und isoliert den Warenfetisch als groteskes, absurdes Artefakt und versucht ihn zumindest für die Dauer eines Filmes zu überwinden. Der Warenfetisch veralbert, mit Messern zerschlissen und zu guter Letzt sogar von einem Löwen aufgefressen.
Was der Film sonst noch alles macht (und er macht viel), werde ich vor einer zweiten Sichtung nicht richtig zu fassen bekommen, deshalb möchte ich es hier gar nicht erst versuchen. Besonders interessant erscheint mir die Abwesenheit eines ideologisch/erkenntnistheoretischen Zentrums, das die Allegorie und das politische Traktat eindeutig perspektivieren würde. Die Hauptfigur ist zwar durchaus klassisch Identifikationsfigur und durchläuft einen Bildungsroman, eine höhere Form von Klassenbewusstsein kommt dabei am Ende aber nicht heraus. Statt dessen spielt sie mit einigen Kindern Baseball.

Wednesday, November 12, 2008

Insiang, Lino Brocka, 1976

Ein furioses Melodram, das sich konsequent seiner Belegschaft, wie auch seiner anfangs noch wild wuchernden Parallelhandlungen entledigt. Die junge Insiang ist zu Beginn von Menschentrauben umgeben, am Ende wird sie ganz alleine in einer Totalen über die menschenleere Plaza vor dem Gefängnis wandern. Zwei Familienmodelle werden nacheinander ausprobiert und konsequent verworfen. Zunächst die integrative Großfamilie: Brüder, Schwestern, Tanten und Großeltern, alle unter einem Dach, in jeder Einstellung mindestens fünf Personen. Statt Solidarität herrschen Betrug und Misstrauen. Irgendwann wirft die Mutter Tonia alle raus bis auf Insiang, ihre Tochter. Das zweite Familienmodell ist die Perversion der Kernfamilie. Tonia holt ihren jungen, brutalen Lover Dado ins Haus. Der hat bereits vorher ein Auge auf Insiang geworfen. Noch weitaus radikaler als die Großfamilie wird der Film die Kernfamilie zerstören. Das Mehr an Raum innerhalb der Wohnung nach dem Auszug der Verwandschaft schafft keinen freien Bewegungsraum, sondern ist ganz im Gegenteil Schauplatz für beklemmende Blickwechsel und verwandelt sich nach und nach in ein psychisches Gefängnis für seine Bewohner, in einen durch und durch pervertierten Raum.
Insiang verwirft nicht nur Familien-, sondern auch heterosexuelle Beziehungsmodelle. Insiang ist von drei Männern umgeben. Einer wird am Ende tot sein, ein zweiter wird aufs übelste zusammen geschlagen und der dritte, ihr idealistischer, schüchterner Bewunderer, der sie in einem "echten" (weil unehrlichen) Liebesmelo am Ende bekommen hätte, wird freundlich, aber bestimmt in die Wüste geschickt. Nicht in dieser Welt.
Insiang strebt nicht danach, aus den Abhängigkeitsverhältnissen in eine transzendentale romantische Liebesbeziehung zu entkommen; Sie möchte die Abhängigkeitsverhältnisse subvertieren und ihre Hierarchien auf den Kopf stellen. Aber auch das funktioniert nicht, kann nicht funktionieren. Ihre einzige Waffe, der Sex, hat nur einen beschränkten Marktwert und zieht im Zweifelsfall gegen Geld oder rohe Gewalt den Kürzeren. Sex muss Umwege gehen und resultiert weniger im eigenen Glück denn im unglück der anderen. Am Anfang steht sie ganz unten in der Hierarchie. Da niemand sie nach oben durchlassen möchte, entfernt sie einen nach dem anderen über sich, bis sie an der Spitze steht. Und konsequenterweise völlig alleine in einer Totalen über die Plaza vor dem Gefängnis wandert.

Saturday, November 08, 2008

La mujer sin cabeza / The Headless Woman, Lucrecia Martel, 2008

Kinder spielen in einer Art Abwasserkanal. Schnitt auf Veronica, eine Zahnärztin mittleren Alters mit blondierten Haaren, die in ihr Auto steigt und losfährt. Die Kamera beobachtet mal sie, mal die Landschaft hinter der Windschutzscheibe, dann, als sie am Abwasserkanal vorbeifährt passiert irgendetwas. Was genau, bleibt unsichtbar, es dringt in den Film ein als Störgeräusch, als das UKO Barbara Flückigers. Freilich ist das UKO hier gleichzeitig unidentifizierbar und präzise artikuliert. Genauer: die Unidentifizierbarkeit ist präzise artikuliert.
Genau das ist es, was La mujer sin cabeza zu einem großartigen Film macht: Die präzise Artikulation des Unpräzisen, der Verwirrung, des Chaos, eines aus dem Takt geratenden Lebens.
Der Vorgänger La nina santa war mir etwas zu gewollt kryptisch, geprägt von bloßen Gesten der Verweigerung: Keine Exposition, alle Sinnzusammenhänge erst im Nachhinein und vor allem mühsam konstruierbar, die Einstellungen absichtlich defizitär unter dem Aspekt des Narrativs. Nicht so recht konnte ich erkennen, was Martel damit will und ob da mehr dahinter steckt als die altmodische Attacke aufs Kinoerzählen.
Anders im neuen Film: Was auf der manifesten Ebene passiert (ohnehin nicht viel), ist stets glasklar, im Grunde geht es die ganze Zeit um die Natur des UKOs vom Filmbeginn. Veronicas Leben ist aus der Spur geraten, sie steht neben sich, immer neue Störgeräusche treten in ihr Leben und irgendwann beginnt sie das zu befürchten, was der Schnitt zu Filmbeginn präzise artikuliert im Ungewissen gelassen hat. Am Ende des Films gibt es dann einen qualitativen Sprung, vielleicht sogar einen Lernprozess, um den soll es hier aber nicht gehen.
In La mujer sin cabeza ist die Verwirrung zunächst eine der Protagonistin. Die Störungen, die "falschen" Anschlüsse, die dezentrierten Einstellungen, die den Hintergrund, die vermeintliche Nebensächlichkeit gegenüber dem Vordergrund und der Hauptfigur privilegieren, alles das ist streng genommen psychologisch motiviert. Nur dass aus dieser psychologischen Motivierung nicht folgt, dass Veronica auch nur irgendwie zu einer Identifikationsfigur wird. Sie dient via ihrer gestörten Wahrnehmung lediglich als Katalysator. Entscheidend ist nicht sie selbst, sondern der Blick, den der Film durch sie auf die Welt um sie herum gewinnt.
Keine Mühe macht es, die vielen Menschen um Veronica herum einzuordnen. Es gibt den Ehemann, den Liebhaber, die Kinder, die Nachbarn und vor allem jede Menge Dienstboten. Auch wenn der Film eine Figur nicht sofort eindeutig identifiziert, präzisiert er sie zumindest in Bezug auf ihre dem Film wichtigste Eigenschaft: den sozialen Status.
La mujer sin cabeza ist ein Film über das Personal, über die Dienstboten, über Krankenschwestern und Handwerker. Die bewegen sich um die verwirrte Veronica und managen ihr Leben, oft sind sechs oder sieben in einer einzelnen Einstellung versammelt, manchmal, aber nicht immer, im Hintergrund, der zum Vordergrund wird weil im Vordergrund Veronica steht, die mehr und mehr zu einer Leerstelle wird. Ein Leben führt Veronica, von dem sie selbst mehr und mehr abwesend zu sein scheint. Die Hierarchien sind nur scheinbar flach, dass Veronica überhaupt diesen Film durchsteht, verdankt sie der Tatsache dass die Dienstboten ihre Passivität durch unaufgeregte Zielgerichtetheit ausgleichen. Sie führen mit Veronica Gespräche, an denen Veronica eigentlich gar nicht beteiligt zu sein scheint und dies auch gar nicht sein muss: Sie antwortet nicht, aber der richtige Handgriff wird dennoch ausgeführt.
Die spröde, irritierende Filmsprache ist in La mujer sin cabeza mehr als nur vage Äquivalenz eines bourgeoisen Lebensstils. Sie ist die präzise filmästhetische Artikulation einer Klassendifferenz. Veronica kann sich die Abwesenheit vom eigenen Leben deshalb leisten (und der Film sich seine Ästhetik), weil neben ihr, am Bildrand und im Hintergrund, die Dienstboten darauf achten, dass alles seinen korrekten Gang auch dann nimmt, wenn die Anschlüsse nicht mehr stimmen und der filmische Raum diskontinuierlich wird.

In passing: DVDs

The Go Master, Tian Zhuangzhuang, 2006

THE GO MASTER erzählt die Lebensgeschichte des legendären Chinesischen Go-Spielers Wu Quingyuan (aka Go Seigen). Der in China geborene Wu verbrachte den Großteil seines Lebens in Japan und gilt als der herausragende Go-Spieler des letzten Jahrhunderts. Eingebettet ist seine Biografie in die historischen Auseinandersetzungen zwischen China und Japan vor allem während des Pazifikkriegs, deren Erbe noch längst nicht vollständig aufgearbeitet ist: Auch heute noch ist kein Land in China so verhasst wie der benachbarte Inselstaat. - Tian Zhuangzhuang inszeniert dieses Biopic im Stil seines Meisterwerkes SPRINGTIME IN A SMALL TOWN. Exakt komponierte Totalen, kaum Großaufnahmen, flüssige, langsame Kamerabewegungen und spartanische Ausstattung bestimmen den Look des Films. Gut aussehen tut das alles durchaus, auch wenn die Brillanz des Vorgängers bei weitem nicht erreicht wird. Das eigentliche Problem des Films ist aber, dass das elegante Produktionsdesign die Tatsache nicht verbergen kann, dass Tian Zhuangzhuang, eigentlich einer der herausragenden chinesischen Gegenwartsregisseure, hier schlicht und einfach nichts zu sagen hat. THE GO MASTER ist ein hohler Film, der gerne, wie es Tian etwa mit THE BLUE KITE noch geglückt ist, in der Spiegelung der großen Zeitgeschichte in der kleinen, persönlichen Biografie, die Geschichte als Ganzes in den Blick bekommen würde. Ein paar starke Momente entwickelt der Film durchaus, insbesondere in der Konfrontation Wus, der zunächst äußerst angetan ist von seinem Gastland, mit dem japanischen Nationalismus. Wenn aber Wu melancholisch in den karg eingerichteten japanischen Räumen herumsitzt, ins Leere starrt und die Go-Steine (über das Spiel lernt man rein gar nichts in dem Film, was nicht schlimm wäre, wenn der Film sonst genug zu bieten hätte) auf das adrett unscharfe Spielfeld setzt, während um ihn herum die Welt aus den Fugen gerät, so steckt da nicht viel mehr dahinter als ein wenig buddhistisch verbrämte regressive Mystik. Muss nicht sein.

Demnächst im Videodrom

The Blue Kite, Tian Zhuangzhuang, 1993

Tian Zhuangzhuangs THE BLUE KITE ist teilweise companion piece, teilweise aber auch Gegenentwurf avant la lettre zu Zhang Yimous ein Jahr später entstandenem TO LIVE. Beide Filme entwerfen episch angelegte Historienpanoramen, die in den ersten Jahrzehnten des kommunistischen Chinas situiert sind. THE BLUE KITE wählt Tietou als Fokus, einen Jungen, der in den frühen 50er Jahren zur Welt kommt. Sein Vater stirbt alsbald in einem Arbeitslager der neuen Machthaber und Tietou lernt nacheinander zwei Ersatzväter kennen, denen es letzten Endes nicht viel besser ergehen wird. Mit ihm leidet seine Mutter, die Lehrerin Chen Shujuan. - Ganz anders als das kraftvolle, tränenselige Hochglanz-Epos TO LIVE versucht sich THE BLUE KITE nicht an der bedingungslosen Melodramatisierung von Geschichte, sondern wählt einen zurückhaltendere, fast lakonische Stil. In langen Einstellungen beobachtet der Film die Anstrengungen seiner Protagonisten, in den Wirren der postrevolutionären Ordnung festen Boden unter den Füßen zu behalten. THE BLUE KITE ist ein komplexer Film, der auf eindimensionale Schuldzuweisungen verzichtet. So macht Tians Werk deutlich, dass die frühen Reformen der Maoisten im ländlichen China nicht nur enthusiastisch aufgenommen wurden, sondern auch reale Erfolge vorweisen konnten. Um so härter trifft die zunehmende ideologische Verhärtung und Verpolizeilichung des Systems die Bauern, die nach jahrhundertelanger Unterdrückung große Hoffnungen in ihre Befreier investiert hatten. THE BLUE KITE ist ein Historienfilm, wie man ihn leider viel zu selten sieht: inhaltlich wie ästhetisch komplex und dennoch nie prätentiös, gleichzeitig emotional und diskursiv, informativ und streitbar aber nicht manipulativ.

Demnächst im Videodrom, schon jetzt in Filmkunst

Monday, November 03, 2008

Upheaval, Lav Diaz, 2008

Upheaval ist eine gefilmte Tanzperformance (der erste Teil einer geplanten 15-teiligen installativen Arbeit, wenn ich das richtig mitbekommen habe). Das Genre "gefilmte Tanzperformance" hat mich bislang noch nie um den Schlaf gebracht und wird es auch in Zukunft nicht tun. Aber Upheaval ist eine gefilmte Tanzperformance der Lav-Diaz-Art. Eine Tanzperformance, in der die meiste Zeit gar nichts performt wird. Oder falls doch, dann ist dieses Performen nicht immer unterscheidbar vom ganz normalen Straßenleben einer philippinischen Großstadt.
Die statische positioniert sich am Rand eines Flusses. Das Ufer wird im unaufdringlich symmetrisch gegliederten Bildausschnitt zur Bühne, die urbane Umgebung zum Publikum. Rechts der Fluss, links eine Straße, im Hintergrund Hochhäuser.
Im Vordergrund sitzt zu Beginn eine Frau im weißen Kleid, im Mittelgrund sitzt eine andere auf einem nicht näher definierbaren Gestell und liest. Die Frau im Vordergrund beginnt zu tanzen, erst dreht sie sich, dann windet sie sich, wirft sich hin und her, das wirkt nicht direkt ekstatisch, aber doch ist das ein Tanz, der nicht organisch aus den Alltagsbewegungen entspringt.
Nicht allzu lange tanzt sie so. Irgendwann verschwindet sie einfach aus dem Bild. Im MIttelgrund sitzt immer noch die lesende Frau. Viel mehr als lesen wird sie während der 45 Minuten, die Upheaval andauert, nicht machen. Der Kreditsequenz nach zu urteilen, gehört sie dennoch zu den Performern.
Wenige Minuten nach dem Verschwinden der Tänzerin taucht ein Mann mit Gitarrenkoffer auf und setzt sich auf dasselbe Gestell, auf dem schon die lesende Frau sitzt. Er legt sich hin und scheint einzuschlafen.
Und das ist dann der Hauptteil der Performance. Sie liest, er schläft, neben ihm liegt der Gitarrenkoffer. Aber natürlich ist das nicht alles. Im Hintergrund fahren Autos über eine Brücke, vorne fahren andere Wagen auf die Kamera zu, manchmal laufen Kinder direkt an ihr vorbei und blicken auch mal scheu in ihre Richtung. Die Performance ist zu Alltag zergeflossen und wird sich schlißlich aus diesem heraus wieder neu konstituieren. Denn am Ende von Upheaval passiert noch einmal etwas und zwar nicht nur in dem Sinne, in dem bei Lav Diaz ohnehin immer etwas passiert. Was da aber in diesem Fall passiert, das sei hier nicht verraten.