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Thursday, November 28, 2019

Konfetti 47: Kolben

Eine kleine Theorie des Kinos entwirft das Musical Million Dollar Mermaid (1952; Regie Mervyn LeRoy) an einem Strand bei Boston. Der Film zeichnet die Karriere des australischen Schwimm- und Filmstars Annette Kellerman, im Film gespielt von ihrer popkulturellen Erbin, dem amerikanischen Schwimm- und Filmstar Esther Williams, nach. Zentral geht es in Million Dollar Mermaid um die Popularisierung und Kommerzialisierung einer Körperlichkeit, die stets gleichzeitig sportlicher und erotischer Natur ist und die ihre spektakulärste Ausprägung in der letzten halben Stunde des Films in einer Reihe von Wasserballettnummern - Choreographie: Busby Berkeley - erhält. Hier hat sich der Körper ganz und gar in visuelle Attraktion, beziehungsweise in sein eigenes Bild verwandelt.

Mindestens ebenso interessant ist jedoch eine weniger exzessive Szene früher im Film, eben jene am Bostoner Strand. Wir befinden uns noch am Beginn von Kellermans Karriere - und, historisch gesehen, im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich das Prinzip der spektakulären Körperlichkeit noch nicht voll entfaltet hat. Die Badegäste sind altmodisch-züchtig gekleidet, gemäß einer puritanischen Körperfeindlichkeit; die Männer zeigen immerhin an den Knien und Armen Haut, die Frauen bedecken bis aufs Gesicht alles. Kellerman wird, wenn sie den Strand betritt, buchstäblich zur Botschafterin des Neuen, beziehungsweise konkreter: Sie wird zur Botschafterin des One-Piece-Bathing-Suit, in dem sie an der Seite ihres Managers/Promoters James Sullivan (Victor Mature), der ihr Auftauchen bewusst als Provokation geplant hat, über den Sand stolziert.

Noch nicht einmal in voller Pracht. Sullivan hat Kellerman eine Art Cape umgehängt - um den kalkulierten Aufruhr in Grenzen zu halten, beziehungsweise um die körperliche Unversehrtheit seines Schützlings zu gewährleisten. Zur neuen Ordnung des spektakulären Körpers gehört schließlich auch ein Verhaltenskodex, der auf der Trennung von Blick und Aktion beruht: Anschauen ist erlaubt, Anfassen nicht. Freilich ist das Cape vorne offen und gibt den Blick auf die nackten Beine der Sportlerin freigibt. Diese Beine sind es, die zur eigentlichen Triebkraft des Neuen werden. Ihre rhythmischen, kraftvollen Bewegungen verändern die Welt, transformieren sie von einer statischen in eine dynamische Ordnung.

Der Wandel wird direkt im Bild nachvollzogen. Wenn Kellerman und Sullivan den Strand betreten, sind sie erst einmal nur Teil einer Strandtotalen. Aus dem Hintergrund des Bildes bewegen sie sich nach vorne, auf die zunächst noch unbewegte Kamera zu, und in dem Maße, in dem die beiden filmisch von ihrer Umgebung isoliert, zum dominierenden Element der Einstellung werden, verwandelt sich ihr Auftritt in einen Skandal. Sind die Irritationen zunächst nur auf der Tonspur wahrnehmbar, als eine langsam anschwellende Empörungskakophonie, so werden die anderen Strandbesucher_innen, wenn Kellerman und Sullivan damit beginnen, sich den Bildraum selbstbewusst anzueignen, in eine zunehmend auch sichtbare, motorische Unruhe versetzt. Sie drehen sich zu den beiden um, springen auf, einige beginnen, ihnen zu folgen.

Sobald die beiden im Zentrum des Bildes angekommen sind, beziehungsweise in einer Halbtotalen, die insbesondere Kellerman in voller Größe, von Kopf bis Fuß, vermisst, setzt sich auch unser Blick in Bewegung. Zunächst fährt die Kamera einige Sekunden vor den beiden her, lässt sich sozusagen mitreißen vom allgemeinen Vorwärtsdrang, dann folgen Aufnahmen der zunehmend agitierten Umgebung. Zwei Einstellungen lang befinden wir uns sozusagen in dem Strudel, den die skandalöse Körperlichkeit auslöst. Zwei Einstellungen lang schlingert die Kamera an Badegästen vorbei, die, wie durch einen Zaubertrick aktiviert, in Richtung Kellerman blicken und streben.

Doch der entscheidende Schnitt kommt erst noch: ein Sprung in die Nahaufnahme, der auf Kellermans Beine fokussiert. LeRoy filmt das von der Seite, die Kamera schwebt also parallel zu ihren Schritten über den Boden. Ganz direkt wird die Körperbewegung Antriebskraft des filmischen Bildes. Gleichzeitig betont das enge Framing der Einstellung den gleichförmigen, mechanischen Aspekt dieser Bewegung. Die Beine sind nicht mehr Teil eines autonomen Körpers, sondern werden zu zwei organischen Kolben, zu Teilen, beziehungsweise zum Kraftmoment einer Maschine, die alle anderen Körper zu bloßen Zuschauern und Reagierenden degradiert.

Beziehungsweise, und hier kommt endlich die kleine Theorie des Kinos ins Spiel: Die Beine werden zu jenem Mechanismus, der in analogen Filmprojektoren den Film zum Erscheinen bringt und der historisch erst die technisch-sozialen Voraussetzungen für die Spektakularisierung des Körpers geschaffen hat. Esther Williams’ Beine sind, anders ausgedrückt, mindestens für die Dauer dieser Nahaufnahme gleichzeitig spektakulärer Inhalt und technoökonomisches Formprinzip des Bildes. In der Kombination aus Zirkularität und Voranschreiten ähnelt ihre Bewegungsform jenem System von Zahnrädern und Riemen, das dafür sorgt, dass der Filmstreifen 24mal in der Sekunde weitertransportiert, aber auch 24mal in der Sekunde wieder zum Stillstand kommt. Ein Zyklus, der sich einerseits streng mechanisch wiederholt, der aber andererseits gerade nicht in Stillstand resultiert, sondern permanent Fortschritt und Veränderung produziert, Schritt für Schritt, Bild für Bild.











Sunday, July 11, 2010

Deaf Sam-ryong / Beongeoli Sam-ryong, Shin Sang-ok, 1964

Zwei Hände, die sich schnell bewegen und komplexe Zeichen formen, eröffnen den Film, scheinen ihn auf eine sonderbare Art und Weise anzuzählen. Hände in Großaufnahme, abgetrennt vom Rest der Welt, reine Energie, gleichzeitig reine Körpersprache; denn natürlich sind die Zeichen, die Sam-ryong formt, Zeichen der Gebärdesprache.
Die Expressivität des Körpers verdichtet sich in der Gebärdensprache symbolisch, kodifiziert, aber die nicht-arbiträren ikonischen Rückstände in ihr, die Mimesis der Hände ans Bezeichnete, sind mit dem Saussureschen Sprachmodell nicht in Einklang zu bringen. Und selbst die reine körperliche Vehemenz, die dieser in den Augen des der Gebärdensprache nicht mächtigen Beobachters eignet, scheint auf eine andere Beziehung dieser Sprache zur Welt zu verweisen.
Es ist sicher kein Zufall, dass der Film, in dem die Gebärdensprache selbst später keine allzu große Rolle spielt, mit den isolierten Handbewegungen seines Protagonisten einsetzt. Bewegung-als-Expressivität ist nicht nur ein Motiv, sondern der Modus des Films. Shin Sang-oks Deaf Sam-ryong erzählt ein Melodram, das von der jedem Narrativ vorgängigen Vehemenz der Körper seiner Protagonisten angetrieben wird.
Der stumme Sam-ryong, Hausangestellter (eigentlich: Sklave) einer wohlhabenden, aber sozial niedrig gestellten Bauernfamilie, kennt und braucht keine Ruhe. Die Kamera bewegt sich wenig, er umso mehr. Oft rennt er in die Tiefe des (Bild-)Raums, entschwindet nicht ganz in Richtung des perspektivischen Fluchtpunkts, sondern etwas schräg nach hinten aus dem Bild. Seinen Bewegungen eignet eine anarchische Freiheit, die von den Frauen des Dorfes sympathisierend verlacht, von den Männern misstrauisch beäugt wird. Gleich mehrere Szenen des Films zeigen genau das: Die Reaktionen der Dorfgemeinschaft auf die unkontrollierte Bewegung in ihrer Mitte, eine Bewegung, die das hierarchisch organisierte Gemeinschaftliche zu dezentrieren droht.
Auch sein Herr und Widersacher positioniert sich vor allem körperlich, allerdings auf andere Weise: Jede Geste ist ein unbedingter Machtanspruch, der das Soziale nicht umjustiert, sondern komplett negiert. Er hat eine Frau geheiratet, die einer höheren sozialen Schicht entstammt und der er diese Tatsache nicht vergeben kann. Sein invertierter sozialer Dünkel manifestiert sich in kompletter, brutaler Zurückweisung und während er statt dessen eine Affäre mit seiner (ebenfalls verheirateten) Jugendliebe weiterführt, schließt seine Angetraute mit Sam-ryong Freundschaft. Der purzelt während eines gemeinsamen Spaziergangs vor ihr über die Wiese.
Die beiden Männer werden zu Kontrahenten, müssen es werden, schon alleine, weil ihre jeweiligen Bewegungssmodelle miteinander nicht kompatibel sind: soziale Anarchie als kreativer Bezug zur Natur vs asoziale Dominanz als destruktive Negation von Natur. Gemeinsam treiben sie den Film an, der die Bewegung im Kader selten durch eine Bewegung des Kaders verdoppelt, der oft auf Distanz bleibt, auf die Expressivität der Körper im Raum vertraut und nur selten (wie in der ersten Einstellung), mithilfe eines engeren Framings deutlichere Akzente setzt. (In dieser ersten Einstellung kann Shin Sang-ok die Groß/Detailaufnahme allerdings genau deshalb wählen: Weil sie hier ganz Intensität sein darf und nichts überdeterminiert.)
Verglichen mit den anderen Filmen der Shin Sang-ok-Collection, die das Korean Film Archive vertreibt, ist Deaf Sam-ryong eine kleine Produktion, nicht ganz 90 Minuten lang, schwarz-weiß, alles andere als ausstattungsintensiv. Gleichzeitig ist Deaf Sam-ryong die Perle der Kollektion, ein Film, der mit dynamischen Handbewegungen beginnt und mit einem wilden, (fast) alles vernichtenden Feuer (fast) endet. Nicht nach der Logik der Handlung, durchaus aber nach der poetischen Logik des Films wurde das Feuer eben von diesen Händen in der ersten Einstellung entfacht. Ganz am Schluss hat die körperliche Expressivität die Körper, an denen sie haftete, zerstört und es bleibt nichts zurück, außer der Materialität des Traums.

Friday, July 03, 2009

Un lac, Philippe Grandrieux, 2008

Wie der kleine Junge auf den Schultern seines Bruders (?) sitzend über den zugefrorenen See getragen wird, wie die Kamera an sein Gesicht im heranfährt, wie dieses Gesaicht dem kalten Wind trotzt und offen bleibt für Sinneseindrücke aller Art (der Bruder (?) ruft in den Wald hinein, während er den Kleinen trägt - warum ruft er?): Vielleicht ist das das Bild, in dem Un lac sich selbst figuriert als eine möglichst-aber-doch-nie-ganz unmittelbare Erfahrungsform, als eine Erfahrungsform eben, die zwar auf ein Minimum an Distanz aus ist, die aber gleichzeitig nicht auf eigenen Füßen steht, sondern sich leiten lässt. Das Publikum gedacht als Kind? Wie bei Metz? Oder, anders und viel interessanter, wie bei Cavell? Vielleicht figuriert der Film in dieser Szene aber nicht nur sich selbst, sondern das Filmen überhaupt. Der Bruder ist Grandrieux, der Kleine die Kamera, eine Kamera, deren kindlichen, unmittelbar somatischen (photochemischen?) Kontakt mit der Welt der Film fürs Kino, das gefangen ist nicht nur in seiner Syntax, sondern schon im mimetischen Prinzip selbst (nicht: im fotografischen, Un lac bleibt gerade im Angriff auf das mimetische Prinzip strikt fotografisch), zurückgewinnen will. Auch das befriedigt nicht ganz, denn ein rein regressives Kino ist das grandrieuxsche nie. Kamera / Kind filmt nur, was Grandrieux will und was der will, das bleibt stets hinreichend erratisch, gesucht wird im eben auch präsprachlichen (dieser Aspekt regt mich dann doch immer wieder auf, nicht nur bei Grandrieux, sondern in weiten Teilen des Kinos der Sensation) nie, nicht einmal im Wald, die Vereinfachung, die Rückführung des Sozialen aufs Kreatürliche (das Soziale bleibt als zwischenmenschliches, wenn auch nicht als politisches und es bleibt problematisch, wird zwar transformiert, schwindet aber nicht). Aber was sucht der Film dann?

Wednesday, May 27, 2009

Die Generalprobe, Werner Schroeter, 1980

Auf dem Papier ist das: ein Dokumentarfilm über ein Theaterfestival in Nancy, über ein Theaterfestival von einer Sorte (gegenkulturell, vulgärbrechtianisch osä, was weiß ich) um die ich einen noch großeren Bogen machen würde, als ich ihn um Theater(festivals) im Allgemeinen ohnehin schon mache. Wie kann ausgerechnet dieser Film mich derart ergriffen haben?
Zunächst und ganz unbedingt: Ich weiß es nicht. Vielleicht aber: hat es etwas damit zu tun, dass Schroeters Film das Theater von allem befreit, was sein Ambiente oder sein Dispositiv ist. Die Kamera nimmt zum Akt des Schauspiels / zum Körper des Schauspielers verschiedene Positionen ein, aber nie die des Publikums. Dabei filmt Schroeter nicht nur die Künstler, doch die Menschen, die er außerdem filmt, sind solche, die mit dem Festival als Milieu so wenig wie möglich am Hut haben: einen Clochard beispielsweise filmt er oder einen Jugendlichen, der lässig vor einer Zeltplane posiert. Das Publikum im Theater interessiert Schroeter am allerwenigsten. Zum Schluss des Films macht es sich dann doch bemerkbar, erst nur akustisch durch den Applaus, der nach der zweiten Aufführung der Umarmungsroutine aufbrandet (diese Nummer ist auch bereits anders gefilmt als die ansonsten identische erste, voyeuristischer, die Kamera versteckt sich hinter dem Vorhang, schreibt den Körpern ihre Präsenz auf nicht mehr ganz angemessene Weise ein), dann kurz darauf und ganz am Ende auch im Bild, verschwommen, im Hintergrund: ein Muster aus isolierten Köpfen, ein Muster, das der Film nicht dahaben zu mögen scheint, weil es dem Schauspiel nur etwas wegzunehmen, ihm aber nichts hinzuzufügen hat, ein Muster, das der Film aber nicht mehr ignorieren kann.
Dass in der letzten Einstellung das Publikum auftaucht (und dass es genau so auftaucht, wie es auftaucht), kennzeichnet den Film endgültig als einen melancholischen, als einen über Desillusionierung. Von Syberbergs Hitler-Film, mit dem Die Generalprobe beginnt, habe ich noch nicht gesehen, doch schon an diesem Film macht der Off-Kommentar seinen Pessimismus fest, einen Pessimismus, der sich auch auf Deutschland, aber nicht nur auf Deutschland und vor allem nicht nur auf Deutschland als Heimat bezieht. Über die Tonspur legen sich dann immer wieder düstere Zeitdiagnosen wie ein eisgrauer Schleier über die wunderschönen Bilder. Vielleicht liegt der eigentliche Grund dieses Pessimismus, der sich im Lauf des Films mal am Krieg, mal an der Natur, die fehlt, mal an der Liebe, die auch fehlt, festmacht, ja tatsächlich darin, dass sich der Film am Ende mit der Idee vom Publikum-als-Muster abfinden muss. Ein Publikum, das der Kamera tausendmal unterlegen ist, das ein beileibe nicht nur körperlich/architektonisch fixiertes Publikum bleiben muss und all die Überschreitungen, die Schroeters Film gelingen, hin zur Kunst als Verkörperung von Sprache, Idee, Gefühl, Politik nicht nachvollziehen kann.

Von allen Schroeter-Filmen, die ich in dieser Reihe (und damit überhaupt) bisher gesehen habe, ist mir dieser der liebste gewesen, gemeinsam vielleicht höchstens noch mit dem anderen Dokumentarfilm, Abfallprodukte der Liebe. Die Spielfilme fand ich mal interessant und schön (Willow Springs), mal einfach nur sonderbar (sonderbar-faszinierend: Der Rosenkönig, eher sonderbar-egal: Nuit de Chien), mal schlichtweg unerträglich (Malina). Vielleicht benötigt das Schroeter-Kino tatsächlich etwas, an dem es sich mit all seinen Obsessionen brechen und abarbeiten kann. Vielleicht braucht es Körper und Stimmen, die ihm bis zu einem gewissen Grad äußerlich sind. Es macht sich dann zwar schnellstens daran, sich diese Körper und Stimmen anzuverwandeln, aber der eigentliche Reiz besteht wahrscheinlich darin, dass diese Anverwandlung nie ganz gelingt. Oder nur in Ausnahmefällen, wie etwa in der unglaublich großartigen letzten Szene aus Abfallprodukte der Liebe. Und im Moment des Gelingens, in dem Moment, in welchem die Stimme der Opernaufnahme vom Körper der Sängerin absorbiert wird, kommt der Film zu seiner Erfüllung, hat sich ganz folgerichtig selbst erledigt und wechselt zum Schwarzbild.

Monday, April 13, 2009

Hunger, Steve McQueen, 2008

Der Film beginnt außen, in der tristen Realität: Aufgelöst in fast beliebigen, starren Einstellungen ohne offensichtichen dramaturgischen Gehalt beobachtet der Film einen Mann, wie er seinen Alltag lebt. Er nimmt eine Mahlzeit ein, fährt zur Arbeit, schließlich begibt er sich zu einer Wand und blickt auf etwas, das sich hinter der Kamera zu befinden scheint. Bald darauf wird klar, dass das Objekt seines Blicks eine Strafanstalt ist, in der verurteilte IRA-Aktivisten ihre Strafe absitzen.
Der Film wechselt schnell ins Gefängnis und bleibt, mit wenigen Ausnahmen, bis zum Filmende dort. Man könnte sogar sagen, es gibt gar keine Ausnahmen, denn die wenigen Einstellungen, die nicht das Innere des Gefängnisses zeigen, sind Erinnerungsbilder, Träume und / oder Visionen der Insassen und entspringen deren Innerem. Im Gefängnis gliedert sich der Film streng in drei Abschnitte: Zunächst geht es um einen Gefangenenaufstand gegen die Kleiderordnung der Strafanstalt, anschließend inszeniert Steve McQueen eine ausführliche Gesprächssequenz, in der sich die Hauptfigur Bobby Sands mit einem Priester über Sinn und Zweck des noch im Gefängnis fortgesetzten Widerstands gegen die britische Staatsmacht unterhält, schließlich folgt der Hungerstreik, der im Jahr 1981 Sands und neun weiteren IRA-Mitgliedern das Leben kostete.
Steve McQueen nutzt in seiner ersten Regiearbeit diese strenge Form nicht als Selbstzweck. Die Struktur ist gewissermaßen dialektisch: Zunächst, im ersten und mit Abstand beeindruckendsten Filmabschnitt hält der Film größtmöglichen Abstand zum Diskursiven (eine Ausnahme stellen einige Thatcherzitate auf der Tonspur dar, die vielleicht das größte Problem des Films sind), es gibt nur den Körper, seine Ausscheidungen und kalte, harte Materie. Die nackten, langhaarigen Gefangenen beschmieren die Zellenwände mit Scheisse, zermantschen ihre Mahlzeiten auf dem Boden, vermischen sie mit Körperflüssigkeiten. Das Organische wird zum vielgestaltigen Brei, der sich in sonderbaren Mustern organisiert. Es geht nicht um Ekel und Schock, vielmehr findet McQueen eine außerweltliche Schönheit in der auf sich selbst zurückgeworfenen Materie. Bobby Sands steht am Fenster der Zelle, berührt zärtlich die Gitterstäbe, blickt nach draußen in eine Welt, die sich in allem von der grausamen Schöheit dessen unterscheidet, was ihn im Inneren derselben umgibt. Wie der letzte Romantiker sieht Sands in diesem Moment aus. Die Scheisse an der Wand wird zu Ornamenten geformt, aus dem Essen entstehen Skulpturen. Es gibt dann auch die reine Brutalität, die Wächter, die mit ihren Schlagstöcken auch dann noch auf die Gefangenen eindreschen, wenn diese reglos am Boden liegen. Die Wächter gehören nicht derselben Ordnung an wie die Gefangenen, auch wenn sie ihr manchmal nahe kommen. Vielleicht ist die Uniform im Weg. Zumindest richtet sich die Gewalt recht eindeutig auf das, was die Gefangenen sind, nämlich eine Gruppe nackter Körper dies- oder jenseits (zumindest einige fantasmatische Aufnahmen aus dem Zelleninneren sprechen für die letztere, interessantere Variante) der Zivilisierung und nicht auf das, was sie im politischen Diskurs verkörpern. Ein Wächter weiß genau, was er da tut und deshalb versteckt er sich hinter einer Wand und weint.
Im zweiten Teil dominieren Wort und Diskurs. Nicht nur, weil gesprochen wird, sondern auch aufgrund der Form des Gesprächs. Es beginnt mit in Windeseile hin- und hergeworfenen Floskeln und kleinen Scherzen, vorgetragen in einem harten, klaren Dialekt. Über den Informationswert des Wortes hinaus wird eine ganze Sozialisation mitkommuniziert. McQueen filmt den größten Teil des Gesprächs aus einer einzigen Kameraperspektive, die gehörigen Abstand zu den Sprechenden hält. Sands, dem kurz zuvor schon die Haare geschnitten wurden, wird radikal entkörperlicht, sein zusammengesunkener Oberkörper ist in eine Sträflingsjacke gehüllt, er ist ganz und gar Teil der symbolischen Ordnung geworden.
Der dritte Abschnitt kehrt nur scheinbar zur Ästhetik des ersten zurück. Zwar rückt wieder der Körper in den Mittelpunkt, doch es ist ein anderer Körper. Der erste war weniger archaisch und ursprünglich als unbesetzt und freischwebend, ein Körper vor oder (das wäre natürlich immer die schönere Variante, ich bin mir nicht sicher, ob der Film sie voll einlösen kann) jenseits seiner Instrumentalisierung, außerhalb von Selbstdisziplin und stahlhartem Gehäuse, aber deshalb doch nicht „wild“. Kein Körper, der zum Instinkt zurück findet, sondern einer, der seine Programmierung löscht, ohne bereits zu wissen, in welcher Richtung es weitergehen soll und der sich auf die ihn umgebende Materie hin öffnet. Der Körper des hungernden Sands ist dagegen ein sakraler. Er hat seine Bestimmung gefunden, die Kamera fährt nahe an das geknechtete Fleisch heran, an die Knochen, die fast aus der Haut ragen, die Wunden und Abszesse. Der Körper hat eine Bestimmung in der eigenen Finalisierung gefunden und ist aufgrund dieser Bestimmung nicht mehr ganz frei vom Diskurs auch wenn sein Diskurs einer gegen die Gesellschaft und gegen Instrumentalisierung ist; der Film bleibt, obwohl im letzten Teil kaum mehr Worte fallen wie im ersten, zumindest teilweise innerhalb der symbolischen Ordnung.
Der Film schreibt im dritten Teil den Diskurs des zweiten auf den Körper des ersten um. Dabei schleicht er sich ganz langsam wieder an das Genre heran, dem er seinem Sujet nach von Anfang an, seiner formalen Logik nach aber über zwei Drittel ganz und gar nicht, angehörte: dem Biopic. Der Film reicht Erinnerungsbilder nach und metaphorisiert in Vogelschwärmen den Tod, er strebt in die Vergangenheit und ins Jenseits gleichzeitig, er synthetisiert eine Biografie, wo vorher Wort und Körper disparat blieben. Vielleicht ist Hunger damit so etwas wie ein Metakommentar zum Genre Biopic, aber das ist mit Sicherheit nicht der interessanteste Aspekt des Films. Eher habe ich mich gefragt, wie sehr dieser letzte Teil das Vorhergehende entwertet. Vielleicht ist die nachgeschobene Narrativierung und Linearisierung darauf zurückzuführen, dass der Künstler Steve McQueen meinte, bei seiner ersten Kinoarbeit dem neuen Medium ein wenig entgegen zu kommen zu müssen. Wie man Hunger beurteilt, wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit man von diesem letzten Abschnitt abstrahieren kann und in der Lage ist, die wahnwitzigen Bilder der ersten Filmhälfte für sich selbst stehen zu lassen.

Friday, January 23, 2009

In passing: Berlinale 2009

Land of Scarecrows / Heosuabideuleui ddang, Roh Gyeong-Tae, 2008

Panasiatisches Kunstkino gone bad. Panasiatisch schon programmatisch, der Film spielt zwischen Südkorea und den Philippinen: Transgendermann + Performancekünstler aus Südkorea holt Braut aus den Philippinen, die wiederum in Korea dann einen anderen kennenlernt, der gebürtiger Philippino ist. Dazwischen tauchen Fische mit Menschenköpfen auf und Müll wird in den Boden gekippt. Die Einstellungen sind lang, die Räume diskontinuierlich, geredet wird wenig und wenn doch, dann Blödsinn. Die These ist bestenfalls, dass Südostasien z.Z. ebenso krumm und schief zusammenwächst (vielleicht via der Wirtschaftszone ASEAN + 3, die als regionales Gegengewicht zu den bilateralen Verträgen der einzelnen Nationalstaaten mit den USA in den Startlöchern steht) wie auch Mensch, Tier und Pflanze immer krummer und schiefer durcheinander wachsen. In der einzigen lustigen Szene des Films beginnt ein diesem krummen und schiefen Treiben überdrüssiger Priester seinen agitierten Monolog so ungefähr mit den Worten "Everything fucks everything".
Wahrscheinlich will der Film das krumme und schiefe queertheoretisch als neue Norm einsetzen und affirmieren. Nicht nur Transgender, sondern auch Hunde mit zwei Köpfen und radioaktiv verseuchte Gurken. Das Problem ist natürlich nicht, dass der Film dem agitierten Priester widersprechen möchte, sondern dass er eben das nicht auf die Reihe bekommt. Denn Leider bleibt der Versuch mit schöner Regelmäßigkeit einerseits in der beharrlichen Diskursverweigerung seiner erkaltet-modernistischen Ästhetik und andererseits in den prätentiösesten Klischeebildern stecken. Man kennt das: Da läuft ein Mann in einer Totalen eine ansonsten menschenleere Straße herunter, auf die Kamera zu. Meistens ist dann auch noch schlechtes Wetter. Er hat nichts zu sagen und tut es dann auch nicht.
Im Forum tut man sich doch manchmal schwer, Gegenargumente wider die pauschalen, populistischen Attacken aufs "Festivalkino" zu finden.

Kan door huid heen / Can Go Through Skin , Esther Rots, 2008

Body Cinema gone (nicht ganz so) bad. Erst trennt Marieke sich von ihrem Freund, dann wird sie, nachdem sie gerade noch dabei war, voller Energie neue Dates aufzutun, in der eigenen Wohnung überfallen und um ein Haar ermordet. Bald flieht sie aufs Land, in ein einsames, heruntergekommenes Bauernhaus. Dort schläft sie im Küchenschrank und wird anfangs von jedem Geräusch fast zu Tode erschreckt, vor allem dann, wenn hinter dem Geräusch eine männliche Geräuschquelle zu vermuten ist.
Kan door huid heen möchte mit aller Kraft eins werden mit den Affekten Mariekes. Der Film ist nicht einfach nur aus ihrer Perspektive erzählt, sondern erschrickt, hofft, freut sich und halluziniert mit ihr. Selten wählt Rots den optischen Point of View, eher geht es darum, die Sensationen gleichzeitig via Kamera (und via Tonspur) zu erleben und in Mariekes Körperlichkeit nachvollziehen zu können. Rifka Lodeizen geht dabei als Hauptdarstellerin volles Risiko. Über weite Strecken des Films bleibt sie alleine im Bild, sie schreit, tobt und macht, dass es eine Art hat. Der Film springt ihr noch jedesmal bei und verdoppelt respektive literalisiert, was er seiner Hauptdarstellerin im Kopf herumspuken lässt. Den Angreifer fantasiert sie sich in das Bauernhaus, gefesselt an einen Balken und ihr ausgeliefert, der Film liefert die entsprechenden Bilder.
Etwas ungelenk wirken diese Exzesse des Körperlichen oft, aber nicht halb so ungelenk wie die fürchterlichen Norah-Jones-Imitate auf der Tonspur, schauderliche Indie-Popsongs, die gleich noch einmal in ihren Texten verdoppelt, was schon davor zwei, drei und vierfach in Bild und Ton gesetzt wurde, zwar nur drei an der Zahl, aber das sind schon drei zuviel. Wo die interessanteren Body-Filme auf Brüche setzen, die zwischen Körperlichkeit und filmischer Materialität aufscheinen, versucht Kan door huid heen die totale Synthese und landet damit bei einer doch recht reaktionären Form.
Rots möchte Intensitäten gegeneinander schneiden anstatt Plotpoints, doch die frenetischen Montagen während Mariekes Effektexzessen sehen eher aus wie schlecht gemachte Musikvideos. Am Ende wird dieses Musikvideo dann auch inhaltlich reichlich reaktionär, wenn Marieke und der Film ihre Ruhe so schlicht wie einfach in den Armen eines zufällig anwesenden neuen Mannes finden.

Saturday, May 24, 2008

Sur mes lèvres / Read My Lips, Jacques Audiard, 2001

Paul und Carla gehören beide zum Subproletariat, er zum sozialen, sie zum sexuellen (die Stellenausschreibung wird zur Kontaktanzeige). Nachdem sich ihre Lebenswege kreuzen, beuten sie sich erst einmal rücksichtslos gegenseitig aus.
Carla ist fast taub, ihr Hörgerät holt Stimmen an ihren Körper, ihr Fernglas Körper, beziehungsweise Münder: Carla liest Zeichen am Ort ihrer Produktion, nicht ihrer Manifestation. Die hohe akustische Wahrnehmungsschwelle schärft das gesamte Sensorium, sowohl ihr eigenes als auch das des Films. Ein paradoxes Spiel aus Nah und Fern: Je weiter Carlas Wahrnehmung dem Reizursprung entrückt ist, je mehr Hilfsmittel sie zwischen sich und dem Reiz plazieren muss, desto näher rückt die Kamera an sie heran und registriert die Einwirkung eines Reizes, der gerade eben nicht unmittelbare, sondern technisch vermittelte Spuren hinterlässt. Der Blick rückt den für Carla stets problematischen Körpern und Texturen auch ohne Fernglas ganz nah auf die Pelle, ihr Tastsinn macht Pauls unsichtbares Flugticket, verborgen unter dem doppelten Boden der Schublade, ausfindig.
Am Anfang sind die Beziehungen noch offen, im Vorstellungsgespräch dominiert sie ihn durch Wort und Blick, im Büro ist seine Energie destruktiv und muss von ihr kanalisiert werden. Später sortiert es sich doch wieder gendergerecht: Carla ist der hochsensible Körper, auf den sich unterschiedlich modulierte Reize einschreiben, Paul der höchstens halbreflektiert Handelnde. Schön aber ist die fast mechanische Verschaltung der beiden, die unmittelbare Abhängigkeit des einen Elements vom anderen, die Rückkopplungen und Störungen im System.

Tuesday, October 30, 2007

Brève traversée, Catherine Breillat, 2001

Ein One Night Stand auf einem Schiff. Doch als Schiff sehen wir es nur in einer Szene. Kurz bevor es tatsächlich zum Sex kommt, stehen Alice und Thomas gemeinsam an der Reling. Das Wasser, ansonsten höchstens ein, zweimal über die Tonspur erschließbar, ist nur hier wirklich anwesend und bricht die davor immer etwas unwirkliche, artifizielle Stimmung des Films. Hier, und anschließend in Alices Schlafzimmer, gibt der Film seine Distanz auf, lässt sich ganz auf die Körperlichkeit der Schauspieler ein.
Ansonsten sieht das Schiff eher aus wie eine absonderliche Ansammlung besonders geschmackloser Supermärkte und Bars, Hotelzimmer sowie mensaähnlicher Restaurants. Selbst wenn Thomas das Schiff betritt und verlässt, ist es nicht als solches erkennbar, die Gangway erinnert zumindest mich eher an Flughäfen und die Schalterlabyrinthe bei der Passkontrolle sind typische Nicht-Orte (überhaupt hat das ganze Schiff etwas von einem Nicht-Ort und alles was Ort daran ist, ist tendenziell grässlich). In diesem Nicht-Ort nun verbringen Alice und Thomas eine Nacht.
Zu einer Schiffahrt gehören nicht nur Wasser, Wellen und Reling, sondern eben auch all die anderen Orte, an welchen Brève traversée hauptsächlich spielt. Und auch zum Sex gehört mehr, lange Blick- und (manchmal zu) lange Wortwechsel und die gegen-, obwohl hier natürlich eher einseitige Verführung. Ohne dies alles ergäbe nichts einen Sinn in diesem schönen, kleinen und klugen Film, den man vielleicht auch als (vorauseilenden) Gegenfilm zu Claire Denis' ungleich euphorischeren Vendredi soir auffassen kann, in welchem ein Jahr später sogar die Markenschriftzüge der Autos zu tanzen beginnen.

Tuesday, February 20, 2007

Berlinale 2007: Lady Chatterley, Pascale Ferran, 2006

Pascale Ferrans Lady Chatterley-Verfilmung war ein weiteres spätes Highlight der Berlinale und zeigt, ähnlich wie Techines Les Temoins oder Rivettes Ne touchez pas la hache (dort natürlich noch um einiges mehr Hochkultur, aber auch das funktioniert hervorragend), wie gutes Arthauskino aussehen kann, und wie es wohl tatsächlich meist nur Franzosen, bzw. hier Französinnen hinbekommen.
Im Prinzip sind die Figuren von Anfang an determiniert, schließlich geht es um Lady Chatterley, um den Ausbruch aus der bürgerlichen Ehe und die Flucht über Klassenschranken hinweg in eine befreite Sexualität. Dennoch erreicht Ferrans Film mit einfachen Mitteln und ohne sich weit von der Vorlage zu entfernen eine Subtilität, die in dem Material eigentlich gar nicht enthalten zu sein scheint. Lady Chatterleys Ehe mit Clifford und damit die gesamteWelt der Bourgeosie ist hier nicht nur ein allumfassendes, lustfeindliches Gefängnis, sondern für alle Beteiligte ein Raum für unterschiedliche soziale Praktiken, die durchaus heterogen sind. Und Parkin repräsentiert - trotz entblöstem Oberkörper - nicht von vorn herein die entfesselte Sexualität oder die Befreiung von den Fesseln der Konvention. Im Gegenteil ist der Gärtner vor allem bürgerlich konnotiert, trägt stets saubere Hemden und schaltet beim Sex das Licht aus. An der Wand hängt ein Hochzeitsfoto. Die Affäre ist für Parkin mindestens ebenso eine Befreiung wie für Lady Chatterley.
Vermittelt werden alle Beziehungen über die Natur. Die Liebenden treffen sich in den Wäldern und Clifford bleibt mit seinem seltsamen motorisierten Rollstuhl auf einer Wiese stecken. Immer wieder entfernt sich die Kamera von den Figuren und schreibt sie in ihre grün leuchtende Umgebung ein. So scheint sich die kurzfristige Relativierung sozialer Kategorien vor allem über die Natur zu vermitteln. Um wieviel intelligenter und dezenter sind diese Bilder als die aufdringliche Blumenfilmerei in Marie Antoinette. Doch schon alleine der erste Ansatz dieses Vergleichs scheint Ferrans Film ungebührlich zu beschmutzen.

Thursday, December 14, 2006

Haze, Tsukamoto Shinya, 2005

Tsukamoto ist von all den jungen Wilden, die das japanische Kino seit ungefähr Mitte der Achtziger heimsuchen, wahrscheinlich der talentierteste, sicherlich aber derjenige, der seine Visionen am ungefiltertsten auf die Leinwand zu bannen vermag. Und so ist auch Haze wieder einmal Körperkino in Extremform.
Zu Beginn lernen wir einen Mann in einem Keller kennen. Bis auf ein paar gestammelte Worte, die alles oder nichts besagen können, ist die Bekanntschaft rein somatisch: Glänzende Muskeln, immer wieder das Gesicht, das aber nichts ausdrückt, da im Gegenteil ständig irgendetwas auf es (und den ganzen Körper) einwirkt. Die Sinneswahrnehmungen und Körpererfahrungen, die im ersten, unglaublich intensiven, Abschnitt evoziert werden, sind stets so angelegt, dass sie die Alltagserfahrung des eigenen Körpers überschreiten, ja selbst das Einfühlungsvermögen. Die somatischen Zustände, in die Tsukamoto seine Hauptfigur (i.e. sich selbst) versetzt, sind nie ganz fassbar und wirken dadurch umso stärker.
Plötzlich erscheinen dann genuine Splatterfilmbilder, die fast wie eine Befreiung wirken. Zwar ist immer noch kein narrativer oder sonstiger Zusammenhang in Sicht (das wird sich bis zum Ende der knapp 50 Minuten auch nicht ändern), doch die Spannung, die durch die unklare Inanspruchnahme der menschlichen Physis entstand, löst sich zumindest teilweise: Ein abgehackter Arm ist eben ein Abgehackter Arm und ein Leichenberg ein Leichenberg.
Im Folgenden nähert sich Tsukamoto dann dem Erzählkino und führt seinen Protagonisten schließlich aus dem Kellerverließ. Die letzten paar Minuten, in gleissend hellen Räumen und im Sonnenlicht, haben jedoch nur den Effekt, die bedrängende Kellerminuten mit einigem Abstand noch deutlicher zu akzentuieren.

Monday, September 25, 2006

Sehnsucht, Valeska Grisebach, 2006

Die Sequenz gehört sicherlich zu den ganz großen Tanzszenen der letzten Jahren: Andreas Müller bewegt sich langsam, unsicher zu Robbie Williams "Feel", die Kamera bleibt nahe an ihm, zeigt jedoch nur Rücken und Hinterkopf, das eigentliche Affektbild wird verweigert. Der Tanz entsteht nicht als Ventil für überschüssige motorische Energie in einer intellektuell, sozial oder (im zweiten Beispiel) textuell überdeterminierten Welt wie in Beau Travail oder Napoleon Dynamite. Der Tänzer lässt für einen Moment die Affekte, die sein Leben tagtäglich bestimmen, ohne dass er ihnen verbal beikommen würde, in Bewegung übergehen, kanalisiert sie und wird dadurch tatsächlich handlungsfähig.
In der Tat sind es die Differenzen verschiedener Sprachsysteme, die einen Teil des Reizes dieses zauberhaften Filmes ausmachen. Die Gesrpräche der Liebenden sind nie ganz frei von Stilisierungen, unbewussten und bewussten Zwängen und stehen in hartem Kontrast mit den glasklar beobachteten, im besten Sinne naturalistischen Gespräche der Laiendarsteller im öffentlichen Raum. Eine seltsame Verschränkung: Grisebachs Figuren sind anfangs in der Öffentlichkeit scheinbar bei sich selbst, im Privaten jedoch durch Zwänge aller Art beschränkt und zu wenig mehr als zu gestammelten Liebeserklärungen fähig. Nicht nur auf sprachlicher Ebene: die Feuerwehrmänner nehmen ihre Plätze auf dem Betriebsausflug mit einer großartigen Selbstverständlichkeit ein, während Sex oder ein gemeinsmes Frühstück zu zweit hart erarbeitet werden muss.
"I just wanna feel" bedeutet für Markus den Beginn eines Versuchs, aus dieser pervertierten bürgerlichen Logik auszusteigen, ein Versuch, der vielleicht nicht so hoffnungslos ist, wie es angesichts des Handlungsverlaufs erscheinen mag. Das Kindergespäch am Ende eröffnet einen utopischen Ausblick auf eine Gesellschaft, aus der Affekte produktiv und qualfrei erwachsen können.
Das wunderbare an Sehnsucht ist, dass Szenen wie oben beschriebener Tanz organisch aus der Gesamtheit des Films entstehen, ohne Erkennbaren Stilwillen. Auch alle kunstfilmerischen Anwandlungen, die der eine oder andere ausmachen mag, sind logische Bestandteile des gesamten Werkes und nie Angeberei oder Versuche, "Atmosphäre" durch simple Addition "atmosphärischer Bilder" entstehen zu lassen (vielleicht eine der schlimmsten Krankheiten des Arthaus-Kinos). In vieler Hinsicht gelingt Grisebach vieles in Vollendung, was bei ihren Kollegen der Neuen Berliner Schule noch oft etwas unbeholfen, gewollt und nur halb gekonnt, wirkt.

Wednesday, July 19, 2006

Vendredi soir, Claire Denis, 2002

Zwischen den Autos ist die regennasse Strasse zu sehen in immer neuen Momentaufnahmen, immer neuen Bewegungsstudien. Gesichter von Menschen meist hinter Scheiben, meist als Spiegelungen zerteilen den Raum mit ihren Blickachsen noch einmal. Die Kamera verlässt nie ganz die Subjektive, beharrt immer auf dem Ausschnitt. Die zerstückelte Perspektive ist nicht immer einer Person zugeordnet, ist kein mimetisches Abbild der Vereinzelung des Großstadtmenschen oder ähnliches, sondern stellt die einzig denkbare Möglichkeit in Denis' Welt dar, urbane Wirklichkeit darzustellen. Die Menschen sind fast immer in Bewegung, zwischen zwei Verpflichtungen, zwei realen Orten. Zumindest manche Menschen. Bevor Laure sich, wie ihre Freundin, an einen Ort bindet, der das Koordinatensystem Paris für sie zentriert, das freie Spiel der Kräfte zumindest teilweise beendet, gönnt sie sich noch eine Nacht der Freiheit in einer Stadt, die kein Aussen zu kennen scheint.
Ein zauberhafter, manchmal auf sehr intensive Weise hyperrealistischer, andernorts aber extrem verspielter Film, dessen Plot kaum zu erkennen ist und der es auf wunderbare Weise versteht, einen Verkehrsstau zu einem derart sinnlichen, fast halluzinatorischen Erlebnis zu machen, dass alles andere für ein paar Momente unwichtig wird.

Sunday, October 16, 2005

A History of Violence, David Cronenberg, 2005

Wer gehofft hatte, A Hstory of Violence stelle Cronenbergs Rückkehr zu alter Form dar, wird leider schwer enttäuscht. Tatsächlich ist dieses neue Werk möglicherweise sein schwächstes überhaupt. Das Problem bei der Sache ist nicht die Mainstreamtauglichkeit, die dem Film nicht abzusprechen ist. In der Tat scheint Cronenbergs Konzept, einen Mainstreamfilm mit einem kleinen persönlichen Twist, der sich in einzelnen Schockmomenten und einem sehr zurückgenommenen Spiel der Figuren ausdrückt, zu drehen, gerade in der ersten Hälfte aufzugehen. Hier macht der Film manchmal tatsächlich Spass, obwohl bereits abzusehen ist, dass inhaltlich recht wenig zu erwarten ist. Und wirklich, je länger der Film dauert, desto deutlicher wird die konzeptuelle Leere, die schon eXistenZ und (weniger deutlich) Spider zu eher enttäuschenden Filmen machte. Wieder wählt der Regisseur eine zirkuläre Struktur, welcher hier außerdem jeglicher Überraschungsmoment fehlt. Zu keinem Zeitpunkt wird erkennbar, was Cronenberg an dem Stoff (der in der Hand anderer Filmemacher wie etwa den Coens durchaus hätte funktionieren können) interessiert. Klar, wieder einmal geht es um die nicht funktionale Familie, ansatzweise sind auch biologistische Tendenzen vorhanden, doch nie führt er dieses weltanschauliche Gemenge auf eine neue, transgressive Ebene, wie es ihm in den 80ern immer wieder so meisterlich gelang. Stattdessen wildert er in fremden Gefilden, versucht seine uninteressante Geschichte mit etwas Teenage Angst und Tarantino-Coolness aufzumotzen, aber vergeblich. Was übrigbleibt ist ein ödes Familienmelodram, das gerade deshalb so ärgerlich ist, weil es in einigen wenigen Momenten durchaus noch Spuren der alten Kraft enthält und Viggo Mortensen aufgrund seiner Physiognomie durchaus zu einem echten Cronenberg-Helden taugen würde.