Tuesday, December 23, 2008

Willenbrock, Andreas Dresen, 2005

Nicht wie beim Tatort geht es zu in einem Andreas-Dresen-Film. Darauf müssen die Figuren auch gleich hinweisen, als sie bei der Gegenüberstellung auf dem Polizeirevier nicht hinter einem falschen Spiegel platziert, sondern den beiden russischen Verdächtigen im Treppenhaus des Polizeireviers von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt werden.
Aus der Differenz freilich, die Dresen zwischen dem Tatort und seiner Vorstellung von Kino ausmacht und lauthals postuliert, gewinnt er nicht nur in dieser Szene höchstens ein wenig lakonische Coolness, die freilich frei von jeder ernsthaften, oder gar politisch-kritischen, Auseinandersetzung mit den Umständen, in denen sich seine Figuren befinden, bleibt. Und er verliert gleichzeitig mit diesem Verzicht auf das Zeichenarsenal des Polizeifilms den Reiz und den Drive des Genrehaften.
Weder arbeitet Dresen kreativ mit, noch offen gegen die Regeln. Willenbrock ist Halbherzigkeit durch und durch. Obwohl Willenbrock von schmooven Helikopter-Kamerafahrten bis zum eingängig-atmospohärischen Klaviermotiv alle Tricks des kommerziellen Filmschaffens - handwerklich durchaus ansehnlich - vorführt, beharrt der Regisseur auf einem autorenfilmerischen Überschuss, den er wahrscheinlich selbst in die Nähe irgendeines Realismuskonzepts gestellt haben möchte (auf offensiv gestalterische Mittel jenseits der erweiterten Kontinuitätsgrammatik verzichtet der Film vollständig bis zu seiner letzten Szene und wenn er sich in dieser dann etwas weiter aus dem Fenster lehnt, geht das prompt gewaltig daneben).
Freilich hütet sich der Film davor, diesen Überschuss ästhetisch zu präzisieren. Er manifestiert sich dann auch stets nur in den unpräzisesten Varianten: in einer relativen narrativen Offenheit (bis zum Schluss bleibt unklar, ob die Russen nun schuldig sind oder nicht) zum Beispiel, die aber letzten Endes eher politische Feigheit ist als Ausdruck auch nur irgendeiner Authentizität (und die analytische Zwangsläufigkeit guten Genrekinos ist dann halt auch hinüber). Oder in ganz klassischen Momenten der Autorenfilmsprachlosigkeit, die jedoch immer wieder eingefangen werden vom grundsätzlichen Mitteilungsbedürfnis eines Films, der nichts mitzuteilen hat.

Friday, December 12, 2008

Kein Platz für Ağa

Züğürt Ağa, Nesli Çölgeçen, 1985

Ein Ağa ist, wenn ich das richtig verstanden habe, Bürgermeister und Lehnsherr in einer Person. Der Titel entstammt eigentlich dem osmanischen Reich und wurde dort von militärischen und zivilen Würdenträgern verschiedener Ränge geführt. Offiziell abgeschafft im Jahr 1934 überlebte er in der modernen Türkei informell überall dort, wo die feudalen Besitzverhältnisse bestehen blieben.
Der Ağa in Züğürt Ağa herrscht über ein kleines Dorf im Südosten der Türkei. Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein, beziehungsweise Paternalismus der alten Schule. Der Ağa ist nicht nur Dorfbesitzer- und vorsteher, sondern gleichzeitig trotz eher schmächtiger Gestalt Ringkämpfer und wird als solcher während der Kämpfe von seinen Untertanen pflichtschuldig bejubelt. Und er gewinnt natürlich auch, obwohl der sportliche Wert dieser Siege fragwürdig ist, schließlich bekäme ein Triumph seinem jeweiligen Kontrahenten schlecht.
Noch ist alles eitel Sonnenschein, wie gesagt. Etwas zu viel Sonnenschein freilich und zu wenig Regen, weshalb ein Imam aktiviert wird, der für Regenwasser beten soll. Mehr als eine winzige Wolke, die per Rückprojektion über den ansonsten glänzend blauen Himmel zieht (die archaischen special effects wirken in dem ansonsten technisch sehr ordentlich produzierten Film etwas anachronistisch) springt dabei jedoch nicht heraus. Der Imam verfolgt sowieso eigene Interessen und verkauft Grundstücke im Paradies an die Dorfbewohner gegen Wählerstimmen.
In der ausführlichen Exposition ist das größte Problem des Ağa die Geilheit seines Vaters, welcher bei jeder Gelegenheit lautstark seinen Wunsch kundtut, seine Gemahlin zu verlassen, um wieder mit jungen Frauen schlafen zu können. Der Ağa selbst flirtet zwar auch lieber mit der jungen Kiraz, als mit seiner Frau zu schlafen - was man ihm kaum vorwerfen kann, schließlich bezeichnet sogar diese selbst den ehelichen Sex als "Ringkampf" -, ist geschlechterpolitisch aber eher liberal unterwegs, zumindest gemessen an den realen Verhältnissen in seiner Umgebung. Auch als Ganzes positioniert sich der Film in vielen Disursen, von Religion bis Feminismus, liberal-humanistisch. Mehr als diese im Detail dann doch oft fragwürdige Ideologie (beispielsweise sind die Frauen im Film eigentlich fast ausschließlich damit beschäftigt, sich im Bildhintergrund gegenseitig an die Gurgel zu gehen) interessieren mich an Züğürt Ağa die eher impliziten Aspekte seines Gesellschaftsbilds, und die finde ich, wie es sich für einen ordentlichen Salonmarxisten gehört, natürlich im Bereich der Produktionsverhältnisse.
Nach der Exposition bricht die Sozialstruktur des Dorfes mit erstaunlicher Konsequenz und Radikalität zusammen. Weil Züğürt Ağa kommerzielles Kino ist, beginnt alles auf der symbolischen Ebene: Ein Ringkämpfer wurde nicht hinreichend bestochen und macht den Ağa gnadenlos platt. Noch sind die Dorfbewohner zwar loyal und jagen den Sieger gemeinsam zum Teufel, doch fortan geht alles schief. Denn weil Züğürt Ağa gutes kommerzielles Kino ist, beschränken sich die Veränderungen nicht auf die symbolische Ebene. Es geht Schlag auf Schlag. Der Vater stirbt, die Ernte ist mieß, die Dörfler gehorchen bei der Wahl nicht der eigentlich verbindlichen Empfehlung ihres Ağa und wählen statt dessen wegen der Grundstücke im Paradies den Kadidaten des Imams (vielleicht ist in dieser Entscheidung schon prophetisch der Elitenwechsel von den Kemalisten zu den Islamisten vorgezeichnet, der in der realen Türkei erst ein Jahrzehnt später einsetzte), daraufhin kürzt der Ağa ihnen die Getreideration, was die Bauern wiederum dazu veranlasst, die Scheune zu stürmen und mit der Beute nach Istanbul durchzubrennen.
Das alles ist in humorvolle Vignetten verpackt, die jedoch nie die fast mechanische und selbst im Detail folgerichtige Dynamik der Destruktion einer ganzen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung, die sie antreibt und der sie Bilder leihen, verleugnen können, oder auch nur wollen. Bald steht der Ağa vor den Trümmern seines feudalistischen Paradieses und verkauft es alsbald an den Höchstbietenden. Auch er macht sich auf nach Istanbul.
Hier, in Istanbul, spielt der zweite Teil des Films. In Istanbul ist alles anders. Züğürt Ağa postuliert einen ähnlich radikalen Bruch zwischen Land und Stadt wie Yilmaz Güneys Meisterwerk Sürü. Natürlich verklebt der Mainstreamfilm Züğürt Ağa die beiden Filmhälften auf der Ebene des Genres - durch ein rührseliges Melodram um Kiraz etwa -, wo Güney und sein Regisseur Zeki Ökten den Bruch auf allen filmischen Ebenen suchten. Die soziale Erfahrung, von der die Filme berichten, ist aber erkennbar dieselbe. Çölgeçen hat sehr wohl einen Begriff von dieser Erfahrung und er vermittelt sie auch, obwohl nicht als Begriff.
Für die Komik sorgt jetzt der Ağa selbst, nicht mehr sein Vater. Für letzteren wäre in Istanbul sowieso kein Platz, doch auch sein Sohn tut sich schwer. Geschäft um Geschäft geht vor die Hunde, bald müssen die Möbel verkauft werden und die Ehefrau wird immer ungeduldiger.
Der Ağa trifft in der Stadt auf seine ehemaligen Untergebenen. Als er ihr Cafe betritt, funktionieren die alten Reflexe, aber sie sind nur noch nutzlose Muskelerinnerung, nicht mehr die Verkörperlichung der Produktionsverhältnisse. Statt dessen kollidieren sie mit der großstädtischen Dingwelt (die macht dem Ağa sowieso, auch darin ist der Film ganz kommerzielles Kino, am meisten zu schaffen in der neuen Umgebung). Wie in der Heimat möchten sie sich im Halbkreis um ihren Boss herum aufstellen, aber im engen Cafe will das nicht so recht funktionieren. Im Stühleklappern manifestiert sich ein qualitativer Sprung.
Die Unterwerfung ist sowieso nur noch Charade und wird bald aufgegeben. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse ist eine asymetrische. Der Paternalismus des Ağa überlebt länger als die Loyalität seiner ehemaligen Untertanen. Doch seine wohlwollenden Gesten sind nicht mehr die symbolische Belohnung für die realen Leistungen der Untergebenen, sondern gehen ganz im Gegenteil dem Ağa ganz real an den Geldbeutel, während er sich umgekehrt von nur noch symbolischen Unterwerfungsgesten(und selbst die verschwinden, wie gesagt, alsbald) nicht ernähren kann.
Das Ergebnis ist gleichzeitig flüssig erzähltes, lustiges und technisch gutes kommerzielles Kino (inklusive, das sei nebenbei angemerkt, einem schönen funky Leitmotiv auf der Tonspur) und das nachvollziehbare, erstaunlich komplexe Selbstbild einer Gesellschaft, die bis heute stark von sozialen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten geprägt ist. Ideologische blinde Flecken gibt es natürlich auch (welcher Film hat die nicht?) und zwar nicht zu knapp, aber Züğürt Ağa scheint doch auf einer ganz fundamentalen Ebene sehr ehrlich über die Gesellschaft nachzudenken, aus der er entstammt.

Tuesday, December 09, 2008

Ein Kino der Eindringlinge

Das iranische Kino erschließt das Soziale in einigen seiner besten Filme (meine Kenntnis des Kinos ist zu gering für genauere Aussagen, hier beschränke ich mich auf einige wenige Filme und lasse andere, an die ich mich nicht gut genug erinnern kann aus - u.a. Makhmalbafs Marriage of the Blessed -, obwohl sie in dem, an das mich erinnern kann, durchaus ins Bild passen) über soziale Differenzen. Es ist ein Kino der Eindringlinge. Die Filme entsenden Spione in gegebene Milieus und machen sie erst durch diese Bewegung und die in ihnen reflektierte Differenz lesbar. Diesem Vorgehen haftet immer etwas Selbstreflexives an, denn der Eindringling - meist ein Mensch aus einer reltiv niedrigeren sozialen Klasse - ist immer auch eine in den Film eingeschriebene Repräsentantion wahlweise des Zielpublikums oder des Regisseurs.

Kiarostami

Den höchsten Grad an Selbstreflexion erreicht, wen wundert's, Abbas Kiarostami. In Close-Up gibt sich der Eindringling direkt als Filmregisseur aus und erschleicht sich Zugang zur bourgeoisen Lebenswelt. Freilich wird die Repräsentation des Sozialen, die aus dieser Konfiguration entsteht, gleich mehrmals gebrochen, insbesondere dadurch, dass Kiarostami selbst im Film auftaucht und den Eindringling von aussen (durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle) portraitiert. Der Film verwandelt sich so langsam aber sich in ein Spiegelkabinett der Repräsentation und gleichzeitig des Sozialen. Ein einfacheres, aber gleichzeitig eindrücklicheres Modell entwirft Kiarostami in seinem besten Film ...and Life Goes on. Diesmal ist er selbst der Eindringling. Im Auto fährt er durch die nach einem Erdbeben verwüstete Gegend um Guilan, auf der Suche nach den Schauspielern eines früheren Films. Der teheraner Intellektuelle Kiarostami richtet die Kamera auf die Landbevölkerung und spricht sie dabei direkt an. Damit wird der Film zum Gegenstück des Akulina-Prinzips von Close-up: Die im Vorgängerfilm unendlich gebrochenen und vervielfältigten ästhetischen Vermittlungsinstanzen fallen so komplett weg wie in keinem anderen Film. Der Film wird als Ganzes zur direkten Erfahrung der Differenz im Sozialen. Gleichzeitig etabliert Kiarostami das Automobil als ein zentrales Moment seines Kinos. Der kiarostamische PKW ist die Materialisierung eines bestimmten Begriffes von Interaktion im sozialen Raum, einer Verbindung von Distanzierung und Offenheit. Im Gegensatz zur Idee vom Auto als maschineller Repräsentanz des weberschen stahlharten Gehäußes oder noch einfacher der Monadisierungstendenz in der bürgerlichen Moderne, wie sie sich beispielsweise in Petzolds Wolfsburg artikuliert, ist das kiarostamische Auto zuerst und ganz im Gegenteil Vermittlung, ein Medium der, fast Voraussetung von Kommunikation. Das Auto wird zur Metapher des gesamten Kinomodell Kiarostamis. Der entscheidende Teil des PKWs ist bei Kiarostami das Fenster und das ist meistens geöffnet. Das Autofenster erlaubt Kontaktaufnahme ohne Berührung, es betont einerseits die Gemeinsamkeiten im Bereich des Diskursiven und andererseits die Unterschiede im Bereich des Sozialen. Das Auto dient trotz einiger gleichbleibender Merkmale in den verschiedenen Filmen ganz unterschiedlichen Zwecken. In Taste of Cherry wird es zum spirituellen, in Ten zum subversiven Raum. In ... and Life goes on wird es zum Vehikel des Eindringlings, zum Medium des Eindringens. Was Close-up und ...and Life Goes on verbindet, ist der offen selbstreflexive Gestus. Kiarostamis Kino isoliert Figuren und Methoden, nicht zuletzt durch die automatisch distanzierende Form des Interviews, die im iranischen Kino insgesamt durchaus auch vorhanden sind, aber selten in derselben Reinheit der Artikulation.

Figurationen des Eindringens

..and Life Goes on ist auch deshalb ein Einzelfall im iranischen Film, weil der Eindringling hier "von oben" kommt. Die Figur des Eindringlings und der damit einhergehende Differenz geht sonst fast immer von unten aus und blickt nach oben. Die soziale Stellung des Eindringlings ist im Regelfall niedriger als die der Menschen in dem Milieu, in welches er eindringt. Der umgekehrte Fall ist selten und bringt Probleme mit sich. Im Fall von Samirah Makhmalbafs Blackboards, in welchem eine Gruppe idealistischer Lehrer sich aufmacht, die verelendete Dorfbevölkerung zu unterrichten, scheitert nicht nur dieses Unterfangen, sondern mit ihm der ganze Film. Der Wunsch, in eine niedrigere soziale Sphäre als die eigene eindringen zu können, ist kein natürlicher (zumindest nicht in einem armen Land wie dem Iran, in der ersten Welt mag das anders aussehen, wenn der Akademiker die Würstchenbude aufsucht, mag man das durchaus als Ausdruck eines realen Verlangens - auch jenseits von dem nach Wurst - lesen und nicht ausschließlich als ironische Geste). Sie ist entweder Teil einer umfassenden, bewussten ethisch-politischen Weltsicht (wie in ...and Life Goes On) oder eben nicht (wie in Blackboards). Normalerweise geht die Bewegung in die andere Richtung. In Jafar Panahis Crimson Gold etwa dringt der Pizzalieferant Hussein in die Wohnung eines Mannes ein, der im amerikanischen Exil reich geworden ist. Kaum öffnet sich die Tür, gerät die Wahrnehmung des Eindringlings aus den Fugen und wird zum Problem. Der Film, der vorher Hussein strikt von außen beobachtete, wechselt mit einem Mal in die Subjektive. Verunsichert sucht sich die Kamera in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Die Passung zwischen Innen und Außen stimmt nicht mehr, der sich öffnende Innenraum ist mit der Lebenswelt Husseins genauso wenig kompatibel wie mit der neorealistischen Ästhetik des Films (dieser Neorealismus ist durchgängige ethisch-ästhetische Selbstpositionierung der Filme und oft das einzige Moment eines moralischen Werturteils). Die einzelnen Räume der Wohnung ergeben kein kohärentes Ganzes und Husseins Wandel vom Proletarier zum Kriminellen schließt direkt an diese Erfahrung von Differenz an.
Offside, ein weiterer Film Panahis, dreht sich ausschließlich um ein versuchtes Eindringen. In diesem Fall - und ich möchte argumentieren, dass sich darin eine Entwicklungstendenz im iranischen Film insgesamt artikuliert - geht es nicht vorrangig, nicht einmal primär, um eine Klassendifferenz. Statt dessen fordert eine Gruppe sozial heterogener Frauen das Recht ein, an einem gesamtgesellschaftlich identitätsstiftenden Ereignis, einem Qualifikationsspiel für die Fußballweltmeisterschaft, teilnehmen zu dürfen. Ähnlich wie Close-up thematisiert auch Offside ein scheiterndes Eindringen als soziale Performanz: Die Frauen verkleiden sich als Männer und versuchen so ironischerweise gerade durch die völlige Verleugnung der Weiblichkeit, auf die tendenziell auch die strengen Kleidungsvorschriften im Iran zielen, Teilhabe am Sozialen zu erlangen und die Stadiontribüne zu erreichen. Nach dem Scheitern des Eindringens werde sie in einen ausgestellt künstlichen Raum knapp außerhalb des Stadions verbannt. Ein Großteil des Films behandelt dann die gleichzeitig spielerischen und in allegorischer Übertragung bitterernsten Versuche, diese willkürlich gezogene Grenze zu überwinden.
Auch, wenn ich nicht genug gesehen habe, um ein hinreichend abgesichertes Urteil bilden zu können, möchte ich behaupten, dass das Motiv des Eindringens im iranischen Kino in den letzten Jahren tendenziell seine klassenkäpferischen Konnotationen verliert. Oder diese zumindest erweitert um andere Dimensionen. Im Fall von Offside geht es um das Geschlechterverhältnis (das freilich im Iran noch deutlicher als anderswo ein Machtverhältnis ist), Ashgar Farhadis Fireworks Wednesday gewinnt aus dem Blick des Eindringlings so etwas wie eine Innenansicht der Mittelklasse und ihrer feingliedrigen, eher durch kulturelles denn durch ökonomisches Kapital strukturierten Hierarchien. Auch hier besteht eine soziale Differenz zwischen dem Eindringling, der jungen Haushaltshilfe Rouhi und dem Milieu, in das sie eindringt. Allerdings ist diese Differenz nur eine von Nuancierungen innerhalb der Mittelklasse und sie artikuliert sich ausschließlich über den Habitus, am direktesten vielleicht über die Differenzen in Sachen Make-up. Als Roohi zum ersten Mal das Domizil ihrer Arbeitgeber betritt, bietet dies objektiv weitaus mehr Anlass zur Verwirrung als das, welches Hussein in Crimson Gold betritt. Es herrscht eine Unordnung sondergleichen, große Teile der Wohnung sind mit Plastikfolie überzogen. Doch Roohi lässt sich kaum aus der Ruhe bringen, statt dessen gelingt ihr die Adaption an die neuartigen Verhältnisse äußerst schnell. Sie hat begriffen, dass in der Welt der Mittelklasse scheinbar geringe Fortschritte im Habitus auf den ersten Blick unüberbrückbare Differenzen einebnen können. Nicht zufällig begibt sie sich schnell in einen im Mietshaus ansässigen Schönheitssalon. Auch Fireworks Wednesday nutzt das Motiv des Eindriglings und die mit diesem verbundene Differenz, allerdings nutzt der Film diese weniger für eine direkte nationale / sozialpolitische Allegorie denn für psychologisch komplexes Erzählkino, das dem neorealistischen Erbe auf formaler Ebene zwar treu bleibt, aber einen gänzlich anderen Bezug zu seinen Figuren aufweist als die Filme Panahis oder Kiarostamis. Letztere greifen auf das Soziale identifizierend zu, die Eindringlinge dienen als Fixpunkte, von denen aus ein Machtverhältnis analysiert werden können. Freilich findet sich in diesem Modell kein Raum für echte Transformationen, soziale Performanz ist zum Scheitern verurteilt. Die Performanz Roohis dagegen ist eine gelingende und das gesellschaftliche System innerhalb des Mietshauses ein dynamisches, kein statisches.
Was nicht heißen soll, dass Farhadis Modell das überlegenere wäre, oder auch nur eine konsequente Weiterentwicklung darstelle. Es beinhaltet seine eigenen, vielleicht komplementären, Beschränkungen. Wo Kiarostami und Panahi (Offside steht in mancher Hinsicht zwischen beiden Positionen und nähert sich insbesondere am Ende der zweiten an) die Totalität des Sozialen als statische präsentieren, entwickelt Fireworks Wednesday einen Ausschnitt des Sozialen (und eben nicht dessen Totalität) als dynamischen.

Sunday, December 07, 2008

Der Schauplatz des Krieges. Das Kino von John Ford, Hartmut Bitomsky, 1976

John Ford, so der Voice-Over-Kommentar (hoffentlich) sinngemäß, habe keinen Begriff vom Kapitalismus, aber er habe ihn erfahren. Seine Filme, so fährt der Kommentar fort, vermittelten genau das: Erfahrungen. Und benötigen, so der unausgesprochene Zusatz, deshalb zunächst keine Begriffe.
Die fehlenden Begriffe werden dann von Bitomsky nachgeliefert. Zum einen durch den Voice-Over-Kommentar, der zu weiten Teilen aus nicht einzeln ausgewiesenen Zitaten besteht (Lindsay Anderson wird genauso zitiert wie Levi-Strauss, Hitchcock und natürlich Marx / Engels), zum anderen und noch expliziter, durch Schrift.
"Die verlassene Frau" steht dann (meist, wenn nicht immer) links oben im Bild, oder "Handwerk des Tötens", oder "Die Story", oder noch simpler: "Motive". Die Schrift respektiert die Mise-en-scene, sie wird meist fernab der Figuren platziert, vor allem fernab derer Augen, die, glaubt man dem Film, das wichtigste Element des Bildes darstellen ("ein Kino der Blicke", naja, welches Kino ist nicht wenigstens irgendwie ein Kino der Blicke, das ist sicher nicht die stärkste Passage des Films). Meist liegen die Buchstaben über dem Himmel, den im Bild zu integrieren, das sagt der Film und zeigt es gleichzeitig, John Ford äußerst wichtig war.
Der Schauplatz des Krieges entwickelt seine Theorie des fordschen Kinos ganz aus dessen Bildern und besteht seinerseits aus nichts anderem als eben diesen Bildern und den addierten Begriffen (ein paar Fotografien der Familie Ford bilden die einzige Ausnahme). Zum Teil sind das Standbilder, zum Teil bewegte. Die meisten entstammen The Searchers, ausgehend von diesem zentralen Werk erkundet Bitomsky weitere, mal naheliegende, mal entlegenere (zB "Flesh") Gebiete des fordschen Kinos. Die Standbilder werden mit Begriffen aufgeladen, die bewegten Bilder sollen die Erfahrung vermitteln (die meisten Filme und leider auch das zentrale Beispiel The Searchers werden in den deutschen Synchronfassungen präsentiert, der Film korrigiert die Übersetzungsfehler wenn nötig, die Erfahrung geht natürlich dennoch zu weiten Teilen flöten).
Die Thesen sollen den Filmen entspringen und nicht von außen an sie herangetragen werden. Die Zitattechnik widerspricht diesem Projekt nur auf den ersten Blick; deren inhärente Heterogenität soll gerade verhindern, dass die Spezifität des bitomskyschen Sprachgebrauchs die Bilder wieder verschließt bzw auf dieselbe einengt.
Die Argumentation verläuft ungefähr folgendermaßen und kann hier selbstverständlich nur bruchstückhaft wiedergegeben werden, weil das entscheidende fehlt: Die Landschaft, der Himmel, der Wind und die Indianer sind die Rohelemente der fordschen Filmgrammatik, die erst in ihrer Strukturierung signifikant werden. Der Schauplatz des Krieges identifiziert eine Reihe von Oppositionen als grundlegende Elemente der Filme: Mann und Frau, Armee und Familie und so weiter. Dazu treten verschiedene Motive, deren wichtigstes ist für Bitomsky die Adoption. Eine familiäre Beziehung jenseits der Familie. Ein Tauschgeschäft jenseits (oder: am Rande) der Warenzirkulation. Wahrscheinlich, so genau formuliert der Film das nicht aus, erschließt sich das eingangs erwähnte Zitat am besten so: Die Adoption ist eine Erfahrung von Kapitalismus jenseits seiner Begrifflichkeiten. Was entsteht, ist kein Spiegel, sondern ein Modell der Welt.
Nach Bitomsky macht das die Adoption (und in der Übertragung das gesamte fordsche Kino) aber noch lange nicht zur bloßen Ideologie. Vielmehr ist, so scheint es der Film zu sagen, dem zur filmischen Erfahrung geronnene Geflecht aus Oppositionen und Motiven eine ganz und gar objektive Beziehung zum amerikanischen Experiment eingeschrieben, die sich vor allem über die Erfahrung der Fremdheit vermittelt. Denn eine solche ist die Adoption ja in der Tat.
Mir hat diese Betonung und Interpretation des Begriffs der Adoption, wie überhaupt der Großteil des Films, unmittelbar eingeleuchtet. Dennoch fällt in diesem Zusammenhang einer der wenigen Sätze, denen man widersprechen kann und vielleicht auch widersprechen muss. Es ist dies sicher nicht zufällig einer der wenigen Sätze, die über das fordsche Kino hinaus zu verallgemeinern suchen. Das amerikanische Kino sei deswegen für die ganze Welt gemacht, heißt es da wiederum nur sinngemäß (und mit Sicherheit ist auch das ein Zitat), weil die USA ein Land voller Fremder sei, eine filmgeschichtliche These, die auch in dieser poetischer Verpackung nicht stimmt. Oder wenigstens um den (industriegeschichtlichen etc) Kontext zu ergänzen wäre, den Bitomsky absichtlich außen vor lässt. Ihm genügt die Tatsache, dass Fords Eltern irische Einwanderer waren.
Solange der Film sich auf die fordsche Poetologie und deren weltsetzende Modellhaftigkeit beschränkt, kommt er den Filmen erstaunlich nahe. Dennoch bleiben in der Lesart blinde Flecken oder vielleicht eher strukturierende Abweseneheiten. Die ausführliche Analyse des finalen Angriffs der Bürgerwehr auf die Indianer in The Searchers spart ausgerechnet deren eindrücklichste Einstellung aus, nämlich den Moment, in dem die Kamera mit den Angreifern in die Indianersiedlung einreitet und die (eindeutig genozidale) Verwüstung aus der Täterperspektive verbildlicht.
An dieser Einstellung (oder vergleichbaren) müsste eine Gegenlektüre ansetzen. Denn die Indianer in dieser Einstellung lediglich als Rohmaterial zu betrachten, das funktioniert schlicht und einfach nicht. Hier drängen Ideologie und Realgeschichte jenseits aller Modellhaftigkeit vehement ins Bild (vielleicht wird der Film tatsächlich für einen Moment spiegelhaft und vielleicht ist gerade das Nebeneinander von Modell und Spiegel entscheidend) und verweisen auf die Grenzen einer werkimmanenten Analyse, eines Genres, das in Der Schauplatz des Krieges. Das Kino von John Ford sicherlich einen seiner Höhepunkte erlebte.

Wednesday, December 03, 2008

Berlin Kino...

...ist nicht mehr, dafür gibt's jetzt Überbau. Da bin ich nicht alleine, mir zur Seite steht bereits Thomas und vielleicht stößt noch der eine oder andere hinzu (Interessenten?).
Alles noch sehr spartanisch und provisorisch aber das wird sich hoffentlich demnächst beides ändern.

Tuesday, December 02, 2008

In passing

Chaharshanbe-soori / Fireworks Wednesday, Asghar Farhadi, 2006

Rouhi wird bald heiraten. Ihr Verlobter taucht nur zweimal im Film auf, ganz am Ende und ganz am Anfang. In der ersten Szene fährt er Mofa. Rouhi sitzt auf dem Rücksitz und betrachtet Fotos. Die interessanteren hält sie ihm gelegentlich vor die Augen und wundert sich dann trotzdem, als das Mofa umkippt. Genau genommen ist ihr Tschador daran Schuld, der nach seinem ersten Auftritt als Verkehrsgefährdung auch im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen wird, vor allem durch seine Abwesenheit.
Das junge, naive Glück der beiden hat zwar keinen sichtbaren Platz im weiteren Verlauf des Films, gerät aber nie ganz in den Hintergrund und dient als Kontrast zu einer weitaus komplexeren, problematischeren Beziehung. Letztere spielt sich in einem Mietshaus ab, in welchem Rouhi einer Familie beim Ausmisten ihrer grotesk chaotischen Wohnung behilflich sein soll. Die Ehe der Wohnungsbesitzer ist so unwirtlich wie die Zimmer, in denen sie leben. Die krankhaft, wenn auch möglicherweise nicht grundlos eifersüchtige Mojdeh zerstört sich langsam aber sicher selbst und treibt nach und nach auch die Menschen in ihrer Umgebung ins Verderben.
Das Verderben ist - und das zeichnet den Film vor allem Anderen aus - in erster Linie ein soziales. Chaharshanbe-soori ist ein Film über Hausfrauenklatsch und die sozialen Voraussetzungen, auf denen er basiert und die er bearbeitet. Wunderschön klar artikuliert ist Farhadis Film in dieser Hinsicht. Da der soziale Status iranischer Frauen sich über die Kleidung nur bedingt erschließen lässt, wächst der Stellenwert des Make-ups: Die Frauen in dem Mietshaus entstammen der oberen Mittelklasse und sind, die gespenstisch blasse Mojdeh ausgenommen, infolgedessen geschmackvoll (für europäische Verhältnisse: üppig) geschminkt, während die aus ärmeren Verhältnissen strammende Rouhi zunächst gar kein Make-up trägt und bei ihrem ersten Besuch im Schönheitssalon dann etwas zu dick auftragen lässt. Das veränderte Aussehen führt zu einer veränderten Stellung in der sozialen Ökonomie des Mietshauses.
Chaharshanbe-soori ist ein Film der abschätzenden / abschätzigen Blicke, der genau kalkulierten Gesten und Bemerkungen. Farhadi verräumlicht Abhängigkeiten und soziales wie sexuelles Verlangen architektonisch und filmisch. Viel findet vor dem Haus statt, die einzelnen Wohneinheiten sind nur unzureichend voneinander isoliert, anstatt einer strikten Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem konstruiert Farhadi fließende Übergänge in einem kontinuierlich halb-öffentlichen Raum. Mojdeh, die sich immer mehr am unteren Ende der Hierarchien, die eben nicht nur ökonomische sind, wenn sie auch stets von diesen abgeleitet bleiben, wiederfindet, flüchtet sich in einigen Szenen in das Badezimmer, in den einzigen Ort, der eine reine Privatheit zu versprechen scheint. Doch auch dort lauscht sie am Lüftungsschacht. Zwanghaft übertreibt sie die Prozeduren, vor denen sie eigentlich zu fliehen versucht.
Die Übertragung der neorealistischen Ästhetik des postrevolutionären iranischen Kinos auf ein Mittelklassepersonal funktioniert ausgesprochen gut (am Drehbuch war Mani Haghighi beteiligt, dessen Men at Work etwas Ähnliches auf eine allerdings ganz andere Art und Weise versucht; Farhadi und Haghghi arbeiteten auch gemeinsam an Haghighis mir noch unbekanntem Folgefilm). Farhadi inszeniert mit einer Eleganz, die sich meist versteckt und sich auch dann, wenn sie nicht mehr zu übersehen ist, nicht aufdrängt. In einer Schlüsselszene etwa setzt der Film, der (mit einer Ausnahme) auf nichtdiegetische Musik verzichtet, Fahrstuhlmusik (auch Fahrstuhlmusik war mir im iranischen Kino glaube ich bisher noch nie untergekommen) auf brilliante Art und Weise als halbironischen Kommentar ein. Und eine längere Passage gegen Filmende durch die Stadt, in der die Feierlichkeiten zum neuen Jahr von Bürgerkriegsbildern nicht leicht zu unterschieden sind, ist schlicht und einfach großartig. Allerdings fügt sich auch diese Szene nicht so eindeutig zur Allegorie, wie sie das etwa bei Jafar Panahi getan hätte. In Chaharshanbe-soori weisen die Figuren zwar durchaus, aber weniger ausschließlich über sich hinaus, sie gewinnen mehr, insbesondere psychologischen, Eigenwert. Chaharshanbe-soori ist auch in seiner Form ein wenig bourgeoiser als die meisten anderen iranischen Filme. Er ist das freilich auf eine wunderbare Art.

Ye che / Night Train, Diao Yinan, 2007

Ein Mann und eine Frau lernen sich bei einer wenig glanzvollen Single-Party kennen. Sie ist eine Henkerin und er ein Loser. Sie vollstreckt das Todesurteil an seiner Frau. Er beginnt, sie zu stalken. Sie weiß nicht, was er mit ihr vorhat und ist mal neugierig, mal verängstigt. Auch er weiß nicht so recht, was er mit ihr vorhat.
Schnell wird klar, dass Diao Yinan sich an die Regeln des panasiatischen Kunstkinos hält. Spätestens die vierte oder fünfte Szene im Film verrät ihn: Mann und Frau unterhalten sich in einem überfüllten Bus. Sie stehen nicht nebeneinander, sondern mehrere Meter voneinander entfernt, jeweils eingeklemmt zwischen anonymen Leibern. Die Kamera verstärkt ihre Isolation, anstatt sie zu vermindern. Ohne die Möglichkeit eines Blickkontakts tauschen sie ein paar belanglose Floskeln aus und schweigen sich dazwischen beharrlich an. Fast schon parodistisches Potential hat diese Sequenz.
Was alles nicht heißen soll, dass Night Train völlig derivativ und öde wäre. Der Film ist deutlich interessanter als der Vorgänger Uniform, ein nun tatsächlich ganz und gar vorhersehbares Jia-Derivat, und hat durchaus seinen ganz eigenen Reiz, nur leidet er eben doch an den Grenzen einer Ästhetik, die zu oft weder Ausdruck einer originellen Autorenposition zu sein scheint, noch eine genuin filmische Auseinandersetzung mit dem Material. Sondern eher so etwas wie die default choice im aktuellen world cinema.
Ye che hat seine stärksten Momente immer dann, wenn er sich der Tristesse seines Gegenstandes anders als bloß mimetisch nähert. In einer Szene früh im Film kippt ein leicht debiler Flirt ohne Vorwarnung in einen Vergewaltigungsversuch, der ebenso abprupt wieder abgebrochen wird. Diao filmt diese Sequenz in expressiver Großaufnahme vor einem Fenster, hinter dem der Blick frei wird auf ein düsteres Industriepanorama. Das entstehende Bild sieht dann mit einem Schlag mehr nach einer Rückprojektion im Stil des klassischen Hollywoods aus als nach Realismus.
Ebenfalls gefallen kann die gesamte, sehr ausgedehnte Schlusssequenz, die zwar in noch tristerer Umgebung als der restliche Film situiert ist, aber in fast (ein starkes "fast", möchte ich doch hinzufügen) hitchcockscher Manier einen Spannungsbogen ausarbeitet. Die tiefgreifende Ambiguität der letzten Schwarzblende verdient sich der Film in dieser glänzenden Schlussphase hart und redlich.

Muss nicht sein

Wer in den Himmel des world cinema will, muss erst durch die Vor/Kurzfilmhölle. Meine dringende Bitte an die Organisatoren der Filmreihe "In 14 Filmen um die Welt": Lasst das in Zukunft bleiben!

Sunday, November 30, 2008

alles neu...

...und in der Tat viel besser als zuvor. Das alte Design war mir eigentlich schon nach den ersten zwei Wochen auf die Nerven gegangen.
Rechts gibt es jetzt nach dem Vorbild des filmtagebuchs eine Liste der zuletzt gesehenen Filme, mitsamt akribisch errechneter Punktwertung.

Saturday, November 29, 2008

Coeur fidèle, Jean Epstein, 1923

Marie (gespielt von Gina Manès, der man inden Großaufnahmen einige ihrer 30 Lebensjahre zuviel ansieht) ist ein Waisenkind und arbeitet in einer Kneipe. Ihr Blick aus dem Fenster sucht, wie so oft im französischen Stummfilm, den Hafen und das Meer. Dort, an der freien Luft, treibt sich Jean herum, ihr Liebster. Doch drinnen, in der Kneipe, steht Paul, ein brutaler Schläger, der sich Marie als seine zukünftige Frau bereits ausgesucht hat.
Zunächst gewährt Epstein den Bildern viele Freiheiten. Die erste Filmhälfte spielt fast ausschließlich draußen und meist am Meer. Der Blick geht in Richtung Horizint, der Film überblendet Figuren und Wellen. Die Liebenden müssen nicht am selben Ort sein, um sich zu sehen. Das erledigt der Film für sie. Als Jean Marie sucht, genügt ein Blick in Richtung Stadt, um sie Kilometer entfernt im Vergnügungspark ausfindig zu machen.
Hier, im Vergnügungspark, entwickelt der Film seine zurecht berühmteste Szene. In rhythmischer und rhythmisierender Montage verbindet Epstein die Verfolgungsjagden und Blickwechsel des Plots mit mechanisierten Vergnügungen mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten, deren Eigendynamik jeder Funktionalität (und besonders der für die Spielfilmhandlung) entgegen steht.
Ganz anders die zweite Hälfte, die im Grunde eine Wiederholung der ersten ist: Wieder möchte Jean Marie vor Paul retten. Diese zweite Hälfte sperrt die Figuren und die Geschichte ein, wo sie davor frei waren: architektonisch wie filmsprachlich. Fast alle Szenen spielen in engen Räumen und werden mithilfe analytischer Montage aufgelöst. Auch in sozialer Hinsicht weicht das unspezifisch romantisierende Hafensetting dem kitchen sink. Paul wird vom Anarchoproll zum tumben Schläger, Marie vom naiven Lustobjekt zur besorgten Mutter und zu allem Überfluss taucht auch noch eine behinderte Nachbarin auf (gespielt von Epsteins Schwester Marie), die am Ende auf nicht unbedingt besonders elegante Art und Weise zur Auflösung aller narrativen Probleme missbraucht wird (u.a. wohin mit dem Kind von Marie und Paul).
Die Freiheit des ersten Abschnitts taucht nur noch als Erinnerung auf, wird korrekt psychologisch und narrativ integriert. Was es wohl zu bedeuten hat, dass die erste, avantgardistische Runde an Paul geht und die zweite, konventionelle an Jean?

Ein Teil der filmtheoretischen Schriften Epsteins ist seit ein paar Monaten in deutscher Übersetzung greifbar. Hier mehr.

Tuesday, November 25, 2008

Filmkritik im Internet - Versuch einer Positionsbestimmung

Im Nachhall einer Tagung am vergangenen Donnerstag im Berliner Filmhaus zur Filmkritik im Internet wird online - neben der leidigen Geldfrage - vor allem eine Opposition diskutiert, die ungefähr folgendermaßen aussieht: Auf der einen Seite stehen - hauptsächlich - Blogger, die persönlich / privatistisch und subjektiv über obskure Filme schreiben, auf der anderen - hauptsächlich - Onlinemagazine, die auf journalistischen Diskursregeln beharren, objektive Kriterien zu etablieren versuchen und ihre Themenwahl am Publikum und damit gleichzeitig am Markt orientieren. Hier findet zur Zeit eine exemplarische Diskussion statt.
Ich selber bin, wie viele andere, auf beiden Seiten des Grabens aktiv. Hier soll es nur um die erste der beiden Scheinalternativen gehen. "Dirty Laundry" ist ein Blog, und zwar eines, auf das obige Beschreibung, ob als Vorwurf oder nicht, ganz besonders gut zu passen scheint. Mein Verständnis von dem, was ich hier machen (oder eher: machen möchte), hat mit diesen Beschreibungen sehr wenig zu tun. Vor allem gegen zwei Begriffe möchte ich mich wehren: Gegen den des Persönlichen und den der Obskurität.

Nicht persönlich

Eine Opposition, auf die ich mich nicht erst einlassen möchte, ist die zwischen Subjektivität und Objektivität. Selbst wenn Objektivität in der Praxis der Filmkritik nicht, wie Ekkehard Knörer es völlig richtig formuliert, automatisch die Objektivität des Marktes wäre, wäre sie unter den Bedingungen des Internets zurückzuweisen. Manch einer mag argumentieren, dass "objektive" Verfahren wie Kanonbildung und ähnliche Hierarchisierungen historisch zumindest für die Textproduktion und den Diskursfluss produktiv waren. Im Internet aber hat jede Filmliste eine inhärente Tendenz zur Expansion ins Unendliche und jeder Film hat, genau wie jeder Gedanke zu einem Film, zunächst dieselben Startbedingungen. Jeder Film hat - soweit dort gelistet - genau eine Seite auf imdb, nicht mehr und nicht weniger. Objektive Filmkritik im Internet wird angesichts der wiki-Struktur des gesamten Netzes zum Anachronismus.
Mir scheint jedoch der subjektive Pol, an dem sich Filmkritik im Internet ausschließlich abspielen kann, unterdefiniert zu sein. Der Widerspruch, der mich interessiert, ist nicht der zwischen subjektiv und objektiv, sondern der zwischen idiosynkratisch und persönlich.
"Dirty Laundry" ist kein persönliches Blog. Wer meine Texte liest, weiß, was für Filme ich sehe, welche mir gefallen und welche nicht, manchmal weiß er/sie auch, was ich lese und allerhöchstens noch, was ich über bestimmte politische Fragen denke. Sicherlich nichts wird er/sie hier über meine Persönlichkeit lernen.
Im Internet kann man - abseits vom Geschäft - auf zwei Arten aktiv werden: idiosynkratisch oder persönlich. Persönlich sind von ihrem Wesen her Webcams, idiosynkratisch Weblogs (was nicht heißen soll, dass es keine idiosynkratischen Weblogs geben kann, "persönliche" Weblogs im Sinne von Internettagebüchern gibt es jede Menge). Webcams haben mich nie interessiert (ebensowenig wie Internettagebücher, Facebook und dieser ganze andere Blödsinn).
In meinem Blog schreibe ich nicht persönlich, sondern idiosynkratisch. Zwar beziehe ich mich, wenn ich über einen Film schreibe, auf eine konkrete sinnliche Erfahrung, doch in wiefern diese sich auf Kategorien des Persönlichen bezieht, das interessiert mich am wenigsten, wenn ich über sie schreibe. Die Idiosynkrasien meines Interesses an Film lösen sich von mir als Person ab und manifestieren sich als unpersönliche, idiosynkratische Schrift im Netz (insofern möchte ich auch dem Titel des zweiten Podiums der Tagung widersprechen: Das Wort ist, wenn es einem Gedanken dient, der es Wert ist, gedacht zu werden, durchaus genug). Lange Zeit habe ich hier sogar anonym gebloggt.
Das Internet ermöglicht keine Transzendierung / Transformation des Persönlichen, aber es ermöglicht eine Vertiefung, eine Emanzipation und - in Maßen - eine Autonomisierung von Idiosynkrasien. Meine Netzpersönlichkeit ist eines gerade nicht mehr: persönlich.
Gerade weil sich im Netz die Idiosynkrasien so leicht vom Persönlichen lösen, taugen sie zu mehr als zu bloßen Nischendiskursen. Zwar sind Idiosynkrasien von Natur aus eher tief als breit, aber im Netz erweitern sie sich, sind anschlussfähig für Querverbindungen aller Art.
(Noch etwas holprig alles, da muss ich irgendwann einen neuen Anlauf versuchen)

Nicht obskur

Leichter zurückweisen könnte ich den Vorwurf, ich schreibe hier über obskure Filme. Das stimmt schlicht und einfach nicht. Die wenigsten der Filme, die hier vorkommen sind obskur, es sei denn aus einer strikten Multiplexperspektive. Als Beispiele meine letzten Einträge. Pineapple Express geschenkt, der Text sollte eigentlich nicht hier veröffentlicht werden. Doch weiter zurück: Las doce sillas ist eines der Schlüsselwerke des kubanischen Kinos und in Deutschland auf DVD erhältlich (sogar wahlweise in der synchronisierten DEFA-Fassung); Lino Brocka ist der wichtigste Regisseur der philippinischen Filmgeschichte, Insiang ist vielleicht sein Meisterwerk und lief seinerzeit in Cannes im Wettbewerb. Eben dort feierte dieses Jahr Lucrecia Martels wundervoller La mujer sin cabeza Premiere - und wird in der englischsprachigen Blogosphäre seither intensiv diskutiert. Lav Diaz wird seit Jahren weltweit gefeiert und ist inzwischen Stammgast in Venedig. Und so weiter.
Ich schreibe hier äußerst selten über Filme, die mit gutem Recht als obskur bezeichnet werden könnten. Es gibt durchaus Blogs und Magazine, die das tun: Mitternachtskino, Esotica etc. Auch solche Projekte feiern nicht ihr Expertenwissen als Selbstzweck; Ihnen geht es gerade darum, die entsprechenden Filme der unverdienten Obskurität zu entreißen.
Ich schreibe hier hauptsächlich über Filme, die früher einmal auch in Deutschland durchaus konsens-, wenn nicht sogar kanonfähig waren / gewesen wären. (Dass meine Texte zu kryptisch sind, hat damit nichts zu tun, das ist zu Teilen meiner Nachlässigkeit geschuldet, die ich hoffentlich demnächst besser in den Griff bekomme; in diesem Text leider wieder nicht so recht.) Wenn die Auswahl der Filme, über die ich hier schreibe, obskur erscheint, so liegt das nicht an der Auswahl, sondern daran, dass hierzulande der Diskurs fehlt, in den ich sie liebend gerne einbetten würde.

Saturday, November 22, 2008

Ananas Express / Pineapple Express, David Gordon Green, 2008

Dale Denton (Seth Rogen) und Saul Silver (James Franco) wollen Red (Danny McBride) zum sprechen bringen. Der Drogenzwischenhändler sitzt vor ihnen, auf denkbar unökonomische Weise mit circa 30 Meter Klebeband an seinen Stuhl gefesselt. Doch Red schweigt beharrlich. Schließlich hält Dale ihm eine Kaktus-Topfpflanze vors Gesicht. Ob diese Mikrophonersatz sein soll oder Folterdrohung, weiß keiner der Beteiligten, am allerwenigsten Dale selbst.

Komödien funktionieren im Kleinen, in der einzelnen Pointe, im komischen Detail oder gar nicht. Ananas Express funktioniert wegen Szenen wie der mit dem zweckentfremdeten Kaktus. Die Pointen sind knapp neben dem banal Alltäglichen platziert, wirken fast wie Improvisationen, stehen aber mit Sicherheit genau so im Drehbuch. Die vermeintliche Leichtigkeit ist, ebenso wie die aus ihr resultierende Lebensnähe in Wirklichkeit gleichzeitig perfektes Handwerk und - ja - große Kunst.

Dale und Saul wollen Red zum Sprechen bringen weil sie in der Klemme stecken. Dale ist Gerichtszusteller und ständig high. Den Joint in der einen, die zuzustellende Vorladung in der anderen Hand, beobachtet er eines abends einen Mord. Auf der Flucht vor den Killern, die den unliebsamen Zeugen aus dem Weg räumen möchten, verliert er den Joint. Diesen wiederum hat er bei Saul erstanden. Der ist sein Dealer und der einzige, der das Supergras „Ananas Express“ in Dales Heimatstadt verkauft. Und ausgerechnet der Mörder ist der Großhändler.

Urplötzlich werden Dale und Saul mit der gesamten Ökonomie des Drogenhandels konfrontiert. Dabei fühlen sich beide bereits am verhältnismäßig isolierten unteren Ende derselben nicht wohl. Dale versucht, den Kontakt zu Saul auf ein Minimum zu beschränken, während dieser sich selbst einredet, dass das Dealen nur eine Übergangslösung darstellt zum Traumjob Landschaftsarchitekt.

Zwischen Marihuannaschwaden und Kugelhagel lösen sich die Hierarchien auf und dadurch auch die Berührungsängste. Sobald ihre Beziehung zueinander nicht mehr vom Warenaustausch determiniert ist, werden die ehemaligen Geschäftspartner zu Buddys. Und als solche schlagen sich Dale und Saul erfolgreich durch Autoverfolgungsjagden, Schießereien und Liebesgeschichten aller Art. Dass mindestens einer der beiden immer etwas zu rauchen dabei hat, macht die Sache nicht einfacher. Das Finale ist dann reiner Comic, irgendwo zwischen Tarantino, John Woos Hard Boiled und Star Wars.

Judd Apatow hat als Produzent, bisweilen auch als Drehbuchautor und Regisseur bereits einige Komödiensubgenres einer sanften Frischzellenkur unterzogen, den High-School-Film beispielsweise (Superbad), die Romkom (Beim ersten Mal) oder die Genreparodie (Ricky Bobby – König der Rennfahrer). Mit Ananas Express wendet er sich dem Kifferfilm zu, der in den Siebziger und Achtziger Jahren mit den Cheech-&-Chong-Streifen seine größten Erfolge feierte. Wie andere Apatow-Produktionen auch ist Ananas Express keine Negation bewährter Formen, sondern der Versuch, diese mit ein wenig lebensechteren Figuren und Schauplätzen zu konfrontieren.

Ananas Express besticht primär durch ein Fülle liebevoll gezeichneter Charaktere auch jenseits der beiden Hauptfiguren und ihres unmittelbaren Umfelds. Selbst der Bösewicht, verkörpert von Gary Cole, der aus der Polit-Fernsehserie The West Wing als unglücklich agierender Vizepräsidenten „Bingo“ Bob Russell bekannt ist und hier eine wunderbare Christopher-Walken-Imitation abliefert, ist mehr als nur eine Schießbudenfigur.


Ananas Express ist ein Film aus der Mitte des Mainstreamkinos, ein Film, dessen Qualitäten nicht im Singulären, nicht in der originellen Vision eines Künstlersubjekts ihren Ursprung haben, sondern im über Jahre akkumulierten kollektiven Wissen der Genrefimproduktion. Dennoch überrascht an dieser Produktion ein Name, und zwar der des Regisseurs. David Gordon Green galt nach seinem phänomenalen Erstling George Washington aus dem Jahr 2000 als neues Wunderkind des amerikanischen Kinos. Das Debüt des damals 24-jährigen entwarf in glasklaren, leuchtenden Bildern die von einem traumartigem Glanz überfärbte Lebenswelt einer Gruppe vorwiegend schwarzer Jugendlicher in einem heruntergekommenen Arbeiterviertel des amerikanischen Südens. Seither gelang dem Regisseur freilich nicht mehr viel. Bereits der Nachfolger All the Real Girls versandete im banalen Befindlichkeitskino und Undertow, ein von Südstaatenklischees aller Art durchsetztes Quasiremake des Klassikers Night of the Hunter, war schlicht und einfach unerträglich. Auch wenn er kaum als Auteur des Films anzusehen ist, stellt Ananas Express für Green, trotz solcher Fehlschläge ohne Zweifel einer der talentiertesten amerikanischen Regisseure seiner Generation, keine schlechte Wahl dar für einen Karriereneustart jenseits der kreativen Wüste des Sundance-Indiekinos.

Wednesday, November 19, 2008

Las doce sillas, Tomas Gutierrez Alea, 1962

Eine Zeichentrickdame möchte Perlen und Gebiss im Safe verstauen, doch der ist schon voll. Dann fällt ihr Blick auf eine Gruppe von zwölf Stühlen. Einer schiebt sich in den Vordergrund, wird neue Heimat der Diamanten und ist hinfort mehr als nur ein Stuhl. Oder vielleicht auch weniger, denn sich einfach auf ihn draufsetzen, das geht jetzt nicht mehr. Zumindest wenn man weiß, was im Bezug versteckt ist.
Wahrscheinlich schon an die 20 Verfilmungen hat Ilya Ilf und Jevgeni Petrovs Roman hinter sich (nicht nur Mel Brooks hat sich an dem Stoff versucht, sondern - Oh Gott! - auch Ulrike Ottinger). Gesehen habe ich keine davon, auch das Buch kenne ich nicht. Aleas Adaption zumindest ist großartig.
Das Intro ist animiert und sicherlich auch ein Stilzitat (in der Geschichte des Animationsfilms kenne ich mich kaum aus, da vage ich keine Vermutung worauf diese ebenso plumpe wie plump gezeichnete Figur sich bezieht), später dann wildert Alea hemmunglos in der Filmgeschichte, insbesodere in der Stummfilmästhetik. Der eigentliche Reiz des Films aber liegt nicht im souveränen Umgang mit visuellen Klischees und Filmgeschichte, ja überhaupt nicht im Bereich des Formalästhetischen. Da ist Aleas Film nur höchst solide.
Mehr als ein gut geöltes Stück Neo-Slapstick wird Las doce sillas, wenn man den Film in seinem historisch-ideengeschichtlichen Kontext sieht. Denn Las doce sillas ist in erster Linie eine Allegorie auf die kubanische Revolution, die sich in zweiter Linie dann langsam aber sicher in eine Allegorie auf beziehungsweise in eine Bearbeitung des marxschen Fetischbegriffs verwandelt. Und bleibt dabei immer Komödie.
Zunächst sind die Stühle historisch und sie bleiben es auch bis zum Ende. Verteilt in der Bevölkerung sind sie keine Statussymbole mehr, sondern werden reduziert auf ihren Gebrauchswert für die postrevolutionären Individuen. Und der ist gering, denn sie taugen nicht viel. Für den alten Aristokraten, der von den Diamanten weiß, sieht alles ganz anders aus. Der Wert der Stühle steigt für ihn in einer Gesellschaft, die nicht mehr um den Tauschwert herum organisiert ist, ins Unermessliche und ist nicht mehr kategorlial zu erfassen. Sein Versuch, die Stühle auf einer Auktion zurück zu kaufen, scheitert denn auch kläglich.
Las doce sillas materialisiert und isoliert den Warenfetisch als groteskes, absurdes Artefakt und versucht ihn zumindest für die Dauer eines Filmes zu überwinden. Der Warenfetisch veralbert, mit Messern zerschlissen und zu guter Letzt sogar von einem Löwen aufgefressen.
Was der Film sonst noch alles macht (und er macht viel), werde ich vor einer zweiten Sichtung nicht richtig zu fassen bekommen, deshalb möchte ich es hier gar nicht erst versuchen. Besonders interessant erscheint mir die Abwesenheit eines ideologisch/erkenntnistheoretischen Zentrums, das die Allegorie und das politische Traktat eindeutig perspektivieren würde. Die Hauptfigur ist zwar durchaus klassisch Identifikationsfigur und durchläuft einen Bildungsroman, eine höhere Form von Klassenbewusstsein kommt dabei am Ende aber nicht heraus. Statt dessen spielt sie mit einigen Kindern Baseball.

Wednesday, November 12, 2008

Insiang, Lino Brocka, 1976

Ein furioses Melodram, das sich konsequent seiner Belegschaft, wie auch seiner anfangs noch wild wuchernden Parallelhandlungen entledigt. Die junge Insiang ist zu Beginn von Menschentrauben umgeben, am Ende wird sie ganz alleine in einer Totalen über die menschenleere Plaza vor dem Gefängnis wandern. Zwei Familienmodelle werden nacheinander ausprobiert und konsequent verworfen. Zunächst die integrative Großfamilie: Brüder, Schwestern, Tanten und Großeltern, alle unter einem Dach, in jeder Einstellung mindestens fünf Personen. Statt Solidarität herrschen Betrug und Misstrauen. Irgendwann wirft die Mutter Tonia alle raus bis auf Insiang, ihre Tochter. Das zweite Familienmodell ist die Perversion der Kernfamilie. Tonia holt ihren jungen, brutalen Lover Dado ins Haus. Der hat bereits vorher ein Auge auf Insiang geworfen. Noch weitaus radikaler als die Großfamilie wird der Film die Kernfamilie zerstören. Das Mehr an Raum innerhalb der Wohnung nach dem Auszug der Verwandschaft schafft keinen freien Bewegungsraum, sondern ist ganz im Gegenteil Schauplatz für beklemmende Blickwechsel und verwandelt sich nach und nach in ein psychisches Gefängnis für seine Bewohner, in einen durch und durch pervertierten Raum.
Insiang verwirft nicht nur Familien-, sondern auch heterosexuelle Beziehungsmodelle. Insiang ist von drei Männern umgeben. Einer wird am Ende tot sein, ein zweiter wird aufs übelste zusammen geschlagen und der dritte, ihr idealistischer, schüchterner Bewunderer, der sie in einem "echten" (weil unehrlichen) Liebesmelo am Ende bekommen hätte, wird freundlich, aber bestimmt in die Wüste geschickt. Nicht in dieser Welt.
Insiang strebt nicht danach, aus den Abhängigkeitsverhältnissen in eine transzendentale romantische Liebesbeziehung zu entkommen; Sie möchte die Abhängigkeitsverhältnisse subvertieren und ihre Hierarchien auf den Kopf stellen. Aber auch das funktioniert nicht, kann nicht funktionieren. Ihre einzige Waffe, der Sex, hat nur einen beschränkten Marktwert und zieht im Zweifelsfall gegen Geld oder rohe Gewalt den Kürzeren. Sex muss Umwege gehen und resultiert weniger im eigenen Glück denn im unglück der anderen. Am Anfang steht sie ganz unten in der Hierarchie. Da niemand sie nach oben durchlassen möchte, entfernt sie einen nach dem anderen über sich, bis sie an der Spitze steht. Und konsequenterweise völlig alleine in einer Totalen über die Plaza vor dem Gefängnis wandert.

Saturday, November 08, 2008

La mujer sin cabeza / The Headless Woman, Lucrecia Martel, 2008

Kinder spielen in einer Art Abwasserkanal. Schnitt auf Veronica, eine Zahnärztin mittleren Alters mit blondierten Haaren, die in ihr Auto steigt und losfährt. Die Kamera beobachtet mal sie, mal die Landschaft hinter der Windschutzscheibe, dann, als sie am Abwasserkanal vorbeifährt passiert irgendetwas. Was genau, bleibt unsichtbar, es dringt in den Film ein als Störgeräusch, als das UKO Barbara Flückigers. Freilich ist das UKO hier gleichzeitig unidentifizierbar und präzise artikuliert. Genauer: die Unidentifizierbarkeit ist präzise artikuliert.
Genau das ist es, was La mujer sin cabeza zu einem großartigen Film macht: Die präzise Artikulation des Unpräzisen, der Verwirrung, des Chaos, eines aus dem Takt geratenden Lebens.
Der Vorgänger La nina santa war mir etwas zu gewollt kryptisch, geprägt von bloßen Gesten der Verweigerung: Keine Exposition, alle Sinnzusammenhänge erst im Nachhinein und vor allem mühsam konstruierbar, die Einstellungen absichtlich defizitär unter dem Aspekt des Narrativs. Nicht so recht konnte ich erkennen, was Martel damit will und ob da mehr dahinter steckt als die altmodische Attacke aufs Kinoerzählen.
Anders im neuen Film: Was auf der manifesten Ebene passiert (ohnehin nicht viel), ist stets glasklar, im Grunde geht es die ganze Zeit um die Natur des UKOs vom Filmbeginn. Veronicas Leben ist aus der Spur geraten, sie steht neben sich, immer neue Störgeräusche treten in ihr Leben und irgendwann beginnt sie das zu befürchten, was der Schnitt zu Filmbeginn präzise artikuliert im Ungewissen gelassen hat. Am Ende des Films gibt es dann einen qualitativen Sprung, vielleicht sogar einen Lernprozess, um den soll es hier aber nicht gehen.
In La mujer sin cabeza ist die Verwirrung zunächst eine der Protagonistin. Die Störungen, die "falschen" Anschlüsse, die dezentrierten Einstellungen, die den Hintergrund, die vermeintliche Nebensächlichkeit gegenüber dem Vordergrund und der Hauptfigur privilegieren, alles das ist streng genommen psychologisch motiviert. Nur dass aus dieser psychologischen Motivierung nicht folgt, dass Veronica auch nur irgendwie zu einer Identifikationsfigur wird. Sie dient via ihrer gestörten Wahrnehmung lediglich als Katalysator. Entscheidend ist nicht sie selbst, sondern der Blick, den der Film durch sie auf die Welt um sie herum gewinnt.
Keine Mühe macht es, die vielen Menschen um Veronica herum einzuordnen. Es gibt den Ehemann, den Liebhaber, die Kinder, die Nachbarn und vor allem jede Menge Dienstboten. Auch wenn der Film eine Figur nicht sofort eindeutig identifiziert, präzisiert er sie zumindest in Bezug auf ihre dem Film wichtigste Eigenschaft: den sozialen Status.
La mujer sin cabeza ist ein Film über das Personal, über die Dienstboten, über Krankenschwestern und Handwerker. Die bewegen sich um die verwirrte Veronica und managen ihr Leben, oft sind sechs oder sieben in einer einzelnen Einstellung versammelt, manchmal, aber nicht immer, im Hintergrund, der zum Vordergrund wird weil im Vordergrund Veronica steht, die mehr und mehr zu einer Leerstelle wird. Ein Leben führt Veronica, von dem sie selbst mehr und mehr abwesend zu sein scheint. Die Hierarchien sind nur scheinbar flach, dass Veronica überhaupt diesen Film durchsteht, verdankt sie der Tatsache dass die Dienstboten ihre Passivität durch unaufgeregte Zielgerichtetheit ausgleichen. Sie führen mit Veronica Gespräche, an denen Veronica eigentlich gar nicht beteiligt zu sein scheint und dies auch gar nicht sein muss: Sie antwortet nicht, aber der richtige Handgriff wird dennoch ausgeführt.
Die spröde, irritierende Filmsprache ist in La mujer sin cabeza mehr als nur vage Äquivalenz eines bourgeoisen Lebensstils. Sie ist die präzise filmästhetische Artikulation einer Klassendifferenz. Veronica kann sich die Abwesenheit vom eigenen Leben deshalb leisten (und der Film sich seine Ästhetik), weil neben ihr, am Bildrand und im Hintergrund, die Dienstboten darauf achten, dass alles seinen korrekten Gang auch dann nimmt, wenn die Anschlüsse nicht mehr stimmen und der filmische Raum diskontinuierlich wird.

In passing: DVDs

The Go Master, Tian Zhuangzhuang, 2006

THE GO MASTER erzählt die Lebensgeschichte des legendären Chinesischen Go-Spielers Wu Quingyuan (aka Go Seigen). Der in China geborene Wu verbrachte den Großteil seines Lebens in Japan und gilt als der herausragende Go-Spieler des letzten Jahrhunderts. Eingebettet ist seine Biografie in die historischen Auseinandersetzungen zwischen China und Japan vor allem während des Pazifikkriegs, deren Erbe noch längst nicht vollständig aufgearbeitet ist: Auch heute noch ist kein Land in China so verhasst wie der benachbarte Inselstaat. - Tian Zhuangzhuang inszeniert dieses Biopic im Stil seines Meisterwerkes SPRINGTIME IN A SMALL TOWN. Exakt komponierte Totalen, kaum Großaufnahmen, flüssige, langsame Kamerabewegungen und spartanische Ausstattung bestimmen den Look des Films. Gut aussehen tut das alles durchaus, auch wenn die Brillanz des Vorgängers bei weitem nicht erreicht wird. Das eigentliche Problem des Films ist aber, dass das elegante Produktionsdesign die Tatsache nicht verbergen kann, dass Tian Zhuangzhuang, eigentlich einer der herausragenden chinesischen Gegenwartsregisseure, hier schlicht und einfach nichts zu sagen hat. THE GO MASTER ist ein hohler Film, der gerne, wie es Tian etwa mit THE BLUE KITE noch geglückt ist, in der Spiegelung der großen Zeitgeschichte in der kleinen, persönlichen Biografie, die Geschichte als Ganzes in den Blick bekommen würde. Ein paar starke Momente entwickelt der Film durchaus, insbesondere in der Konfrontation Wus, der zunächst äußerst angetan ist von seinem Gastland, mit dem japanischen Nationalismus. Wenn aber Wu melancholisch in den karg eingerichteten japanischen Räumen herumsitzt, ins Leere starrt und die Go-Steine (über das Spiel lernt man rein gar nichts in dem Film, was nicht schlimm wäre, wenn der Film sonst genug zu bieten hätte) auf das adrett unscharfe Spielfeld setzt, während um ihn herum die Welt aus den Fugen gerät, so steckt da nicht viel mehr dahinter als ein wenig buddhistisch verbrämte regressive Mystik. Muss nicht sein.

Demnächst im Videodrom

The Blue Kite, Tian Zhuangzhuang, 1993

Tian Zhuangzhuangs THE BLUE KITE ist teilweise companion piece, teilweise aber auch Gegenentwurf avant la lettre zu Zhang Yimous ein Jahr später entstandenem TO LIVE. Beide Filme entwerfen episch angelegte Historienpanoramen, die in den ersten Jahrzehnten des kommunistischen Chinas situiert sind. THE BLUE KITE wählt Tietou als Fokus, einen Jungen, der in den frühen 50er Jahren zur Welt kommt. Sein Vater stirbt alsbald in einem Arbeitslager der neuen Machthaber und Tietou lernt nacheinander zwei Ersatzväter kennen, denen es letzten Endes nicht viel besser ergehen wird. Mit ihm leidet seine Mutter, die Lehrerin Chen Shujuan. - Ganz anders als das kraftvolle, tränenselige Hochglanz-Epos TO LIVE versucht sich THE BLUE KITE nicht an der bedingungslosen Melodramatisierung von Geschichte, sondern wählt einen zurückhaltendere, fast lakonische Stil. In langen Einstellungen beobachtet der Film die Anstrengungen seiner Protagonisten, in den Wirren der postrevolutionären Ordnung festen Boden unter den Füßen zu behalten. THE BLUE KITE ist ein komplexer Film, der auf eindimensionale Schuldzuweisungen verzichtet. So macht Tians Werk deutlich, dass die frühen Reformen der Maoisten im ländlichen China nicht nur enthusiastisch aufgenommen wurden, sondern auch reale Erfolge vorweisen konnten. Um so härter trifft die zunehmende ideologische Verhärtung und Verpolizeilichung des Systems die Bauern, die nach jahrhundertelanger Unterdrückung große Hoffnungen in ihre Befreier investiert hatten. THE BLUE KITE ist ein Historienfilm, wie man ihn leider viel zu selten sieht: inhaltlich wie ästhetisch komplex und dennoch nie prätentiös, gleichzeitig emotional und diskursiv, informativ und streitbar aber nicht manipulativ.

Demnächst im Videodrom, schon jetzt in Filmkunst

Monday, November 03, 2008

Upheaval, Lav Diaz, 2008

Upheaval ist eine gefilmte Tanzperformance (der erste Teil einer geplanten 15-teiligen installativen Arbeit, wenn ich das richtig mitbekommen habe). Das Genre "gefilmte Tanzperformance" hat mich bislang noch nie um den Schlaf gebracht und wird es auch in Zukunft nicht tun. Aber Upheaval ist eine gefilmte Tanzperformance der Lav-Diaz-Art. Eine Tanzperformance, in der die meiste Zeit gar nichts performt wird. Oder falls doch, dann ist dieses Performen nicht immer unterscheidbar vom ganz normalen Straßenleben einer philippinischen Großstadt.
Die statische positioniert sich am Rand eines Flusses. Das Ufer wird im unaufdringlich symmetrisch gegliederten Bildausschnitt zur Bühne, die urbane Umgebung zum Publikum. Rechts der Fluss, links eine Straße, im Hintergrund Hochhäuser.
Im Vordergrund sitzt zu Beginn eine Frau im weißen Kleid, im Mittelgrund sitzt eine andere auf einem nicht näher definierbaren Gestell und liest. Die Frau im Vordergrund beginnt zu tanzen, erst dreht sie sich, dann windet sie sich, wirft sich hin und her, das wirkt nicht direkt ekstatisch, aber doch ist das ein Tanz, der nicht organisch aus den Alltagsbewegungen entspringt.
Nicht allzu lange tanzt sie so. Irgendwann verschwindet sie einfach aus dem Bild. Im MIttelgrund sitzt immer noch die lesende Frau. Viel mehr als lesen wird sie während der 45 Minuten, die Upheaval andauert, nicht machen. Der Kreditsequenz nach zu urteilen, gehört sie dennoch zu den Performern.
Wenige Minuten nach dem Verschwinden der Tänzerin taucht ein Mann mit Gitarrenkoffer auf und setzt sich auf dasselbe Gestell, auf dem schon die lesende Frau sitzt. Er legt sich hin und scheint einzuschlafen.
Und das ist dann der Hauptteil der Performance. Sie liest, er schläft, neben ihm liegt der Gitarrenkoffer. Aber natürlich ist das nicht alles. Im Hintergrund fahren Autos über eine Brücke, vorne fahren andere Wagen auf die Kamera zu, manchmal laufen Kinder direkt an ihr vorbei und blicken auch mal scheu in ihre Richtung. Die Performance ist zu Alltag zergeflossen und wird sich schlißlich aus diesem heraus wieder neu konstituieren. Denn am Ende von Upheaval passiert noch einmal etwas und zwar nicht nur in dem Sinne, in dem bei Lav Diaz ohnehin immer etwas passiert. Was da aber in diesem Fall passiert, das sei hier nicht verraten.

Thursday, October 30, 2008

Berlin Kino, 30.10.-4.11.2008

Die Lav-Diaz-Retrospektive im Arsenal ist noch nicht ganz vorbei und allen, die sich bislang nicht dazu entschließen konnten, sei deshalb nachdrücklich Heremias empfohlen. Der ist am Samstag zwischen 15 Uhr und Mitternacht im dffb-Kino bei freiem Eintritt zu sehen. Heremias war meine erste Begegnung mit Diaz und hat mich seither nicht mehr losgelassen.

Neu im Kino startet Willkommen bei den Sch’tis, eine Provinzposse, die in Frankreich alle Kassenrekorde gebrochen hat, die man aber wohl eher weiträumig umfahren sollte. Außerdem Alexandre Ajas eventuell minimal interessanterer Horrorfilm Mirrors.

De Arsenal-Relaunch hat bislang ein wirres Programmheft hervorgebracht sowie die Aussicht auf eine leider extrem unambitioniert programmierte Clint-Eastwood-Reihe. Ansonsten bleibt wohl das meiste beim alten.

Im Zeughauskino startet eine umfangreiche Reihe von Filmen über den ersten Weltkrieg. Gleich am ersten Wochenende laufen Werke von u.a. Frankenstein-Regisseur James Whale und Ernst Lubitsch.

Wednesday, October 29, 2008

Death in the Land of the Encantos, Lav Diaz, 2007

Von den vier großen Lav-Diaz-Filmen, die ich bislang gesehen habe, hat mich Death... wahrscheinlich am tiefsten beeindruckt und sicherlich am nachhaltigsten verstört. So sehr verstört, dass mir hier nichts anderes möglich ist, als eine sehr vorsichtige Annäherungen an dieses Monstrum von einem Film.
Death... nimmt die Verwüstungen des Taifuns Durian zu Füßen des Vulkans Mayon als Ausgangspunkt. Nur eine Woche nach der Katastrophe begann Diaz dort zu filmen, die Zerstörung prägt den Film in jeder Hinsicht, eingestürzte Wellblechhütten, Trümmer, Kleidungsfetzen aber auch umgestürzte Bäume, Flüsse, die sich neue Wege gebahnt haben, Schlamm, Dreck. Kultur und Natur sind gleichermaßen am Boden.
Der Film ist dann eine einzige, delirierende und dennoch konsequente Öffnung hin auf dieses zerstörte Land. Death... wählt, ganz im Gegensatz zu den streng strukturierten, exakt konstruierten übrigen Filmen (inbesonder im Gegensatz zum unmittelbaren Vorgänger und zum unmittelbaren Nachfolger, zu Heremias und Melancholia, die sich über die einstündigen Segmente der Videotapes strukturieren), dafür eine fast völlig offene Form. Ausgehend von immer wiederkehrenden Trümmerbildern in grobpixeligem Schwarz-Weiß und dem in ihnen platzierten diaztypischen Antihelden Benjamin, einem Dichter und politischen Aktivisten, der aus dem russischen Exil in die Philippinen zurückgekehrt ist, unternimmt der Film Reisen in die unterschiedlichsten Richtungen und entfernt sich doch nie von seinem Anliegen. Mal bewegt sich Diaz ins Dokumentarische und Selbstreflexive (einmal sogar zurück zu Heremias), mal dialogreich in die politische Geschichte und Gegenwart der Philippinen, mal nach Russland (oder besser: in die Projektion eines Russlands als "country built against the sky"), mal nach Zagreb und Manila, hin zu einer anderen, von Vertikalen dominierte Raumorganisation, mal in philosophische und kunsthistorische Diskursfelder und immer wieder hin zu den zahlreichen Frauenfiguren des Films, zu den Frauen, die teilweise ineinander verschwimmen und deren ontologischer Status nicht in allen Fällen gesichert ist.
Vor allem diese in sich jeweils sehr unterschiedlichen Bewegungen hin zu den Frauen sind beeindruckend. Der Film scheint den Versuch zu unternehmen, so viel wie möglich auf diese Frauen zu projizieren, ohne, dass dabei freilich irgendwie ungebührlich Macht über sie ausgeübt würde. Gleich zu Beginn schneidet Diaz von einer langen Einstellung, die sich unsicher tastend über die verwüstete Landschaft bewegt, auf eine nackte Frau im Bett. Die Kamera schwebt dann mit genau derselben Unsicherheit und Vorsicht über diese Frau, minutenlang schreibt sie das Elend auf deren seinerseits makellosen Körper um. Später tauchen andere Frauen auf, Benjamins Mutter, eine Russin, eine tote Schwester, die Ex-Freundin Catalina etc und irgendwie scheint der mythische, brutale, wunderschöne Vulkan Mayon auch mit diesen Frauen, oder zumindest mit einer der vielen Ideen von Weiblichkeit, die der Film entwirft, zu tun zu haben. (Es gibt durchaus, und bei weitem nicht nur pro forma, auch femministische Diskurse in diesem Film und wie auch in anderen Diaz-Filmen ist die einzige Figur, die einen zumindest teilweise produktiven Weltbezug errreicht, eine Frau, nämlich Catalina, verkörpert von Angeli Bayani, die ein Jahr später in Melancholia eine sehr ähnliche Rolle übernehmen wird.)
Die ersten Stunden bewegt sich der Film frei durch Zeit und Raum, umkreist auf immer neuen Bahnen die reale Verwüstung, an der er sich entzündet. Doch je länger er dauert, desto mehr verlagert er seine ganze brutale Dynamik auf Benjamin, dem im letzten Drittel dann ein Martyrium bereitet wird, das in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht. Der eigentliche Beginn dieses Martyriums ist, nach einer längeren Passage, in der er ganz aus dem Film verschwindet, eine unglaublich intensive Szene in Manila.
Zunächst führt der Film die Stadt als einen Ort der bedrohlichen, grausamen Vertikalität ein, die erste Einstellung in Manila zeigt eine Straße, die an drei Seiten von finster glänzenden Hochhäusern umgeben ist, die jegliches Leben, jede Bewegung im Keim und in ihren Schatten ersticken. Nach einer kurzen Passage mit bewegter, desorientierter Kamera durch diesen vertikalen Alptraum findet der Film Benjamin in einem Cafe, im Hintergrund vorbeifahrende Autos, auf der Tonspur Straßenlärm. Benjamin sitzt und liest, irgendwann setzt sich ein weiterer Mann zu ihm, der sich als ein Mitarbeiter der Geheimpolizei und ehemaliger Folterer Benjamins entpuppt. Es folgt ein verbitterter und unerbittlicher Schlagabtausch, Benjamin wirft seinem Peiniger seine ganze Verzweiflung und den letzten Rest an Hoffnung, der ihm noch geblieben ist, entgegen, doch alles vergeblich. Als der Geheimpolizist verschwindet, haben sich die Lichtverhältnisse geändert. Benjamin ist nur noch eine schwarze Silhouette vor dem Hintergrund des hell erleuchteten Fensters, weiße Lichtreflektionen schimmern gespenstisch und überstrahlen die Silhouette. Im Grunde stirbt Benjamin bereits in dieser Einstellung, durch den restlichen Film bewegt er sich wie ein Geist.
Endgültig zum Gespenst wird er später (bei Lav Diaz muss so etwas immer gelesen werden als: Stunden später) in Catalinas Haus, im Wohnzimmer. Nach einem weiteren verstörenden Gespräch bewegt er sich zum Fenster, über sein Gesicht legt sich ein weißer, kalter Lichtstreifen wie eine Totenmaske.
Noch ein letztes Aufraffen ist ihm gegönnt, in seltsam aufrechter Körperhaltung unterhält er sich mit seinem Jugendfreund und ewigen Kontahenten Teodoro und breitet vor diesem sein ganzes Martyrium aus. Am Schluss dieses Gesprächs ist nicht nur Benjamin am Ende, sondern auch Teodoro, der sich bis dahin in Indifferenz geflüchtet und sich dabei gut gehalten hatte, der aber in dieser Szene zu einem zweiten Benjamin wird und nach dessen Tod sein Erbe antreten kann und muss.
Nun ist Benjamin bereit, ganz und gar und in jeder Hinsicht zu sterben. Der Film figuriert diesen Tod multiperspektivisch und multimodal. Eine längere Passage, in der Catalina und Teodoro Benjamin gegenüber einem zynischen Reporter verteidigen, verhindert ein Abgleiten in Fatalismus, unendlich bitter und verheerend sind diese letzten Stunden dennoch. Und erst recht die allerletzte Szene, eine schreckenerregende Miniatur irgendwo zwischen ins durch und durch Finstere gewendeter homoerotischer S/M-Fantasie (die Frauen sind sehr radikal abwesend in dieser letzten Szene) und klinisch reiner Grausamkeit (der Yuppie-Wandspiegel). Tiefschwarz und wie der gesamte Film sowohl physisch wie auch psychisch weit jenseits der Schmerzgrenze.

Wednesday, October 22, 2008

In passing

Geomen tangyi sonyeo oi / With the Girl of Black Soil, Jeon Soo-il, 2007

Zwei Kinder in einem koreanischen Bergdorf. Der Vater ist Minenarbeiter, im eindrücklichen Prolog wird seine Arbeitswelt präsentiert, düstere Stollen voller Dunkelheit, harter Stein, viel Staub. Staub ist auch in seiner Lunge, er bekommt eine Abfindung und will Fische verkaufen, beginnt aber vor allem, exzessiv zu trinken. Der Abstieg ist unaufhaltsam, die Talsohle eigentlich bereits nach der ersten Filmhälfte erreicht. Die zweite Hälfte erkundet dann in elegischen Bildern, wie das Leben in der Talsohle auschaut. Die Tochter passt währenddessen auf ihren Bruder auf, der zwar älter ist als sie, aber geistig zurückgeblieben. Die Szenen der allein gelassenen Geschwister erinnern bisweilen an Kore-edas Nobody Knows. Freilich übernimmt der Film im Gegensatz zu diesem nie ganz die Perspektive der Kinder. Diese Perspektive hätte dem Film manchmal gutgetan.

With the Girl of Black Soil ist hervorragend fotografiert, das vage wassertropfenförmige Bergdorf gewinnt durch die Plastizität der Bilder eine eindrückliche Präsenz. Deutlich schließt With the Girl of Black Soil an das aktuelle world cinema an, an dessen politischen Flügel vor allem. Nicht zufällig war Abderrahmane Sissako als Produzent beteiligt. Immer wieder schneidet With the Girl of Black Soil auch nach der Entlassung des Vaters auf die Maschinerie des Bergwerks, auf die schweren Eisenkolosse, die sich durch den Schlamm wälzen und Erde schichten, auf den dunklen Rauch der Schornsteine. Langsam aber unaufhaltsam, Einstellung für Einstellung, zerstört diese anachronistische Technik das Leben derer, die sie bedienen.

Die Tochter, das kleine Mädchen in seinem roten Wollpullover, wehrt sich vergeblich gegen diese Dynamik. Wie sie dann am Ende mit ausdruckslosem Gesicht an der Bushaltestelle steht, das ist dann vielleicht ein world-cinema-Klischee zu viel und in der Rückschau auf den gesamten Film muss man dann doch feststellen, dass With the Girl of Black Soil die portraitierte sozioökonomische Realität etwas zu widerstandslos in die world-cinema-Filmgrammatik übersetzt.

Flower in the Pocket, Liew Seng Tat, 2007

Noch ein Film über Kinder, diesmal aus Malaysia. Liew Seng Tat führt Regie, andere Schlüsselfiguren der malaysischen neuen Welle sind als Produzenten (Tan Chui Mui) oder Schauspieler (James Lee) mit von der Partie. Letzterer spielt einen allein erziehenden Vater, der sich wenig um seine beiden Söhne kümmert, weil er sich lieber mit Schaufensterpuppen (noch genauer: einzelnen Körperpartien dieser Puppen) umgibt als mit Menschen aus Fleisch und Blut. Sein Söhne spielen derweil mit toten Ratten, nehmen streunende Hunde auf, Freunden sich mit einer vorlauten Mitschülerin an und machen auch sonst nur Ärger. Sie gehören der chinesischen Minderheit Malaysias an, der kleinere der beiden spricht noch nicht malaysisch und ist in der Schule auf die Übersetzungsleistung der Klassenstrebenrin angewiesen.

Alles sieht so einfach aus und fügt sich doch zu einem durchaus komplexen Ganzen. Die Männergemeinschft, chronisch chaotisch und definiert über asynchrone Rhythmen (der Vater kommt spät in der Nacht nach hause, wenn seine Söhne bereits schlafen und schläft seinerseits tief und fest, wenn diese zur Schule gehen; Das Essen, das sich die beiden Generationen gegenseitig zubereiten, Abendbrot für den Vater, Schulbrot für die Kinder, wird von der jeweils anderen in die Mülltonne gekippt) spiegelt sich in der rein weiblichen Wohngemeinschaft der neuen Freundin der Söhne. Diese (sie gehört der muslimischen Mehrheit des Landes an) lebt mit Mutter und Großmutter in einer gepflegten, gut funktionierenden Wohnung.

Flower in the Pocket ist, wie viele andere Filme dieses neuen malaysischen Kinos (die große Ausnahme stellen die durch und durch politischen Essayfilme Amir Muhammads dar), ein Film über das Private, Alltägliche. Freilich verhandelt Liew Seng Tat die Spezifitäten des realen Malaysias direkter als Lee oder Tan Chui Mui über die vielfältigen Übersetzungsproblematiken, über das Sprachwirrwar (Englisch, Malaysisch, Mandarin), über kleine aber entscheidende Differenzen im Habitus zwischen Chinesen,Muslimen und Indern. Ein erstaunlicher, kleiner Film ist Flower in the Pocket trotz manchen Passagen, die durchaus auch auf die Nerven gehen können und trotz einer Tendenz zur harm- und sinnlosen Alltagslyrik, die die größte Gefahr dieses Kinos darstellt. Ein kleiner, erstaunlicher Film aus einer erstaunlichen Kinematografie, die aus den neuen Möglichkeiten der digitalen Technik entstanden ist und sich in rapider Geschwindigkeit jenseits (oder vielleicht besser: neben) dem klassischen europäischen Autorenfilmkonglomerat institutionalisiert. Nicht die neuen Schulen des (freilich oft grandiosen) Hollywoodspektakel sondern diese neuen Kinematografien in Südostasien sind anderswo werden eines Tages das Haupterbe der digitalen Revolution sein.

Bastards of the Party, Cle Sloan, 2008

Cle Sloan, früher selbst Mitglied der „Athens Park Bloods“ erzählt mithilfe von HBO und Antoine Fuqua die Geschichte der schwarzen Jugendgangs LAS seit den frühen Sechziger Jahren. Der historische Abschnitt des Films, der zwei Drittel bis drei Viertel der Laufzeit einnimmt, orientiert sich stark an der Argumentationslinie an City of Quarz, der stadtsoziologischen Studie des im Film auch immer wieder präsenten Mike Davis: Von den frühen Gangs als Schutzorganisationen gegen den Ku-Klux-Klan und seine Helfer über die Politisierung der Black Panther-Bewegung bis zu den Crips und Bloods als deren illegitimen Erben, den „Bastards of the Party“ des Titels. Einzig eine manchmal etwas sehr paranoid anmutende Lesart der Crackschwemme der Achtziger weist über Davis hinaus, vielleicht nicht ganz in die richtige Richtung.

Nach einem nervigen Beginn mit viel Flashs, Trickblenden und anderem Videoschnittprogrammsblödsinn wechselt die Dokumentation in soliden HBO-Modus. Den größten Mehrwert als Davis-Lektüreergänzung (mehr ist Bastards of the Party nicht, will es aber auch gar nicht sein, Davis‘ Buchcover wird gleich mehrmals eingeblendet) stellen sicherlich die Interviews mit ehemaligen Gangmitgliedern und anderen Beteiligten dar, den Interviewten sind die teilweise schon über vier Jahrzehnte identity politics auf sehr interessante Art und Weise in Gesicht und Habitus eingeschrieben.

Hickey & Boggs, Ropert Culp, 1971

Ein durch und durch seltsamer und durch und durch großartiger Neo-Noir aus New Hollywood. Robet Culp (auch Regie) und Bill Cosby (!) stolpern als Privatdetektive durch Los Angeles und geraten in einen Fall, in dem alle Beteiligten bereits nach kurzer Zeit komplett den Überblick verlieren. Es geht – nach einem Drebuch Walter Hills – um einen Haufen Geld, das eine, passenderweise von Rosalind Cash verkörperte Nicht-ganz-Femme-Fatale einer kriminellen Organisation, der sie einst selbst angehörte, entwendet hat.

Das Wesen dieser Organisation wird nicht genauer spezifiziert, sie institutionalisiert sich allerdings in ganz ähnlicher Weise wie dies auch eine gewöhnliche Versicherung tun würde, in geschmacklos eingerichteten Büros und fetten Autos. Auch die Bosse sehen aus wie bessere Gebrauchtwagenhändler, lediglich ein paar fieße Visagen in den Reihen der Handlanger (einige davon kamen mir außerordentlich bekannt vor, ohne dass ich sie hätte identifizieren können) hätten bei der Hamburg-Mannheimer schlechte Karten. Doch weder diese Organisation, noch die (deutlich schlechter organisierte) Polizei kann die Situation unter ihre Kontrolle bekommen. Und auch die Strukturen des Genres, auf das Hickey und Boggs zielt, ohne freilich je ganz Teil desselben zu sein, werden der Lage nicht Herr. Sowohl Culp als auch Cosby versuchen sich in Hard-Boiled-Manierismen, die aber ins Leere laufen, weil sie nicht länger die Rückseite handelnder, zielstrebiger und letzten Endes erfolgreicher Subjekte sind. Culps Alkoholproblem ist abwechselnd lächerlich und pathologisch, Cosby kann seine zerbrochene Ehe nicht mehr für sich selbst dynamisch wenden. Im Ergebnis wirkt Hickey & Boggs dann manchmal trashig, doch genau in diesen trashigen Momenten öffnet sich die ganze Komlexität des Films.

Hickey & Boggs (an der anhaltenden Obskurität des Films ist sein dämlicher Name vermutlich nicht unschuldig) spielt nicht im Dunkeln, nicht in dunklen Orten und nicht zu dunklen Zeiten, sondern fast immer im strahlenden Sonnenschein, meist auf der Straße, in der Mittagshitze. Im öffentlichen Raum, der freilich ein ambivalentes Terrain darstellt für die beiden Detektive. Einerseits bewegen sie sich in ihm souveräner als ihre Gegenspieler, setzen Parkuhren und andere Kontrollmechanismen außer Kraft, andererseits laufen sie sich in ihm fest und verlieren den Kontakt zu ihren eigenen, privaten Räumen.

Die herausragende Charakteristik des öffentlichen Raums in Hickey & Boggs ist seine Unbelebtheit, die Abweseneheit von Menschen. Die beiden Höhepunkte des Films (der freilich auch außerhalb derselben großartig ist, inszeniert in der fragmentarisierten Filmsprache New Hollywoods, die hier ausnahmsweise einmal ganz und gar Sinn macht, weil eine solche Geschichte gar nicht anders erzählt werden könnte) finden dann konsequenterweise in Orten der gesteigerten, weil emphatischen Öffentlichkeit statt (der erste im Footballstadtion, der zweite am öffentlichen Badestrand), die noch und ganz emphatisch menschenleerer sind. Im Footballstadion inszeniert Culp im Anschluss an eine erfolglose Kofferübergabe eine gnadenlose Maschinengewehrschlacht, die sich später am Strand noch einmal wiederholt und endgültig in den Exzess kippt. In Abwesenheit von Menschen werden diese öffentlichen Räume auch grafisch zu den abstrakten Räumen, die sie als soziale nach Lefebvres Terminologie ohnehin schon sind. Und so ist Hickey & Boggs neben allem anderen eben auch ganz direkt ein Film über die Desintegration sozialer Räume im Nachkriegsamerika.

Vieles verweist in diesen Szenen auf die Paranoiafilme, die später im selben Jahrzehnt entstehen sollten. Und eigentlich ist auch Hickey & Boggs genau das: ein Paranoiafilm. Allerdings verteilt sich die Paranoia gleichäßig über alle Beteiligte, über alle Orte und alle Geschehnisse, über jede einzelne Einstellung und wird gerade deshalb (weil ein Einnsatzpunkt fehlt, von dem aus die Paranoia als solche erkannt werden könnte, die Existenz eines paranoiden Systems setzt ja eigentlich voraus, dass es irgendwo anders ein zumindest etwas weniger paranoides gibt) nicht figurier- oder verhandelbar. Hickey & Boggs ist ein Paranoiafilm, der noch auf keiner Ebene weiß, dass er einer ist.

Gwai muk / Home Sweet Home, Cheang Pou Soi, 2005

Schon während der ersten Fahrstuhlfahrt im Hochhaus in Richtung neuer Wohnung rappelt es hinter der Wandverkleidung, ein Augenpaar blitzt zwischen den Ritzen und bald ist der Sohn verschwunden. Der Vater ist bald auch außer Gefecht gesetzt, die Mutter stürzt sich in das Gewirr von Lüftungs- und Aufzugsschächten, in denen ein überraschend reales Wesen seinem Tagwerk nachgeht.

Home Sweet Home ist zwar sehr straight und verschwendet nicht viel Zeit mit Expositionen, ist aber dennoch ein unreiner Horrorfilm und deshalb sicher nicht jedermanns Fall. Das Familienmelodram, das noch in fast jedem asiatischen Horrorfilm zu finden ist, expandiert weit über seine Funktionalität für die Genredynamik hinaus und wird zusätzlich mit einer Prise faux-Sozialkritik aufgeladen. Die Spannung zwischen beiden Elementen ist nicht immer eine produktive, gegen Ende wirken die Bemühungen, dem längst vollständig ins Melodram gekippten Plot noch ein wenig Grusel abzugewinnen, allzu bemüht. Das Melodram selbst steigert sich aber dermaßen in den Exzess, dass man an ihm alleine auch seinen Spaß haben kann.

Davor ist Home Sweet Home ohnehin ausgezeichnet Geisterbahn. Wunderschöne, rasante Kamerafahrten zerlegen die gigantischen Hochhäuser, deren tatsächliche Größe der Film erst ganz am Ende preisgibt, in immer neue Stahl / Beton / Glas-Arrangements. Agilität ist, wie in allen guten Hongkongfilmen, wichtiger als Folgerichtigkeit.

La frontiere de l’aube, Philippe Garrel, 2008

Louis Garrel stolpert schon in der ersten Einstellung die Straße mehr schlecht als recht herunter und den aufrechten Gang wird er in diesem Film, über den er nicht den Hauch von Kontrolle hat (bisweilen kommt es einem so vor, als ob auch Philippe Garrel die Kontrolle über das verliert, was er da in die Welt gesetzt hat), nicht lernen.

Zwei aufeinanderfolgende Liebesgeschichten erzählt La frontiere de l’aube, zweimal l’amour fou, einmal sogar bis über den Tod hinaus. Laura Smet als „Filmstar“ (ja, sicher) Carole ist die erste Gespielin, Louis‘ Francois fetischisiert sie und ihre durch und durch unmotivierten selbstzerstörerischen Exzesse genauso wie die Kamera seines Vaters. Immer wieder filmt letztere ihren gesamten Körper im Bett, wie sie ausgestreckt, mit audruckslosem Gesicht, Dinge sagt und tut, die man ihr nicht abnehmen kann und wahrscheinlich auch nicht soll. Ihr finaler Drogen+Alkoholexzess ist kein Kontrollverlust, ein solcher würde vorher vorhandene Kontrolle voraussetzen und also eine Instanz, die eine solche Kontrolle ausüben hätte können, nicht unbedingt gleich ein Subjekt, aber doch wenigstens ein Selbstkonzept und so etwas besitzt Garrels Carole zu keinem Zeitpunkt. In diesem letzten Hotelzimmer gleichen sich einfach nur die motorischen Fähigkeiten dem Geisteszustand an, mehr ist da nicht.

Die zweite Frau ist Clementine Poidatz‘ Eve und La frontiere de l’aube wird mit ihrem Auftauchen weniger abstrakt und dafür in gleichem Maße schrecklich blöde, platt, naiv und großartig. Eve ist Standardbourgeoisie mit dümmlichem Lächeln im Gesicht, readymade-Hausfrauenmentalität sowie öden Frauenproblemen und sie verbürgerlicht Francoise in Windeseile, lässt sich von ihm ein Kind machen, will ihn heiraten und bald unterhält er sich auf der Straße mit alten Kumpanen übers Windelwechseln (wobei Louis Garrel auch bei diesen Gesprächen so ganz grundlegend verwirrt in die Welt blickt, wie nur er es kann – und wohl auch nur in den Filmen seines Vaters, in Les Chansons d’amour hat’s letztens nicht so recht klappen wollen trotz sichtlichem Bemühen). Eve besitzt zwar ebenfalls keine Subjektivität jenseits von Mutterinstinkt und ähnlichem (der Witz an der Sache ist allerdings, dass auch Francoise selber zwar eine hat, aber nur in sehr begrenzten Maße über sie verfügen kann und dass sie den Film nur in sehr problemtaischer Weise bestimmt), macht aber eben auch nichts, wofür sie so etwas gebrauchen könnte.

Nun ja, und dann taucht irgendwann Caroles Geist erst im Wald, dann im Spiegel auf, um Francoise vor dem Spießertum seiner Neuen zu retten. Nicht ein bisschen distanziert sich Garrel von dem grandiosen Unfug, den er da anstellt, sondern schwelgt in wunderschönen neoromantischen Miniaturen, die nicht selten mit altmodischen Irisblenden begonnen oder beendet werden: Francoise vor dem Spiegel, Francoise im Bett, Francoise verwirrt auf der Straße, mal mit, mal ohne Frau, kaum eine dieser Szenen, denen es nicht um Entwicklungen, sondern um das kurze Aufscheinen von Fetischbildern geht, dauert länger als eine Minute, fieberhaft eilt der Film von Bild zu Bild, und das Handlunsganze ist dann zwar manchmal schon (und manchmal auf die falsche Art) folgerichtig, aber diese punktuelle Folgerichtigkeit ist nie das, worauf es ankommt. Zumindest hoffe ich das. Tatsächlich hoffe ich (und glaube ich), dass es gerade aufs Nicht-Folgerichtige ankommt in diesem dann doch vor allem anderen großartigen Film.

Manila sa mga pangil ng dilim / Manila in the Fangs of Darkness, Khavn de la Cruz, 2008

Bembol Roco läuft als Kontra Madiaga durch Manila und schaut dabei denkbar finster drein. Im grünlichen Licht, in das Khavn seine Großaufnahmen taucht, sieht Kontra, glatzköpfig, muskulös und vernarbt, fast aus wie Hulk. In einem multimodalen Monolog aus Schrifteinblendungen und verschiedenen Voice-Over-Kommentaren lässt sich Roco über das Elend der Welt aus und erzählt von einem Rachefeldzug, den er gegen die Welt im allgemeinen und Manila im besonderen zu führen hat und dessen Durchführung der Film dem Zuschauer nicht vorenthält. Rohe Gewalteinbüche, jede Menge spritzendes Blut in billigster Videotrashoptik.

Freilich lässt Manila in the Fans of Darkness offen, in welchem Verhältnis Kontras Gewaltexzesse zu den Spaziergängen durch Manila stehen. Sie gehören nicht auf dieselbe Realitätsebene, sind aber auch keine einfachen psychischen Projektionen. Ebensowenig stellen die Filmausschnitte aus Lino Brockas Manila in the Claws of Light und anderen Roco-Streifen, die Khavn in seinen Film montiert, Erinnerungen und / oder Rückblenden dar. Manila in the Claws of Light ist ein durch und durch synthetischer Film, der seine unterschiedlichen textuellen Ebenen nicht hierarchisch ordnet, sondern immer wieder neu durcheinander wirft.

Manila in the Claws of Light, Brockas Film aus dem Jahr 1975 (den ich leider nicht kenne), dient als Ausgangspunkt. Dort verfolgte derselbe Schauspieler in derselben Rolle seine Geliebte Ligaya auf einer romantisch-blutigen Odyssee durch die philippinische Gegenwart. Auch der neue Kontra verfolgt eine Ligaya (die freilich nicht von derselben Schauspielerin verkörpert wird wie die alte), obsessiv und hoffnungslos hängt er sich an ein Mädchen im weißen Kleid, das ebenfalls scheinbar ziellos durch Manila irrt.

Khavns Film inszeniert zwanghafte Wiederholungen mittels assoziativer Montagen. Immer wieder wechselt der Film von der vermeintlichen Erzählgegenwart (im aktuellen Manila mit dem Hulk-Kontra) in die Filmgeschichte, vermittelt durch filmgrammatische Anschlüsse: Der Gegenwartskontra öffnet eine Tür, die vom filmhistorischen Kontra wieder geschlossen wird, Brockas Kontra entzündet ein Streichholz, Khavns Kontra entfacht damit ein Lagerfeuer. Die Geschichte der Gewalt und der Demütigung pflanzt sich quasi von selbst fort und schaltet sich selbst kurz, ohne, dass irgendeiner der von ihr Betroffenen sich dagegen zu wehren vermag.

Manila in the Fangs of Darkness schichtet defizitäre Bilder. Die (nennen wir sie der Einfachheit halber auch weiterhin so) Gegenwart gehört der billigen digitalen Handkamera, absurde Licht / Schattenwechsel vertreiben noch den letzten Rest der klassischen Kinoillusion. Manchmal beobachtet diese Kamera den laufenden Kontra von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, schwankend, verunsichert und verunsichernd, sehr ähnlich wie in der unglaublichen, fast vierzigminütigen zweiten Einstellung von Raya Martins Autohystoria (ein Film, der überhaupt einiges gemeinsam hat mit Manila in the Fangs of Darkness). Ziellose, fast mechanische Bewegung durch den postkolonialen urbanen Raum, der sich durch diese nicht erschließen lässt, aber in dem Bewegung die einzige mögliche Existenzform ist. Die Filmklassiker sind offensichtlich von alten, abgewirtschafteten Videotapes abgefilmt, Digital- und Videoartefakte überlagern sich gegenseitig, zusätzlich wird die Originaltonspur durch elektronische Rhythmen ersetzt. Geschichte entsteht in diesem Kino direkt aus solchen Defiziten, wird geborgen aus den Fehlern, aus Rauschen und Knacken, aus Flirren und falschen Farbwerten, aus ungenauen Anschlüssen und korrupten Parallelmontagen.