Sunday, May 31, 2015

in passing

Nachtspiele, Werner Bergmann, 1979

Zwei mal zwei Menschen im Interhotel. Die einen fliehen vor ihren jeweiligen Ehen, die anderen versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Man muss sich scheint's an der Rezeption vorbeischleichen, wenn man mit jemand aufs Zimmer will, der dem Empfang nicht bekannt ist. Wenn man aber einmal vorbei ist, dann ist das Interhotel ein Ort der Freiheit. Ein relativer, wenigstens. Das jüngere, noch nicht gar so defekte Paar bekommt es gelegentlich mit einer Aufpasserin zu tun, die darauf achtet, dass das Bettzeug nicht abgefackelt wird. Ich habe bis zum Ende nicht so recht verstanden, was die beiden sich von dem Aufenthalt versprechen. Er vermutlich besseren Sex, aber dass das nichts wird, hätte er sich auch vorher denken können. Eigentlich geht es dem Film genauso: Das möchte gerne frivol sein, aber das läßt die defa nicht zu, deshalb muss er sich andere Sachen ausdenken, psychologisieren, ein wenig moralisieren. Zum Glück auch: melancholisieren.

Immer wieder eine Kamerafahrt, die die Aufzugsbewegung simuliert: Man hebt, mechanisch und wie schwerelos, vom Boden ab, gleitet nach oben, ohne dass man noch selbst etwas dazu tun müsste. Ganz oben eine Bar von einer weltläufigen Lässigkeit, die angesichts der funktionalen bis tristen sonstigen Interieurs des Hotels überrascht.

Das Traumhaus, Ulrich Schamoni, 1980

Das wunderbar verkramte Haus aus "Chapeau Claque" haben jetzt, so kann man sich das zurechtlegen, drei in den Tag hinein lebende Aussteigerinnen bezogen, und ein junger Mann, der als Koch arbeitet, wenn ich das richtig verstanden habe im ICC, das ein Jahr vor Entstehung des Films gebaut wurde und in einer Szene von den Figuren wie ein Raumschiff bestaunt wird. Überhaupt geht es im ganzen Film darum, dass es überall eine neue, aggressive Bausubstanz gibt, die das verkramte, morsche, inzwischen mehr oder weniger mit der Natur verwachsene und jedenfalls gänzlich unproduktive Haus und das ebenfalls gänzlich unproduktive Leben der vier darin (noch nicht einmal eine einzige Liebesbeziehung zeichnet sich ab, bevor dann irgendwann Horst Frank auf der Matte steht) bedroht. Der Witz wird dann am Ende darin bestehen, dass nicht die knallharte Immobilienhaiin Judy Winter (die einen großartig verruchten Augenaufschlag drauf hat), sondern Franks paternalistische soft skills dem Lebensstil der langen 70er den Garaus machen werden.

So richtig lustig ist der Witz nicht... Und toll ist an dem Film eh eher, wie sich die vier in und mit dem Haus arrangieren, wie sie trotzig darauf bestehen, das Haus nicht funktional zu halten und auch selbst keine funktionalen Individuen zu werden. Wie sie sich den Zumutungen der Immobilienbranche und des weichgespülten Patriarchats (vielleicht auch: den Zumutungen eines etwas übereifrigen Drehbuchs) einfach gar nicht erst stellen, sondern lieber: rumlümmeln. In ausgewaschenen T-Shirts und rosa Trainingsanzügen abhängen. Zusammen mit vielen, wunderbaren Tieren.

Leslie Malton und (vor allem) Jakobine Engel: zwei Wahnsinnsentdeckungen, spektakulärere Nichtstuerinnen hat das deutsche Kino selten gesehen. (Horst Frank und Judy Winter sind auch toll - aber nur, wenn sie die Kids in Ruhe lassen und ihre eigene Romanze aufwärmen, vor einer westberliner early-Yuppie-Kulisse, von der ich auch nicht gewusst hatte, dass es sie jemals gab.)

Tuesday, May 26, 2015

Drop Zone, John Badham, 1994

Ein billiges "Point Break"-Rip-Off? Kann sein, aber wenn, dann ein großartiges billiges "Point Break"-Rip-Off. Es hat sowieso wenig bis nichts soviel Unheil in der Filmkultur angerichtet wie dieser unsägliche Originalitätsfetisch. Ist es auch nur irgendwie hilfreich, das Verhältnis zwischen Filmen auf einen Begriff wie "Rip-Off" zu reduzieren? "Das Neue" mag ein wichtiger Begriff für die Kunstsemantik sein, für die Populärkultur ist er unbrauchbar. Und "Originalität" ist "das Neue" unter Marketingsgesichtspunkten. Man spricht, wenn man Originalität fordert, die Sprache der Industrie, die Originalität erfunden hat, um Urheberrechte durchzusetzen.

Wäre es nicht viel interessanter, zum Beispiel von Meister-Schüler-Verhältnissen zu reden? "Point Break" wäre dann der Meister, "Drop Zone" ein ungemein talentierter, aber überhaupt nicht streberhafter Schüler, der die beiden Fallschirmszenen aus dem Meisterfilm nimmt und zu einem eigenen Spielfilm aufbläst. Und dabei zeigt, wie verdammt lebendig ein Film sein kann, wenn er sich nicht um Originalität schert. Wenn er sich statt dessen darauf konzentriert, Menschen im freien Fall zu filmen (in einigen der schönsten Green-Screen-Aufnahmen ever), beziehungsweise: Menschen so zu filmen, als wären sie auch dann schon im freien Fall, wenn sie noch festen Boden unter den Füßen haben.

Der Sprung in die Tiefe, der freie Fall reißt alles mit sich, neben ihm kann nichts bestehen, kein eher dämlich konstruierter Agentenfilmplot, keine Liebesgeschichte, keinerlei Psychologie: Sowohl Wesley Snipes als auch Yancy Butler vergessen, wenn sie das erste Mal gemeinsam aus dem Flugzeug springen, in Windeseile ihre beiden verstorbenen Liebsten, deren Tod sie doch eigentlich dazu motivieren sollte, einerseits die bad guys zu fangen und andererseits einander in die Arme zu fallen. Gut, dass letzteres nicht passiert, liegt auch am Hollywoodrassismus; aber auch der schmilzt im freien Fall dahin - die Rituale der sehr weißen Fallschirmspringerprofiprollsnobs sehen ziemlich alt aus gegen Wesley Snipes' kindliche Begeisterung am einfach-so-aus-einem-kilometerhoch-über-der-Erde-fliegenden-Flugzeug-Springen. Erst durch den Neuankömmling (mit dem sie zunächst gar nicht reden wollen) merken sie wieder, was für ein großartiger Wahnsinn das ist, den sie betreiben. Und sie lernen, die Todessehnsucht, die sie selbstverständlich von Anfang an umtreibt, bedingungslos zu bejahen und immer Kopf voraus in die nächste Gefahr hinein zu springen.

Allein, wie Corin Nemec vor seinem Fast-Todessprung eifrig den Kopf aus dem Flugzeug herausreckt... Oder wie großartig agressiv Yancy Butler in jeder einzelnen Szene ist und wie diese Agressivität dann in ihrem letzten freien Fall, wenn der Wind um ihr Gesicht pfeift, stillgestellt wird. Kopf voraus in den Abgrund - eigentlich ist das der gesamte Film. Auch der gar nicht mal unbedingt immer komplett entfesselte Gary Busey (entfesselt muss er gar nicht sein, weil um ihn herum eh eine einzige Ekstase herrscht, die er mit seinem wiederholt strategisch eingesetzten schiefen Grinsen natürlich gleichwohl noch einmal zu potenzieren weiß) stürzt natürlich Kopf (beziehungsweise: Zähne) voraus in den Tod, sein Kumpan rast ihm mit dem Lastwagen "entgegen", was physikalisch wenig Sinn ergibt, aber der rauschhafte freie Fall transzendiert nunmal auch Dimensionsgrenzen.

Wie lebendig das Kino der Neunziger Jahre war, wie farbig vor allem. Alles leuchtet um die Fallschirmspringer, in der Luft sowieso, aber auch schon vorher im Flugzeug, oder nach der Landung am Boden, in den beknackten Fallschirmspringerbars und den noch ziemlich klobigen Hochhäusern, in denen klobige Computer rumstehen und das noch schön geschmacklos grelle Licht der Frühdigitalisierung verbreiten. Wie alles andere ist alles Licht künstlich und versucht gar nicht erst, seine Künstlichkeit zu verstecken. Vielleicht ist der freie Fall nichts anderes als die letzte mögliche Flucht vor der Künstlichkeit, die ihrerseits den freien Fall zwar (komplett; grandios die Aufnahmen der Fallschirmspringer vor neongestreiften Hochhausfassaden) rahmen, aber die am Ende doch nicht zu seinem Medium werden kann. Die digital-neonfarben-kapitalistische Künstlichkeit der Neunziger bleibt zwingend positivistisch, der Anhäufung von Zeug, Attraktionen, Farben, Musik (Hans Zimmer!), Frisuren, Gesten verpflichtet, ist nicht in der Lage, ein Nichts, eine Abwesenheit, in die man hineinfallen kann, zu denken. Nichts ist authentisch außer dem Boden, den ich unter den Füßen verliere.

Friday, May 22, 2015

Oberhausen Profiles: Vipin Vijay

The Egotic World / Unmathabudham Jagath eröffnet das Profile-Programm und scheint auch sonst in jeder Hinsicht der Ausgangspunkt des Werks zu sein: ein gut halbstündiger 16mm-Film, entstanden als Abschlussfilm am Satyajit Ray Film and Television Institute, kompromisslos sowohl in seiner kosmologischen Ambition, als auch in der poetischen Radikalität der Bildsprache. Verschiedene Erzählungen stehen nebeneinander, kommentieren sich, durchkreuzen sich, einige bleiben ganz im Mündlichen, andere ganz im Bildlichen. Es gibt auch ein Industriegebiet in der Welt des Films, aber hauptsächlich zeigt er Aufnahmen von weitem Land, von wilder, aber darum nicht unberührter Natur; vielleicht kann man tatsächlich sagen: von berührter Natur, von einer Natur, die von einem eigenwillig transformativen Kamerablick berührt wurde und sich deshalb verändert hat (besonders im Gedächtnis haften bleibt ein langer, langsamer Schwenk in der Totalen, mit Fischaugenoptik, ein Schwenk, der alle Geschichten suspendiert), die manchmal auch ganz konkret von Menschen berührt wird, von einem nackten jungen Mann zum Beispiel, der sich in einen Baum kauert. (Andere Assoziation: Der Film ist wie in kursiv gesetzt.)

Dieser Mann ist nicht identisch mit der Autoreninstanz des Films, erst recht ist er nicht Ursprung all jener Erzählungen, die der Film in kreativer Unruhe hält; aber er ist doch eine Art Zentrum als das eine empfindsame Subjekt (Künstlersubjekt?), auf das alle Bilder, Erzählungen und Soundereignisse (die sowieso eine Sache für sich sind... ich muss den Film bald noch einmal sehen) projiziert werden.

Die anderen Filme unterscheiden sich von The Egotic World vor allem dadurch, dass eben dieses Künstlersubjekt wegfällt.

Die Bilder- und Erfahrungsräume, die weiterhin auch innerhalb der einzelnen Filme denkbar disparat bleiben, müssen auf andere Art zusammengehalten werden. Genauer gesagt: In den kurzen Arbeiten A Perfumed Garden und Broken Glass, Torn Film müssen sie gar nicht zusammen gehalten werden, die bestehen nur aus einem einzigen Bilderrausch, der halt irgendwann endet. Unglaublich großartige Bilder findet Vijay in A Perfumed Garden in einem Supermarkt, in dem, glaube ich mich jedenfalls zu erinnern, ein Mann ungestüm auf die Kamera zurennt, so als wären die Waren ihm plötzlich nicht mehr geheuer.

Dann gibt es zwei Filme, die vom Format zusammengehalten werden: zwei Dokumentarfilme, einer (The Razor's Edge) über Rituale (Untertitel: A Video With Oracles), ein zweiter (Venomous Folds) über ein schwer bestimmbares Thema, eventuell den Tod. In beiden steht Sammeln (von Bildern, Tönen, wiederum: Geschichten) weit vor dem Ordnen. In Venomous Folds gibt es eine grandiose  Szene mit einem Schlangentrainer, der über seine Arbeit erzählt, während um ihn herum jede Menge Kobraslauern, mit erhobenem Kopf.

Vijays vielleicht tollste Arbeit ist wieder völlig anders: Video Game ist ein mittellanger Essayfilm, der direkt auf den Ausgangspunkt, auf The Egotic World zurück verweist: Jemand (Vijay? Eine Filmcrew? Oder nur eine Voice-Over-Stimme?) kehrt zu den Drehorten dieses ersten Films zurück und denkt dabei nach über Filmontologisches und Video-Mnemotechnik, über das Selbstverständnis von Kunst und das erotische Potential von Autos (Ballards Crash wird als Inspiration genannt; Cronenberg ist auch nicht weit). Der Voice Over verleiht dem Film an der Oberfläche eine Festigkeit, die den anderen fehlt. Die Bilder und Gedanken sind dafür nur umso freier.

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Das Gespräch nach dem ersten der beiden Filmprogrammen: Olaf Möller stell Vijay ziemlich spezifische Fragen, zB nach einzelnen Namen in den Abspännen, Vijay biegt seine Antworten schnell ins Grundsätzlichere ab, beginnt auf eine ziemlich großartig atemlose Art zu dozieren, durchaus theorielastig. Wenn er mit einem Gedanken fertig ist, beginnen sich seine Hände hektisch zu bewegen, als versuche er, die Reflexionsmaschine wieder anzukurbeln.

Friday, May 15, 2015

Million Dollar Crocodile, Lin Li Sheng, 2012

Ein Kleinod des allegorischen B-Films...
Das gesamte chinesische Kommerzkino der Gegenwart scheint mir dominiert von einer Semantik des Geldes. Dabei geht es primär nicht etwa um den Wunsch, mehr davon zu verdienen, sondern um die Angst, das, was man hat, wieder zu verlieren (kein Wunder, Kino ist in China, vielleicht mehr noch als überall sonst, das Medium der - in diesem Fall stets: neuen - Mittelklasse). Warum aber ist das Geld in Gefahr? Die geniale Antwort von MDC: weil ein computeranimiertes Krokodil auftauchen und all die vielen, schönen Geldscheine einfach auffressen könnte. Dass nicht das überdimensionierte Reptil das Problem ist, sondern sein Appetit auf geldscheingefüllte Handtaschen, mag aus einer Horrorfilmperspektive überraschen, ist in diesem Sinne allerdings gerade der Punkt; und nicht nur im sonderbaren Krokodilappetit, sondern fast noch mehr in Barbie Hsus grandios überspielter Hysterie artikuliert sich die Macht des Geldes noch in einer ursprünglichen, nicht durch überlieferte Mechanismen der Einhegung und Absicherung abgemilderten Irrationalität, die untergründig auch die vielen beknackten chinesischen RomKoms der letzten Jahre antreiben dürfte.

Tuesday, May 12, 2015

I Want to Be a King, Mehdi Ganji, 2014

Abbas hat es geschafft, seiner Vergangenheit zu entkommen. Nicht wirklich klar wird, worin diese Vergange der materiellen Not vor allem: er erzählt von seinem Leben als Straßenverkäufer in der Großstadt, von seinem Aufwachsen in einer bettelarmen Großfamilie, außerdem davon, wie sein Unternehmergeist durch die Begegnung mit europäischen (?) Reisenden erwacht ist, die ihn für die Kochkünste seiner Frau loben. (Das ist schon so gedacht, von ihm, vielleicht auch wirklich von den Touris: Ihn für ihre Künste...)

Dass seine Vergangenheit keine lineare Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte entlang kapitalistischer Dramaturgien gewesen sein dürfte, kann man sich spätestens dann denken, wenn er auf seine Zeit in der Armee zu sprechen kommt, oder eben nicht so recht auf sie zu sprechen kommt, sich in Andeutungen verliert, dabei allerdings seine Uniform stolz vorführt. Erst recht kann man sich das natürlich denken, weil er eine Reihe ziemlich offensichtlicher Psychosen mit sich herumschleppt, beziehungsweise an seiner Familie ausagiert. (Nicht alles wird erklärt im Film; zum Beispiel auch nicht, was die Spritzen, die er sich subkutan setzt, enthalten.)

Der einen Vergangenheit ist er entkommen, jetzt will er in eine andere zurück: Um das Ökotourismusgeschäft so richtig anzukurbeln, möchte er einen Stamm gründen, der dafür sorgen soll, dass das Tal in dem er lebt, bald wieder so aussehen wird wie "der Iran vor 200 Jahren". Weil seine Frau das gebährfähige Alter überschritten hat und der einzige Sohn, den sie ihm geboren hat, als Stammhalter nicht taugt, sucht er sich eine Zweitfrau - und setzt damit seine Familie aufs Spiel; oder vielleicht eher: zerstört die alte, kleine Familie bewusst, um Platz zu schaffen für eine andere, größere. Offensichtlich nur für die Kamera inszeniert er die Versöhnungsversuche mit Mutter, Sohn und vor allem seiner energischen, äußerst schlagfertigen Tochter.

Wenn gegen Ende in einer beängstigend intensiven Szene Abbas' Hass nicht nur auf seine Angehörogen, sondern auf sein bisheriges Leben doch noch ungefiltert aus ihm heraus bricht, dann artikuliert sich darin nicht nur die Psychose eines Einzelnen, auch nicht nur ein wild gewordenes Patriarchat; seine nicht länger sublimierte Aggression macht auch die regressiven Abründe sichtbar, die sich hinter der touristischen Sehnsucht nach dem Ursprünglichen verbergen.

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Wie eine staatsbürokratische Variation darauf kommt mir Zhou Haos A Chinese Mayor vor: Ein Provinzbürgermeister will einer geschichtsträchtigen chinesischen Kleinstadt wieder zu altem Glanz verhelfen und lässt dafür gewaltige antike Paläste aufbauen: "In the future, Datong will be an ancient city". Auch das geht auf die Kosten seiner Frau, die sich ob der das Privatleben auffressenden Vergangenheitsobsession ihres Gattens einmal den Aufstand probt und ihn anherrscht, während sie gemeinsam, zwischen zwei Meetings, in einem Aufzug stehen (ein möglicher Ansatzpunkt einer Kulturgeschichte der Gegenwart: der Aufzug als letzter möglicher Ort der Konfrontation). Unangenehm allerdings, dass Zhou sich, anders als Ganji, mit dem Anliegen seines Protagonisten weitgehend identifiziert.

Saturday, May 09, 2015

Lenz, George Moorse, 1971

Ein Film über ein Gesicht, das Berge zum Erbeben bringt. Und über einen Körper, der von innen leuchtet (fantastisch immer wieder: der Wechsel von außen nach innen, von den archaischen Schneepanoramen in eine stummfilmartige Ästhetik, in denen Menschen zu trüb schimmernden Lichtquellen werden). Gesicht und Körper gehören Michael König, der diesen monomanischen Film von Anfang bis Ende dominiert. König ist in "Lenz" überlebensgroß, das eine, überindividuelle, erotische Zentrum der Welt, neben dem alle anderen Menschen zu Stichwortgebern, alle anderen Gesichtern zu Masken verkümmern; und doch ist König nur ein dummer, trotziger Junge - wenn er seine Umgebung kleinkinderartig negativistisch anblafft, fällt die ganze teils ins Mystizistische oder wenigstens Christologische spielende Schwere in sich zusammen. Und dann merkt man, dass sie von Anfang an brüchig war, dass es von Anfang an nicht um Metaphysik geht, sondern lediglich darum, eine Handvoll grundsätzlich ziemlich gut nachvollziehbarer selbstzerstörerischer Affekte zu bündeln und zu isolieren. Bis irgendwann nichts mehr anderes außer ihnen existiert, vor allem kein Ventil, keine Kommunikation. Anders ausgedrückt: Der Film lässt nachfühlen, wie bloße Bockigkeit ohne allzu viel Drama (ein paar "Frauenzimmer" reichen; ob die lebendig oder tot, real oder eingebildet sind, ist zweitrangig) in eine ausgewachsene schizophrene Psychose umkippen kann.

Moorse macht das nachfühlbar, indem er sich nicht mit dem Kranken selbst, aber mit Aspekten seiner Wahrnehmung gleichmacht. Immer wieder gibt es in diesem zwar exzentrischen, aber kaum manierierten Film lange Schwenks, die die Welt abtasten, aber sich nicht so recht auf einzelne Objekte festlegen wollen, die einzelne Menschen, Gegenstände, Attraktionen streifen, links liegen lassen, weiter streben, nirgendwo ankommen. Einmal zeigt eine Totale die Treppe vor einem Bauernhof, auf der sich einige Frauen zu schaffen machen, dazu hört man, mehrere Strophen lang, ein obszönes Spottlied. Kamerablick wie Lied objektifizieren Frauen - aber auf jeweils unterschiedliche, miteinander inkompatible Weise. Angetrieben wird der Film, schien mir in solchen Szenen, von Lenz' Suche nach irgendjemand oder irgendetwas, den oder das er nicht als Objekt, sondern als ein anderes Subjekt, als mit sich gleichwertig ernst nehmen kann - zweitrangig erst einmal, ob das nun ein weibliches Subjekt ist, ein männliches, oder zur Not auch ein religiöses. Toll an dem Film ist, dass er diese Suche weder soziologisch, noch therapeutisch rahmt; weder also steht Lenz ein für irgendeinen Aspekt der gegenwärtigen conditio humana, noch muss er verstanden und geheilt werden. Er darf sich winden, heulen, beben und dabei gut aussehen. Das reicht.

Lenz wurde seinerzeit mit hymnischen Kritiken, Filmpreisen und -prädikaten überhäuft. Die literarische Vorlage vor allem scheint ihn für eine kurze Zeit zum Lieblingsfilm des Bildungsbürgertums erhoben zu haben - warum allerdings hat er dann nicht den Weg in den Kanon und (dafür scheint er geradezu prädestiniert) den Deutschunterricht gefunden? Gut möglich, dass Rechteprobleme oder Ähnliches einen Anteil daran haben. Aber es dürft auch am Film selbst liegen; an seiner mit etwas Abstand kaum verkennbaren Nähe zum Drogenkino der 1970er vielleicht (man kann sich ohne Probleme einen "impressionistischen" Film über Heroinentzug vorstellen, der zu zwei Dritten aus demselben Bild- und Tonmaterial besteht); an seinem etwas zu nachdrücklichen Drall ins offen Selbstzerstörerische, Selbstmörderische vor allem.