Fujiwara Yoshie no furusato / Home Village, Kenji Mizoguchi, 1930
Ein Opernsänger hat Erfolg, wird überherblich und stürzt ab - und kann eigentlich gar nicht singen; ein anderer Opernsänger hat Erfolg, wird überheblich, stürzt ab - kann dann am Ende aber eben doch singen und tut das schließlich auch mit der richtigen moralischen Haltung; seine Frau hält zu ihm, auch wenn sie einmal mit einem anderen im Taxi saß und er (der selbst von gold diggers verfolgt und beschlagnahmt wird) deswegen nichts mehr von ihr wissen will, nicht einmal, als sie ihn im Krankenhaus besucht. Viel Sinn ergibt der sprunghafte, dynamische Film nicht, schön ist er trotzdem, gerade in seinen Paradoxien; ein Stummfilm / Tonfilm-Hybrid, der Ton scheint noch instabil und ist doch gleichzeitig eine Fessel, die die schwebende Kamera zu bremsen, zu fesseln droht, der Ton verschwindet oft und lange, taucht dann kurz wieder auf, ist vor allem noch ein Problem: jetzt, wo der Ton da ist, muss man sich zu ihm verhalten.
Der Film stellt sich diesem Problem innerhalb seiner Handlung. Es taucht zuerst die Frage auf, ob man singen kann oder nicht; das scheint in dem Film nicht unbedingt eine Sache der Übung zu sein, auch keine des Talents. Aber wo genau steckt die Befähigung zum Gesang sonst? Und kann man sie wieder verlieren? In einem nächsten Schritt fragt man sich dann zum Beispiel, ob man in einer europäischen Spache singen soll oder auf Japanisch. Der Film entscheidet sich in allen diesen Fragen nicht aus nachvollziehbaren Gründen für eine Antwort, er breitet alle möglichen Antworten wie für sich selbst aus und wählt dann erratisch mal die eine, mal die andere, mal mehrere gleichzeitig. Und es tauchen Fragen auf, die noch weniger nahezuliegen scheinen: zum Beispiel danach, ob Geld und Stimme zusammenpassen. Die Antwort, die der Film gibt, ist auch hier kompliziert, unentschieden: Wer nur Geld will, kann nicht singen (hat aber eventuell trotzdem Erfolg); wer bescheiden ist, kann singen und bekommt dann am Ende vielleicht trotzdem wieder Geld.
Man's Castle, Frank Borzage, 1933
Me and My Gal, Raoul Walsh, 1932
Mein Lieblingsfilm bisher neben dem Gremillon'schen Leuchtturmwärterdrama: Man's Castle von Frank Borzage. Ich habe im Kino noch nie ein Liebespaar gesehen, das sich so zueinander verhält (schon rein körperlich; aber auch die Sprachregelungen, die sich herausbilden), wie Spencer Tracy und Loretta Young das tun. Der Film zeigt, wieviel an der Liebe (am Anfang) Herausforderung ist und (später) Anmaßung bleibt, wieviel an ihr deshalb zwingend über das bürgerliche Glücksversprechen hinausweisen muss. Und natürlich hat mich der poetische Antrieb des Films begeistert: das offene Fenster, das Pfeifen der Züge, der Sprung ins Wasser, in dem sich das Mondlicht spiegelt.
Einmal, während Young einen Herd bewundert, von dem sie sich schließlich auch wieder trennen müssen wird, isst er mit viel Vergnügen und ohne alle Hemmungen ein Speiseeis in der Waffel, schleckt mehrmals über die Kugel, steckt sich schließlich die gesamte Tüte in den Mund. In Raoul Walshs Me and My Gal, in dem Tracy einen Polizisten spielt, der in seinem Revier, einem Hafen, an allen Ecken und Enden etwas zu essen auftreibt, verspeist er auf sehr ähnliche Weise eine Banane. Und geht auch sonst auf sehr handfeste Art mit der Dingwelt um.
Der Film ist ansonsten typisches Dreißigerjahre-Chaos: Er springt von einem Genre zum anderen (und irgendwie macht es fast gar nichts, dass Walsh offensichtlich nicht allzu viel von Comedy-timing versteht), lässt viel Platz für Nebenfiguren und erzählt in 80 Minuten fast so viel wie heute ganze Staffeln von Quality-TV-Serien. Am Anfang gibt es eingies im Hafen zu tun, ein Säufer hat mehrere große Auftritte, die er bis in die letzte elegante Torkelbewegung auskostet, Tracy bandelt ein wenig mit einer Bedienung an; dann greift die zum Telefon, ruft ihre Schwester an und plötzlich scheint ein ganz anderer Film zu beginnen. Am Ende steht dann ein sehr schönes Gesellschaftsbild, das jedem sein Recht lässt: dem Säufer, dem Veteranen, der nur noch seine Augenlider bewegen kann, dem nicht so unbedingt begehrten Ehemann mit zahnfleischlastigem Lachen und natürlich auch dem Bananen verspeisenden Tracy.
The Dumb Girl of Portici, Lois Weber / Phillips Smalley, 1916
Eine Opernadaption, ich kenne die Vorlage nicht, auch der Ballett-Weltstar Anna Pavlova war mir nicht bekannt. Sie ist im Film super, schon in der melodramatischen ersten Stunde, trotzdem hat micht erst die zweite Stunde wirklich interessiert; die besteht vor allem aus einem Volksaufstand und dessen Folgen: chaotische, teilweise völlig entfesselte Massenszenen, zuerst der Kampf auf der Straße, Leute, die andere Leute von Pferden reißen, Pferde, die quer durch die Menschenmenge (kaum einmal sind in dieser zweiten Hälfte weniger als 20 Menschen gleichzeitig in einer Einstellung) galoppieren; dann der Kampf um die Burg, in der sich die nominelle Haupthandlung hauptsächlich abspielt. Eine unglaubliche Einstellung: Die Kamera fährt langsam lateral an mehreren Fenstern vorbei, während eines nach dem anderen von den Angreifern kaputt geschlagen wird, anschließend drängen die Aufständischen nach Innen, die Kamera fährt zurück und eröffnet das gesamte Schlachtfeld.
Das alles dauert fast eine halbe Stunde. Ganz zur Ruhe kommt der Film bis zum Ende nicht mehr, es kommt zu Plünderungen, es werden Orgien gefeiert, schließlich schlägt auch noch die Konterrevolution zu. Die Zweite Hälfte von The Dumb Girl of Portici ist Kino als permanenter Ausnahmezustand, an allen Ecken und enden quillt der Film über, droht zu desintegrieren, immer, wenn sich die Lage zu beruhigen scheint, stolpert wieder irgend jemand Neues vor die Kamera, einmal scheint am Ende einer Einstellung ein Teil der Kulisse zusammenzubrechen, schnell Schnitt, weiter. Die Figuren des Dramas kämpfen bei all dem manchmal mit, manchmal bleiben sie in Halbdistanz, am Ende dürfen die meisten von ihnen Operntode sterben. Aber das Kino hat etwas entfesselt, das keine Bühne der Welt mehr eindämmen kann.
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