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Wednesday, January 09, 2013

Florentina Hubaldo, CTE, Lav Diaz, 2012

may contain spoiler

Was ist da im Dezember 2012 wieder auf mich eingestürzt, am letzten Tag, bevor ich, für Weihnachten und Neujahr, Berlin verlassen habe. Also kaum noch da war, nur noch raus wollte aus dieser im Winter oft so schwer erträglichen Stadt; und dann noch dieser Film. Sechs Stunden emotionale Knochenmühle in der philippinischen Provinz. Ich habe den Film dann auch noch "nichtlinear" gesehen, weil ich zuerst die falsche Disc ins Laufwerk gelegt habe. Und das tatsächlich erst beim Abspann bemerkt habe. Die Erfahrungsbrocken, aus denen Diaz seine Filme konstruiert, sind so weit entfernt von Regeldramaturgien, dass man da wenig Anhaltspunkte erhält. Meine Disc begann beim Schatzsuchen, zwei Männer im Schlamm, auf ein Erdloch einhackend, irgendwann aufeinander losgehend, dann raus aus dem Loch, eine Verfolgungsjagd über die wasserüberströmten Felder, dann beidseitige Resignation, ein Gespräch über Florentina Hubaldo und ihre Tochter, die beiden Figuren, entlang derer der Film sich entwickelt - und zwar ganz egal, wo man einsteigt, wo man ihn wieder verlässt. Hätte mich das Ende, die Stadt, die Lichter durch die Büsche, die Einsamkeit, die Großaufnahme, die Wiederaufnahme jahrzehntealten Leids, das Mitleid, das sich nicht an einen einzelnen Menschen, nicht an einen Gegenschuss heftet, sondern mich direkt fordert, hätte all das mich noch härter getroffen, wenn ich die ersten vier Stunden des Films nicht nachher, sondern, wie es gedacht war, vorher gesehen hätte? Vielleicht; vielleicht hätten mich aber dafür diese ersten vier Stunden, denen da schon diese wahnwitzige letzte halbe Stunde eingeschrieben war, nicht auf dieselbe Art mitgenommen.

Der eigentliche Anfang hat mich an Heremias erinnert, einen Film, der ebenso (vergleichsweise) geradlinig erzählt ist wie Florentina Hubaldo CTE: Wieder zunächst Straßen, umrandet von mannshohem Gebüsch (in das die Figuren wenig später flüchten werden), dann taucht jemand auf, ganz hinten, als Pixelwolke und man verfolgt seinen Weg nach vorne, die langsame Konstitution eines Individuums, das dann allerdings doch wieder aus dem Bild herausläuft und in der nächsten Totalen neu eingefangen, neu konstituiert werden muss. Zwei Ebenen hat der Film wie gesagt: Einmal Florentina Hubaldo, die von ihrem Vater gequält, geschlagen und prositutiert wird und von ihrem Großvater nicht beschützt werden kann, bis sie endlich erfolgreich das Weite sucht; dann ihre Tochter, die, Jahre später, in einem Landhaus (das sich, wie ich das verstanden habe, unweit des Hauses befindet, in dem einst ihre Mutter angekettet vor sich hin gelebt hatte) lebt, schwer krank, einige Abenteurer beherbergend, die einem Schatz auf der Spur sind, der genauso deutlich als pure Projektion, als Bild für die Hoffnungslosigkeit eines nicht nur im globalen Maßstab abgehängten Lebens, erkennbar ist wie das Gold, hinter dem einige traurige Figuren in Evolution of a Filipino Family hinterher jagen. Florentinas Haus ist zur Ruine geworden und eigentlich zu einem Spukhaus und genau bei dieser Ruine wird der Schatz vermutet. Das ist eine Konstellation, in der sich nicht viel bewegt - eigentlich bewegt sich nur Florentina. Diese eine Bewegung genügt dem Film, alle anderen Figuren sind stillgestellt, in ihren eigenen Obsessionen und Untiefen gefangen, blind, zwanghaft. Fast alle ziehen die falschen Schlüsse aus der Geschichte, die sie durchleiden. Umso wichtiger die eine, die den richtigen Schluss zieht, umso wichtiger Florentina.

Konsequenter noch als frühere Arbeiten ist Florentina Hubaldo CTE ein zeitbasierter Terrorfilm (der freilich, man muss es eigentlich gar nicht schreiben, nicht auf "Lektionen" aus ist, niemanden strafen möchte, das ist weiterhin ein anderer Kontinent, eine andere Welt als Haneke, das ist ein offenes Angebot: ich zeige Dir meine Hölle, wenn Du sie sehen willst). Die Jagd auf ein lärmendes, die Soundspur eine (vermutlich nicht nur gefühlte) halbe Stunde lang monopolisierendes Insekt auf der und über die Ruine ist so ein Fall: Im Kreis hinter einem unsichtbaren Störsender herrennen und -klettern, einen körperlosen Schatten jagen, der auf eine unbewältigte, unbewältigbare Vergangenheit verweist, vor der man andernfalls stets die Augen verschließt.

Wednesday, October 03, 2012

Century of Birthing, Lav Diaz, 2011

Schon wieder eine gute Woche ist es her, dass ich Lav Diaz' A Century of Birthing gesehen habe. Es war der erste lange Diaz-Film, den ich mir zuhause komplett angesehen habe; das ging erstaunlich gut, man muss sich nur fest vornehmen, auch wirklich dran zu bleiben, nie länger als fünf Minuten Pause zu machen. Man muss sich dem Aggressiven an der Form dieser Filme, ihrem Anspruch, über das eigene Leben in anderer Weise als der Kinoalltagsbetrieb zu gebieten, stellen, sonst verfehlt man etwas an ihnen, glaube ich.

A Century of Birthing ist Diaz' schwierigster Film, zumindest an der Oberfläche. Ihm fehlt die strukturelle Klarheit der anderen Filme, fast wirkt es, als schaue man einem Filmprojekt zu, das in Zeitlupe und sehenden Auges entgleist. Das ist natürlich auch eines der Themen des Films: Die Schaffenskrise eines Regisseurs, der an einem Film namens "Woman of the Waves" arbeitet und aus nicht genau bestimmbaren Gründen auf der Stelle tritt. Man sieht ihn vor dem Computerbildschirm, wie er im Schnittprogramm den Film durchlaufen lässt, mal schnell durch die Bilder scannt, mal eine Szene am Stück schaut. Man schaut dann mit ihm mit und der Film im Film springt aus dem Computerrahmen, füllt den gesamten Bildraum. Es geht im Film im Film um eine Frau, die gerade ein Kloster verlassen hat, weil sie von Zweifel geplagt wird und das Leben (und vor allem ihren eigenen Körper) kennenlernen will.

Die Geschichte der Frau, die Geschichte des Regisseurs, dann noch die Geschichte einer Sekte, die ebenfalls einen Jungfrauenkult pflegt und die von außen, von einem Fotografen erschlossen wird (Akte der Aufzeichnung prägen den gesamten Film und fast immer ist der Akt des Aufzeichnens mit Schmerzen verbunden). Diese dritte Geschichte - eigentlich die erste, der Film beginnt mit einer großartigen Diaz-Einstellung, die eine Art Initiationsritus zeigt und die auch schon den religiösen Singsang einführt, der dann im späteren Film wieder und wieder auftaucht, einfach nicht mehr aufhört - steht in einem etwas unklaren Verhältnis zum Film im Film: Eine weitere Frau verlässt die Sekte, allerdings nicht freiwillig und nicht, um ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, sondern weil sie ihre Jungfräulichkeit bereits verloren hat. Irgendwann scheint der eine auf den anderen Film überzugreifen und am Ende beide auf das Leben des Regisseurs.

Ein toller Film, mit vielen Bildern, die mich noch lange verfolgen werden (das apokalyptische Ende der Sekte! Die Frau, die, während es hinter ihr stürmt und regnet, vor dem Gitter steht und dem Regisseur eine Offenbarung vorträgt, als sei sie eine auf der Erde wandelnde Göttin!) aber einer, der ein wenig aus der Balance geraten zu sein scheint. In allen Diaz-Filmen sind unheilige Märtyrer zentral, Menschen, die das Übel gleichzeitig auf sich nehmen und mit ihm verstrickt sind. Meistens ist das aber nur eine Figur (in Evolution... gibt es zwar ebenfalls mehrere, aber da tauchen sie nacheinander auf), die sich dann in Konflikt setzt mit anderen, bodenständigeren Menschen. In Century of Birthing dagegen scheint sich diese Figur aufgespaltet zu haben, in mindestens drei Figuren: den Regisseur (der den Nachnamen Homer trägt und lange Gespräche über Filmtheorie führt), ein Sektenmitglied (der fanatischste von allen, der am Ende dann umso grundsätzlicher zu zweifeln beginnt), den Fotografen (der ist der schlimmste der drei); aber auch die beiden Frauen sind auf ihre Weise unheilige Märtyrerinnen.

In gewisser Weise ist Century of Birthing ein nach Innen gewendeter Film. Aber das Innen ist nicht mehr, wie in Melancholia, die Erinnerung, die begraben war und aufgedeckt werden muss, über Spiele, Verkleidungen, Sprechakte und zuletzt doch ganz klassisch über eine Rückblende; sondern eher eine Schizophrenie, die sich gegen Bilder sperrt, die die Bildproduktion unterbricht, fragmentiert, mit sich selbst kurzschließt, die falsche Anfänge und inkohärente Anschlüsse hervorbringt. Nicht mehr geht es darum, so lese ich zumindest das erratische Ende, etwas zu entdecken, sichtbar zu machen (einen Film zu Ende zu drehen), sondern eher darum, los zu lassen, verrückt zu werden, nicht mehr auf falschen Identitäten zu bestehen.

Wie gesagt, ein toller Film. Dennoch hoffe ich, dass er nicht, dass er den Weg vorgibt, den Diaz in Zukunft gehen möchte. Denn es liegt in der Bewegung, die der Film ahnen lässt (und die durchaus auch schon in Melancholia vorgeprägt war)ein Moment der Abschottung von einem Außen, das mich in Diaz' Kino doch nach wie vor interessiert.

Wednesday, March 11, 2009

Boogie, Radu Muntean, 2008

Boogie macht Urlaub mit blonder, kurzhaariger, schwangerer Frau und Kind am Schwarzmeerstrand. Schon die erste Szene am Strand etabliert Konstellationen und Atmosphäre. Der Strand ist fast menschenleer, im Hintergrund sind Prachtbauten zu sehen, die höchstwahrscheinlich zu einer nicht mehr ausgelasteten Tourismusinfrastruktur gehören. Auch Boogie ist mit seiner Familie nur hier (und nicht in der Türkei oder in Griechenland, wohin es alle, die es sich leisten können, inzwischen zieht), weil er über seine Arbeit den Urlaub kostengünstig organisieren konnte. Jetzt sitzt er mit seiner Frau am Strand und die beiden reden und blicken konsequent aneinander vorbei.
Die Einstellungen sind lang, oft werden ganze Szenen ohne Schnitte aufgelöst, doch bereits nach einer Viertelstunde Laufzeit muss man schon sehr genau darauf achten, um das überhaupt noch als formale Besonderheit wahrzunehmen, so unaufdringlich sind diese Sequenzeinstellungen. Es ist - und in mancher Hinsicht trifft dies auch auf andere, ambitioniertere Vertreter des neuen rumänischen Kinos zu - als hätte Muntean herausgefunden, dass die berühmten unsichtbaren Schnitte noch unsichtbarer werden, wenn man sie tatsächlich weglässt. Beziehungsweise, dass sich durch dieses Weglassen eigentlich erstaunlich wenig ändert, zumindest dann, wenn die Kamera zwar etwas mehr Abstand hält von ihren Figuren als im intensified-continuity-Kino, aber den Bildraum dennoch in ähnlicher Weise um die Figuren als sein Zentrum herum organisiert und auf Destabilisierungen verzichtet.
Schon am Strand trifft Boogie einen Kumpel aus Studientagen. Ein weiterer stößt wenig später dazu und bald stürzen sie sich zu dritt ins wenig aufregende Nachtleben des Strandortes. Während Boogies Frau beleidigt zu hause wartet und per SMS nervt (es gibt dann noch ein Zwischenspiel mit ihr im Schlafzimmer), gabeln die drei eine der vielen Prostituierten auf und nehmen sie mit in die Unterkunft der beiden anderen Jungs.
Dieser imdb-Kommentar (= der oberste) freut sich über den Film als programmatische Abkehr vom bedeutungsüberladenen, politisch überfrachteten Festivalkino des Landes und dessen obsessiven Beschäftigung mit Rumäniens traumatischer Geschichte. Imdb-Kritiker "veo" scheint in Boogie eine Öffnung zu erkennen nicht nur hin auf allgemeinere / weniger prätentiöse Themen, sondern auch hin auf ein breiteres rumänisches Publikum. Er / sie liegt sicherlich nicht ganz falsch damit und irgendwie kann man auch verstehen, dass "veo" es dem Film als eine Tugend anrechnet, dass er genauso in Uruquay oder Frankreich hätte spielen können. Tatsächlich: Die Stranbadszenerie ist wenig spezifisch, dito die Figurenbiografien (die in den Gesprächen recht ausführlich ausgebreitet werden), allgemein ist der Sozialismus lange vorbei, statt dessen viel Kapitalismus, als Folge Deterritorialisierungen, die in Verbund mit post/neopubertärer Maskulinität in viele Richtungen führen, unter anderem nach Schweden und in die Arme der besagten Prostituierten, aber sicher nicht auf geradem Wege zum Glück.
Man kann sich aber doch zumindest aus nicht-rumänischer Perspektive fragen, ob es wirklich eine so revolutionäre Angelegenheit ist, dass jetzt endlich auch Rumänien denselben gut gemeinten und nach seinen eigenen Maßstäben auch gut gemachten, recht subtil vor sich hin psychologisierenden, filmästhetisch übervorsichtig agierenden Festivalstandartfilm produzieren kann.

Wednesday, October 29, 2008

Death in the Land of the Encantos, Lav Diaz, 2007

Von den vier großen Lav-Diaz-Filmen, die ich bislang gesehen habe, hat mich Death... wahrscheinlich am tiefsten beeindruckt und sicherlich am nachhaltigsten verstört. So sehr verstört, dass mir hier nichts anderes möglich ist, als eine sehr vorsichtige Annäherungen an dieses Monstrum von einem Film.
Death... nimmt die Verwüstungen des Taifuns Durian zu Füßen des Vulkans Mayon als Ausgangspunkt. Nur eine Woche nach der Katastrophe begann Diaz dort zu filmen, die Zerstörung prägt den Film in jeder Hinsicht, eingestürzte Wellblechhütten, Trümmer, Kleidungsfetzen aber auch umgestürzte Bäume, Flüsse, die sich neue Wege gebahnt haben, Schlamm, Dreck. Kultur und Natur sind gleichermaßen am Boden.
Der Film ist dann eine einzige, delirierende und dennoch konsequente Öffnung hin auf dieses zerstörte Land. Death... wählt, ganz im Gegensatz zu den streng strukturierten, exakt konstruierten übrigen Filmen (inbesonder im Gegensatz zum unmittelbaren Vorgänger und zum unmittelbaren Nachfolger, zu Heremias und Melancholia, die sich über die einstündigen Segmente der Videotapes strukturieren), dafür eine fast völlig offene Form. Ausgehend von immer wiederkehrenden Trümmerbildern in grobpixeligem Schwarz-Weiß und dem in ihnen platzierten diaztypischen Antihelden Benjamin, einem Dichter und politischen Aktivisten, der aus dem russischen Exil in die Philippinen zurückgekehrt ist, unternimmt der Film Reisen in die unterschiedlichsten Richtungen und entfernt sich doch nie von seinem Anliegen. Mal bewegt sich Diaz ins Dokumentarische und Selbstreflexive (einmal sogar zurück zu Heremias), mal dialogreich in die politische Geschichte und Gegenwart der Philippinen, mal nach Russland (oder besser: in die Projektion eines Russlands als "country built against the sky"), mal nach Zagreb und Manila, hin zu einer anderen, von Vertikalen dominierte Raumorganisation, mal in philosophische und kunsthistorische Diskursfelder und immer wieder hin zu den zahlreichen Frauenfiguren des Films, zu den Frauen, die teilweise ineinander verschwimmen und deren ontologischer Status nicht in allen Fällen gesichert ist.
Vor allem diese in sich jeweils sehr unterschiedlichen Bewegungen hin zu den Frauen sind beeindruckend. Der Film scheint den Versuch zu unternehmen, so viel wie möglich auf diese Frauen zu projizieren, ohne, dass dabei freilich irgendwie ungebührlich Macht über sie ausgeübt würde. Gleich zu Beginn schneidet Diaz von einer langen Einstellung, die sich unsicher tastend über die verwüstete Landschaft bewegt, auf eine nackte Frau im Bett. Die Kamera schwebt dann mit genau derselben Unsicherheit und Vorsicht über diese Frau, minutenlang schreibt sie das Elend auf deren seinerseits makellosen Körper um. Später tauchen andere Frauen auf, Benjamins Mutter, eine Russin, eine tote Schwester, die Ex-Freundin Catalina etc und irgendwie scheint der mythische, brutale, wunderschöne Vulkan Mayon auch mit diesen Frauen, oder zumindest mit einer der vielen Ideen von Weiblichkeit, die der Film entwirft, zu tun zu haben. (Es gibt durchaus, und bei weitem nicht nur pro forma, auch femministische Diskurse in diesem Film und wie auch in anderen Diaz-Filmen ist die einzige Figur, die einen zumindest teilweise produktiven Weltbezug errreicht, eine Frau, nämlich Catalina, verkörpert von Angeli Bayani, die ein Jahr später in Melancholia eine sehr ähnliche Rolle übernehmen wird.)
Die ersten Stunden bewegt sich der Film frei durch Zeit und Raum, umkreist auf immer neuen Bahnen die reale Verwüstung, an der er sich entzündet. Doch je länger er dauert, desto mehr verlagert er seine ganze brutale Dynamik auf Benjamin, dem im letzten Drittel dann ein Martyrium bereitet wird, das in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht. Der eigentliche Beginn dieses Martyriums ist, nach einer längeren Passage, in der er ganz aus dem Film verschwindet, eine unglaublich intensive Szene in Manila.
Zunächst führt der Film die Stadt als einen Ort der bedrohlichen, grausamen Vertikalität ein, die erste Einstellung in Manila zeigt eine Straße, die an drei Seiten von finster glänzenden Hochhäusern umgeben ist, die jegliches Leben, jede Bewegung im Keim und in ihren Schatten ersticken. Nach einer kurzen Passage mit bewegter, desorientierter Kamera durch diesen vertikalen Alptraum findet der Film Benjamin in einem Cafe, im Hintergrund vorbeifahrende Autos, auf der Tonspur Straßenlärm. Benjamin sitzt und liest, irgendwann setzt sich ein weiterer Mann zu ihm, der sich als ein Mitarbeiter der Geheimpolizei und ehemaliger Folterer Benjamins entpuppt. Es folgt ein verbitterter und unerbittlicher Schlagabtausch, Benjamin wirft seinem Peiniger seine ganze Verzweiflung und den letzten Rest an Hoffnung, der ihm noch geblieben ist, entgegen, doch alles vergeblich. Als der Geheimpolizist verschwindet, haben sich die Lichtverhältnisse geändert. Benjamin ist nur noch eine schwarze Silhouette vor dem Hintergrund des hell erleuchteten Fensters, weiße Lichtreflektionen schimmern gespenstisch und überstrahlen die Silhouette. Im Grunde stirbt Benjamin bereits in dieser Einstellung, durch den restlichen Film bewegt er sich wie ein Geist.
Endgültig zum Gespenst wird er später (bei Lav Diaz muss so etwas immer gelesen werden als: Stunden später) in Catalinas Haus, im Wohnzimmer. Nach einem weiteren verstörenden Gespräch bewegt er sich zum Fenster, über sein Gesicht legt sich ein weißer, kalter Lichtstreifen wie eine Totenmaske.
Noch ein letztes Aufraffen ist ihm gegönnt, in seltsam aufrechter Körperhaltung unterhält er sich mit seinem Jugendfreund und ewigen Kontahenten Teodoro und breitet vor diesem sein ganzes Martyrium aus. Am Schluss dieses Gesprächs ist nicht nur Benjamin am Ende, sondern auch Teodoro, der sich bis dahin in Indifferenz geflüchtet und sich dabei gut gehalten hatte, der aber in dieser Szene zu einem zweiten Benjamin wird und nach dessen Tod sein Erbe antreten kann und muss.
Nun ist Benjamin bereit, ganz und gar und in jeder Hinsicht zu sterben. Der Film figuriert diesen Tod multiperspektivisch und multimodal. Eine längere Passage, in der Catalina und Teodoro Benjamin gegenüber einem zynischen Reporter verteidigen, verhindert ein Abgleiten in Fatalismus, unendlich bitter und verheerend sind diese letzten Stunden dennoch. Und erst recht die allerletzte Szene, eine schreckenerregende Miniatur irgendwo zwischen ins durch und durch Finstere gewendeter homoerotischer S/M-Fantasie (die Frauen sind sehr radikal abwesend in dieser letzten Szene) und klinisch reiner Grausamkeit (der Yuppie-Wandspiegel). Tiefschwarz und wie der gesamte Film sowohl physisch wie auch psychisch weit jenseits der Schmerzgrenze.

Monday, April 21, 2008

Out 1, noli me tangere, Jacques Rivette, 1971 - 1990: Fragmente

Kapitel 2: Arsenal, das verpeilteste Mitglied von "Sieben gegen Theben", ist in einer Probenpause im Bildhintergrund mit irgendetwas beschäftigt, man sieht nicht genau womit, aber irgendwann stürzt er und reißt eine kleine spanische Wand mit sich zu Boden. Dann rennt er weg.

In ein Gespräch ganz am Ende der Folge zwischen zwei Frauen (ich glaube Lili und Lucie, letztere ist vom Rest des Casts, eventuell mit Ausnahme Etiennes, durch eine Klassenschranke getrennt) dringen plötzlich Großaufnahmen ein. Das Thema des Gesprächs (Igor) spielt die nachfolgenden 4, 5 Stunden keine Rolle mehr, wird dann aber noch sehr wichtig.

Kapitel 3: Frederique geht mit einem Fußballer auf ein Hotelzimmer. Der erwartet Sex, ist aber eher belustigt, als verärgert, als seine Begleitung nicht so recht zur Sache kommen will. auf seine Frage, was sie studiere antwortet sie: "Philo" - Pause - "-sophie".

Wunderschön ist das Ende der Episode. Thomas frühstückt mit Sarah in deren Haus. Anschließend verlassen beide das Zimmer und die Einstellung durch eine Tür in der Bildmitte. Zurück bleibt ein impressionistisches Gemälde voller leuchtendem Gelb.

Kapitel 4: Noch schöner das Ende des vierten Kapitels: Thomas hat einem Kind, das bei Nicole wohnt, eine Schildkröte mitgebracht. Zunächst beginnt das Kind, recht rabiat mit dem armen Tier zu spielen, irgendwann scheint es sich aber mehr für die Kamera zu interessieren und blickt recht lange direkt in den Zuschauerraum.

Kapitel 5: Der Flirt zwischen Colin und Nicole will nicht so recht in Schwung kommen. In der Hippie-Bücherei nähert er sich ihr immer wieder, doch stets kommt etwas dazwischen. In der mehrmals unterbrochenen Szene scheitert immer wieder sein Versuch, ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Meist befinden sich die beiden in unterschiedlichen Bildebenen. Seltsam verschachtelt sind die Räume, wie sonst nur selten im Film, der seine Verschachtelungen auf völlig andere Art und Weise und seltsam nebenbei, als puren Effekt, erzielt.

Die Sieben-gegen-Theben-Gruppe sucht den Dieb Arnoud (der später in einer wundervollen Szene gemeinsam mit Frederique vor einem Schloss sitzen wird) und breitet vor sich eine Karte von Paris aus. Die strikte räumliche Logik derselben hat mit der des Films (in dem wie aus dem Nichts manchmal im Hintergrund der Eiffelturm auftaucht) nicht das geringste zu tun. Folglich ist die Suche von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Kapitel 6: Marie hat während der Suche nach Renaud dieselbe naiv-kindisch-verspielte Ernsthaftigkeit an sich wie während der Theaterproben und tanzt zwischen fahrenden Autos herum.

Kapitel 7: Die letzten Theaterproben funktionieren nicht mehr, erstmals kommt es zum handfesten Streit. Das Theater hat sich in Richtung Leben entgrenzt und sich selbst überflüssig gemacht (oder so ähnlich, die letzte längere Theaterprobe scheint einer ähnlichen Logik zu Folgen wie der gesamte Film; deshalb vielleicht besser: Das Theater hat sich in Richtung Rivette entgrenzt). Am Ende macht sich eventuell das Leben (Rivette) dann selbst überflüssig.

Kapitel 8: Von den geschätzten zehn Enden, die Rivette anbietet, gefallen mir die Versionen "David Lynch" und "Louis Feuillade" am Besten. In seiner Dreistigkeit ist aber Rivettes Auswahl nur konsequent (und ergibt, habe ich mir sagen lassen, im Kontext seines gesamten Werkes gleich noch mehr Sinn).

Monday, February 11, 2008

Berlinale 2008: Panasiatisches Kunstkino

Zou you /In Love We Trust, Wang Xiao Shuai, 2008

Wonderful Town, Aditya Assarat, 2008

Sweet Food City, Gao Wendong, 2008

Die Kamera bewegt sich selten, die Einstellungen sind lang, wenn Musik, dann Klaviermusik, erzählt wird tendenziell weniger als anderswo.
Die Vorbilder sind deutlich erkennbar: Hou Hsiao-hsien für Zou you (aber nur stilistisch, seine Geschichte rollt Wang Xiao Shuai ohne die Houschen Aussetzer und Ellipsen ab), Wong Kar Wai für Wonderful Town, Tsai Ming Liang für Sweet Food City. Innerhalb des (süd)ostasiatischen Kunstfilms haben sich verschiedene Archetypen herausgebildet, die endlos variiert werden können.
Zou You ist ein Wettbewerbsfilm. Und zwar nicht nur, weil er im Wettbewerb läuft, weil Kosslick ihn während seiner äußerst tiefschürfenden Recherchen im Bereich des asiatischen Autorenfilms ausfindig gemacht hat. Nein, Zou you wurde von Anfang an für diesen Wettbewerb geschrieben und gedreht. Oder wenn nicht für diesen, dann für den in Locarno oder San Sebastian (für Venedig oder Cannes ist er denn doch zu schlecht). Klar, das gilt prinzipiell für viele, wenn nicht gar für alle Filme des Programms: Der Festivalbetrieb wählt seine Filme nicht aus einem außerhalb seiner selbst existierenden Filmmarkt, sondern produziert diesen selbst, teils direkt, teils und weitaus effektiver indirekt. Dennoch addressiert Zou you die Programmkommission als anvisiertes Publikum noch deutlicher als die meisten anderen Wettbewerbsfilme der letzten Jahre, die ich gesehen habe. Pitch: World Cinema light. In diesem Fall wie bereits angedeutet und wie Wang Xiao Shuai es bereits mit Drifters einstudiert hat: Hou Hsiao-hsien light. Die Bilder sind streng komponiert, teilweise schön in die Tiefe gestaffelt, Kamerabewegungen werden spärlich, dann aber effizient eingesetzt. Freilich: In den dramatischen Momenten gibt's dann trotzdem Schuss/Gegenschuss.
Narrativ betrachtet ist Zou you leicht formalisierter Arthausproblemsozialkitsch: Wörtlich übersetzt heißt "Zou you" "Rechts Links", eine Familie rechts, eine links, das Mädchen, um dessen Krankheit es geht, hat ein Zöpfchen rechts, eines links, ein biologisches Elternteil in der rechten, eines in der linken Familie, aus medizinischen Gründen sollen sich die beiden noch einmal sexuell vereinigen (zwecks Erzeugung eines Stammzellenliefernates für das Zopfmädchen), das führt zu Ehekrach rechts und Ehekrach links, vor allem nachdem die künstliche Befruchtung scheitert. Zwischendrin erklärt eine Figur der anderen die chinesische Zweikindpolitik. Die weiß natürlich bereits Bescheid also erklärt eigentlich eine Figur dem Publikum die chinesische Zweikindpolitik. Noch genauer: Der Film erklärt der Programmkommision, dass er irgendwie auch politisch ist. Hou Hsiao-hsien würde einen solchen Stoff natürlich nie anfassen, bei Alain Resnais wäre daraus ein Masterpiece geworden. Bei Wang Xiao Shuai erfüllt sich der Zweck des Films mit der Einladung zum Berlinalewettbewerb und werweiß dem Preis irgendeiner ökumenischen Jury. Mehr gibt es für einen solchen Film nicht zu hoffen, mehr verlangt er auch nicht.
Wonderful Town hat es nur ins Forum geschafft. Wahrscheinlich, weil es sich um einen Debutfilm handelt. Auch Aditya Assarat hält sich an die Regeln. Und zwar an die von Wong Kar Wai. Beziehungsweise an die von Christopher Doyle. Langsam schwebende Kamerafahrten, liebliche Farbtöne, dünne Mädchen, die neben flatternden Vorhängen auf dem Bett liegen. Irgendwo ist ein Geisterhaus, das macht kurz Hoffnung, spielt dann aber keine große Rolle. Statt dessen bittersüße Liebesgeschichte, bittersüße Liebesgeschichtebilder, bittersüße Liebesgeschichtebilderbegleitmusik.
Technisch ist das sehr ansehnlich und da die Narration wie bei Wong Kar Wai nicht allzu aufdringlich ist, gefällt Wonderful Town besser als Zou you. Schön ist eine Sequenz, in der die lokalen Dorfprolls die Liebenden während einer Autofahrt traktieren. Die Kamera schwebt mit dem fahrenden Auto und teilt die Verunsicherung dessen Insassen. Schön ist auch das brutale Finale, welches dann doch nicht mehr ganz im Genre aufgeht. Das letzte Bild ist dann wieder Kinopoesie der schrecklicheren Art: Zwei rosa gekleidete Kinderballerinas tanzen auf einer Steinmauer.
Auch Sweet Food City läuft im Forum. Im Gegensatz zu Wonderful Town kann ein solcher Film auch nur dort laufen. Gefühlte 10 Minuten dauert eine starre Einstellung, die im Vordergrund einen Müllsammler zeigt, der im auf der Straße liegenden Abfall wühlt. Narrativ von Interesse ist eine andere Figur, im Hintergrund. Erst sitzt sie ein paar Minuten schweigend auf einer Treppe, dann führt sie ein kurzes Telefongespräch, das so gut wie keine Informationen bietet, dann bleibt sie noch ein wenig sitzen, schließlich steht sie auf und geht. Die Einstellung ist jedoch erst zu Ende, nachdem der Müllsammler das Bild verlassen hat.
Sweet Food City ist ein guter Film und orientiert sich an Tsai Ming Liang, an seiner Art, Bilder zu komponieren, wie auch an seinem Erzählstil, an einer narrativen Logik, die auf die Fähigkeit des Publikums setzt, Lücken selbstständig zu füllen. World Cinema heavy. Dabei deutlich stärker als Tsai Ming Liang Realismusdiskursen verhaftet. Sweet Food City ist nicht emphatisches nothing happens. Zumindest nicht nur. Meist gibt es in den szenischen Panoramen der vor sich hin gammelnden Stadt Interessantes zu beobachten. Das soziale Leben im Zustand seines Verfalls, denkbar weit entfernt von Jia Zhang-kes im Vergleich vitalistischen Gewusel in Still Life. Architektur im Zustand ihres Zerfalls, die Häuser brechen auf, die Kamera entfernt sich und betrachtet sie von weitem. Auf mehreren Etagen dieser Ruinen organisiert eine Art Ersatzleben, ganz ähnliche Bilder findet Sweet Food City hier wie Rithy Panhs Les artistes du Theatre Brule.
Dazwischen entwickelt sich irgendwo eine Geschichte. Erst fast gar nicht, nicht einmal deren Exposition kommt weiter als zur Klärung, dass eine Figur der Onkel einer anderen ist und eine Dritte wohl als Prostituierte arbeitet. Wenn die Geschichte dann in Schwung kommt, tut sie das zwischen den Bildern und zwar so schnell, dass die Bilder selbst gar nicht mehr hinterherkommen und das auch schnell wieder aufgeben. Dann schauen die Figuren lieber Filme von Bergman, Antonioni und Edward Yang. Dazwischen auch mal Hongkong-Trash. Gewidmet ist der Film aber natürlich nicht Godfrey Ho, sondern Antonioni, Bergman und Yang. Das sorgt für Erheiterung im Publikum. Warum eigentlich?

Monday, December 10, 2007

La graine et le mulet, Abdel Kechiche, 2007

Abdel Kechiche rückt seinen Akteuren so nah auf den Leib, wie das sonst nur die Dogma-Filmer versuchen. Überhaupt bricht Kechiche wohl nur recht wenige Regeln des berüchtigten Manifests und reiht sich in die lange Reihe derer ein, die Authentifizierung vor allem über Handkameraexzesse zu erreichen können glauben.
Zu Beginn: Sozialdrama galore. Nach einer noch recht entspannten Episode um (wie sich bald herausstellen wird: außerehelichen) Sex auf einem Touristenschiff, wendet La graine et la mulet sich konsequent dem harten Alltagsleben zweier Immigrantenfamilien zu. Der touristische Blick ist nur Antithese zu allem, was folgen wird. Der falschen Objektivität des Touristen möchte Kechiche eine Vielzahl an Subjektivitäten entgegensetzen, Subjektivitäten, die sich oft gegenseitig widersprechen und sich nur widerstrebend den zahllosen sozialen Verträgen, die das Leben ihrer Träger objektiv bestimmen, unterordnen.
Doch zunächst wie gesagt: Sozialdrama pur. Im Mittelpunkt steht Anfangs der alternde Slimane. Nach einigen Lektionen in Sachen neoliberalem Outsourcing werden die Kinder, die Ex-Frau und die Freundin eingeführt, die Kamera bleibt weiterhin nah an den Gesichtern und Händen, auch wenn die Tochter ihren (französischen und zumindest grenzchauvinistischen) Mann in einer überaschend didaktischen Passage über die Regeln des Wirtschaftsspiels aufklärt.
Sobald Thematik und Ausgangsposition etabliert sind, löst sich die Erzählung mehr und mehr von Slimane, der schließlich fast das gesamte letzte Drittel des Films nur noch damit zubringen wird, einige Kinder zu verfolgen, die sein Moped gestohlen haben. Nun kommt jeder zu seinem Recht, noch die scheinbar unwichtigsten Figuren des Ensembles erhalten ihre Subjektivität, von den eben nicht nur rein funktionell bestimmten Antagonisten der Immigrantenclans, den alteingesessenen vollblutfranzösischen Geschäftsmännern bis zu den oben erwähnten Mopeddieben und den fast schon sprichwörtlichen alten Männern, die im Cafe sitzen.
Durchaus beeindruckend ist die Konsequenz, mit welcher Kechiche diese multiple Subjektivierung in Szene setzt. Freilich gibt La graine et la mulet im Zweifelsfall stets dem Familienmelo den Vorzug vor der Erkundung sozioökonomischer Zusammenhänge. Und auch die dramatische Struktur des gesamten Filmsfolgt diesem Paradigma und reduziert die anfangs noch recht frei angelegten Konflikte zu einer mehrschichtigen Parallelmontage mit Suspense und allem, was dazu gehört. (Im Grunde ist La graine et la mulet klassisches Kino in Reinform, vor allem in seinem Streben nach motivischer Kohärenz und seiner bedingungslosen räumlichen Verdichtung der Ereignisse.)
Was bleibt sind vor allem viele lange Gespräche. Die sind oft sehr schön: Die junge Rym steht während einer ruhigen, konzentrierten Unterredung vor einer rosa gemusterten Tapete, während sich hinter dem sitzenden Slimane ein Fenster zum Hafen öffnet; ein Familienessen entwickelt sich zur polyphonen Sprachsynphonie. Doch nicht ganz lässt sich der Eindruck verdrängen, dass Kechiche im Zweifelsfall der Soap Opera immer etwas zu gewogen ist. Vor allem in Bezug auf die Schließung, die nun tatsächlich viel zu viel schließt. So ist La graine et la mulet zwar ohne Zweifel ein guter Film. Ein ehrlicher jedoch nur bis zur vorletzten Einstellung. Und ein "neues Kino der Menschlichkeit" (Hochhäusler)? Ich weiss nicht so recht...

Wednesday, July 25, 2007

Opera, Dario Argento, 1987

Kann man bei einem Regisseur, der bereits seinen ersten Film medial so vielseitig verschachtelt wie L'ucella dalle piume di cristallo noch von einer selbstreflexiven Wendung in der späteren Karriere sprechen? Oder angesichts der Tatsache, dass er die Mordszenen in 4 moche die velluto grigio mit einer eigens aus der DDR (warum eigentlich ausgerechnet aus der DDR?) eingeflogenen Spezialkamera drehte, von einem manierierten Spätwerk? Im Grunde scheint man Argentos Werk mit Begriffen wie "selbstreflexiv" oder "manieriert" nicht mehr wirklich beikommen zu können.
Und doch scheint der Italo-Splattermeister mit Opera in mancher Hinsicht noch einmal in eine andere Dimension vorzustoßen. Möglicherweise lässt es sich so beschreiben, dass Argento in Opera nicht nur alle Regeln und Stilmittel des Genres offen ausstellt und Amok laufen lässt, sondern auch alle filmtheoretischen Überlegungen zum Splatterfilm auf der Mulvey - Clover - Williams Achse in den Film selbst integriert. So spielt beispielsweise Christina Marsillach der Reihe nach unterschiedliche Methoden des female empowerments durch. Vor allem jedoch spielt der Film von Anfang an (von den großartigen Plansequenzen im hyperbarocken Opernhaus, die so lange zwischen subjektivem, halbsubjektivem und objektivem Status wechseln, bis sich die Unterscheidungen zwischen diesen Kategorien in Luft auflöst und der Kamerablick schließlich mit keiner anderen Perspektive mehr zusammengedacht weren kann, einer hypnotischen Perspektive, die alle Bildelemente von anfang an als Funktion dieses manischen Blicks konstruiert und der die Montage im Grunde fremd ist; ironischerweise hat gerade Argento, einer der größten Antirealisten des Kinos, eine der konsequentesten Plansequenz-Ästhetiken entwickelt) mit Blickachsen, unterschiedlichen Subjekt / Objekt Verhältnissen, darüber vermittelten gegenderten Machtverhältnissen und ihrer Subvertierung.
Doch natürlich ist alles nur Spielmaterial, nie im Leben geht es in Opera um einen ernsthaften Genderdiskurs. Die feministische Filmtheorie ist nicht mehr als ein Special Effect unter vielen, der dem an allen Ecken und Enden überschäumenden Film noch ein zusätzliches diskursives Element hinzufügt.
Warum der Film unter Argentonianern oftmals einen etwas schweren Stand hat, kann ich gar nicht nachvollziehen (mir fehlt allerdings auch noch das gesamte eigentliche Spätwerk nach diesem Film). Das Opernsetting ist schlichtweg ideal in jeder Hinsicht für formale wie medienreflexive Spielereien aller Art, die anderen Schauplätze sowie die Splattersequenzen funktionieren ebenfalls äußerst gut und vor allem endet der Film mit einem nun völlig fantasmatischen Alpenfinale (genauer gesagt sogar mit einem Grasfinale), das mich gleichermaßen an Lemkes Negresco***** und an Natural Born Killers erinnert, sowohl den entfernten deutschen Vorfahren als auch den amerikanischen Erben aber locker in die Tasche steckt (ok, beides sehr unpassende Vergleiche, aber was solls). Zumindest in diesen unglaublichen letzten fünf, zehn Minuten ist Opera mindestens auf der Höhe von Suspiria und Inferno.

Saturday, March 10, 2007

Inferno, Dario Argento, 1980

"Haben Madame sich verletzt?" - "Nein, das ist kein Blut, sondern Farbe!"
Aber selbstverständlich ist bei Argento Blut sowieso zu allererst eine Farbe. Und ganz besonders in Inferno, dem Film, in dem der Italiener dem Farbrausch mehr denn je frönt.
Ein Großteil des Films spielt in den seltsamen Häusern des Architekten Varellis, durchgeknallten Prachtbauten, architekturhistorisch wahrscheinlich irgendwo Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert angesiedelt, popkulturell in der filmischen Vision Argentos jedoch eher auf der Schwelle zwischen Seventies-chique und Glamour/Neon-Eighties - wie auch die ebenso grandiose Musik Keith Emersons gleichzeitig auf beide Epochen verweist. Labyrinthische Gänge voller tendenziell halluzinogener Farben, psychedelischer Klänge, leichtbekleideter Frauen, behanschuhter Messerstecher und natürlich Blut.
Von einer sinnvollen Handlung natürlich weit und breit keine Spur. Dennoch ist nichts an Inferno beliebig. Argento weiß genau, was er macht. Ganz im Gegenteil: Inferno ist so etwas wie die ausgestellte Formel eines Argento-Filmes, seiner synästhetischen Dynamik ebenso wie seiner psychosexuellen Grundlagen. Mehr noch als in anderen Filmen zerstört der Regisseur bewusst jeglichen Realitätseffekt - ohne dass der Film dadurch auch nur einen Hauch seiner Wirkung einbüßen würde (auch wenn das Ergebnis möglicherweise nicht ganz den Drive von Suspiria besitzt). Inferno ist ein Manifest des filmischen Antirealismus und eine perfekte Vorlage für das moderne Blockbusterkino, das allerdings bis heute nie auch nur halb so weit gegangen ist wie der Meister. Argento spielt mit offenen Karten - und gewinnt trotzdem mit Leichtigkeit.
Ganz besonders großartig ist eine Szene, die ausnahmsweise einmal nicht innerhalb eines Hauses spielt (und selbstverständlich mit dem Rest der Handlung nichts zu tun hat): Ein alter Mann möchte in einem seichten Gewässer einen Sack voller junger Katzen ertränken, fällt bei diesem Versuch verdientermaßen auf die Fresse und versucht sich ans Land zu retten, während der von Ratten attackiert wird. Ein Würstchenverkäufer beobachtet die Szene, eilt zu dem Alten - und greift zum Fleischermesser. Am Ende triumphieren die Ratten (Btw: Tiere im italienischen Horrorfilm... Ein weites Feld, das sich zu bearbeiten lohnen würde).

Thursday, December 14, 2006

Snake Eyes, Brian De Palma, 1998

In Snake Eyes hat Brian De Palma leichtes Spiel: Das Drehbuch ist dermaßen banal und unwichtig, dass es nie zum Balast wird, sondern seine Rolle darin erschöpft, einen Schauplatz zu liefern, der sich geradezu perfekt nicht nur für technische Bravourstücke eignet, sondern auch für mediale Reflektionen jeglicher Art und den ständigen Wechsel verschiedener Blickwinkel und Subjekt-Objekt Verhältnisse. Die völlig entfesselte Kamera erscheint dieser kokaindurchtränkten, von fieberhafter aber meist eher ziellose (und vor allem extrem zirkulärer und selbstgenügsamer) Geschäftigkeit durchdrungenen Boxarena voll und ganz angemessen, ist diese selbst doch an allen Ecken und Enden von Überwachungskameras erschlossen, deren genaues Treiben kaum jemand mehr zu überblicken scheint. Ebenso wie es unmöglich erscheint, aus den Daten der unterschiedlichen Kameras innerhalb der Diegese auch nur irgend etwas korrekt zu rekonstruieren (aber nur, weil es zu viele Kameras gibt, nicht etwa zu wenig), verschwindet auch die Boxarena als konkret erfahrbare physikalische Räumlichkeit, je unbeschränkter De Palmas Zugriff auf dieselbe erscheint. Selbst die - ansonsten vollkommen nebensächliche - Handlung verläuft nach ähnlichem Muster: Je mehr Personen die Ereignisse um den Boxring herum erhellen, desto bescheuerter wird der Komplott, der sich schließlich daraus ergibt.

Wednesday, June 28, 2006

Dong / The Hole, Tsai Ming-liang, 1998

Das unglaublich schöne, in charmantester Weise campige Musical The Hole ist die logische Weiterentwicklung Tsai Ming-liangs vorheriger Filme. Waren Wasser und andere Flüssigkeiten in Vive L'Amour noch sparsam und gezielt eingesetzt, dass eine allegorisch bzw. symbolische Lesart möglich schien - obwohl eine genaue Analyse wohl bereits hier die Schwierigkeiten eines solchen Ansatzes offenlegen würde - zeigte bereits The River, dass Tsais Wasserobsession mit Formeln wie "bedeutet" oder "steht für" nicht mehr beizukommen sein wird; Zu deutlich rückt das flüssige Element in den Mittelpunkt aller Beziehungen und der filmischen Mise-en-scene. The Hole schließlich macht endgültig alles nass. Bereits anfangs regnet es immer und überall, das Wasser denkt gar nicht daran, vor Wänden oder Decken halt zu machen, dringt in jede Pore des Hauses, in dem die beiden Hauptfiguren ihre absonderliche Beziehung pflegen und alsbald auch in jeden Bildkader. Das Wasser erobert immer mehr Raum, dringt schließlich auch in die zuerst hermetisch von der Handlung abgeriegelten - und deshalb trockenen - Musicalsequenzen und erobert innerhalb der Diegese Zimmer um Zimmer.
Keine Allegorien, keine Metaphern, sondern Funktionen. Kuei Mei-yang sitzt auf der Toilette und fängt gleichzeitig in einer Wanne, die sie über ihrem Kopf festhält, das Wasser, welches durch die Decke tropft. Kang Sheng-lee erweitert das Loch zwischen seiner und Kueis Wohnung mithilfe iner Konstruktion, die einem Buster Keaton Film entsprungen zu sein scheint. Wundersame Transaktionen zwischen Flüssigkeiten, Körpern und Löchern allenthalben. Symbole braucht hier wirklich keiner mehr.
Stattdessen verwandelt sich das gesamte Arrangement im Laufe der Zeit in eine Art abstrakten Porno. Die meisten der Filme Tsai Ming-liangs finden ihren Höhepunkt in einer Sexszene. The Hole ist ein einziger Geschlechtsakt. Das einzige, was man daran aussetzen kann, ist, dass die Frau die ganze Zeit unten liegt. 95 Minuten Missionarstellung. Ganz am Ende wird jedoch auch für dieses Problem eine Lösung gefunden.

Monday, June 05, 2006

Angst, Gerald Kargl, 1983

Ein Ruf eilt diesem Film voraus und auf der DVD eine Einführung Jörg Buttgereits. Beides verspricht einen äußerst intensiven Serienmörderfilm, die Wiederentdeckung eines unverdientermaßen jahrelang in der Versenkung verschwundenen Genreperle. Nach dem Genuss des Films bleibe ich jedoch etwas ratlos zurück, kann mich der ersten Einschätzung noch halbwegs, der zweiten schon weit weniger anschließen.
Schon die erste Einstellung etabliert das bestimmende stilistische Idiom, die langsam und frei schwebende, allmächtige Kamera, die mit Vorliebe Aufsichten zeigt, oft Totalen und von einem unbedingten Kunstwillen geprägt ist. Bald darauf setzt der Voice-over Kommentar ein, zuerst schrecklich cheesy, doch das gibt sich schnell. Angst folgt seinem Helden, einem Serienkiller nach der Entlassung aus dem Knast, auf dem Weg zur neuen Beute, die er in einem Landhaus ausfindig macht. Kargl setzt zahlreiche subjektivierende Techniken ein, bricht sie jedoch vor allem durch die radikalität des Konzepts: größtenteils in Echtzeit wird erzählt und obwohl echte POV Shots Mangelware sind, fast immer aus der Perspektive des Psychos. Rückblenden oder sonstigen Schnickschnack gibts gar nicht, sondern nur den oben angesprochenen Voice-over Kommentar. Dieser Kommentar allerdings, der sicherlich zur bösartigen Atmosphäre ebenso beiträgt wie der sphärische Synthie-Soundtrack kann es nicht lassen, eine doch etwas schlappe Determinierung in das Geschehen einzuschreiben, selbst vor den gröbsten freudianischen Klischees macht Kargl nicht halt. Angeblich basiert der Kommentar auf tatsächlichen Aussagen von Sereienkillern, aber macht das die Sache besser? Kann mit diesem (doch vor allem erstmal werbewirksamen) "Realismus" auch erklärt werden, dass im Verlauf der Handlung auch noch Nekrophilie und Kannibalismus abgefeiert werden? Vielleicht liegt es daran, dass mich der ganze Serienkillerunsinn abseits des Kinos eigentlich scheissegal ist und mir deshalb auch offensichtlicher spekulative Schlächterepen a la Texas Chainsaw Massacre 1000mal lieber sind als Kargls semipornografischer Pseudonaturalismus.
Klar, Angst unterscheidet sich in vielfacher Hinsicht vom tristen Gorehoundfutter der Guinea Pig Filme und Konsorten. Doch zumindest stellenweise kommt der Verdacht auf, dass der unterschied nur ein Gradueller ist. Kargls Film ist genauso vorhersehbar und bietet letzten Endes dieselben Gratifikationen. Beeindruckend ist das Ergebnis aufgrund der technischen Fertigkeit und Hingabe aller Beteiligten schon, einzelne Sequenzen sind auch tatsächlich von der versprochenen Intensität, doch der Film als Ganzes erscheint mir von einer strukturellen Ödniss geprägt, die manchmal tatsächlich in gähnender Langweile mündet.

Thursday, April 27, 2006

What Time Is It There, Tsai Ming-Liang, 2001

Formal auffällig ist zunächst die statische Kameraführung. In den einzigen Einstellungen, in welchen eine Rekadrierung stattfindet, wird diese durch die gleichzeitige Bewegung eines Fahrzeugs begründet. Außerdem wird eine Szene fast immer in einer einzigen Einstellung aufgelöst. Diese beiden technischen Charakteristiken verweisen auf asiatische, vor allem japanische Kinotraditionen: die „unbewegliche“ Kamera Ozus und die „eine Szene = eine Einstellung“ -Technik Mizoguchis. Hier setzt Tsai-Ming Liang dieses Verfahren ein, um präzise, pointierte Aussagen über die kulturellen Wechselwirkungen innerhalb Taiwans einerseits, und zwischen Taiwan und dem Rest der Welt andererseits, zu treffen und gleichzeitig die verschiedenen Möglichkeiten der einzelnen Individuen, mit diesen kulturellen und politischen Gegebenheiten in Beziehung zu treten, aufzuzeigen.
Tsai Ming-Liangs Film behandelt die kulturelle Differenz zwischen Frankreich und Taiwan mit unterschiedlichen Methoden. Nie jedoch wählt er den einfachen Vergleich, statt dessen finden sich stets leichte Verschiebungen: Beispielsweise trinkt Hsiao-Kang auf dem Hochhausdach in seinem imaginären Paris Wein, in der nächsten Einstellung übergibt sich Shiang-Chyi – allerdings weil sie zu viel Kaffee getrunken hat. Auch die drei sich parallel entwickelnden Sexszenen, die den Höhepunkt des Films bilden, entwickeln sich aus völlig unterschiedlichen Situationen heraus und lösen sich auf verschiedene Weise auf. What time Is It There betont die Differenz, nicht nur zwischen Taiwan und Frankreich, sondern auch zwischen Truffauts Frankreich und Tsai Ming-Liangs Frankreich, sowie eine Differenz innerhalb Thailands, die dich im Generationenkonflikt zwischen Hsiao-Kang und dessen Mutter ausdrückt. Gleichzeitig sind die verschiedenen Ebenen in ständiger Interaktion begriffen, teilen bestimmte Objekte (die Armbanduhr im Falle Hsiao-Kangs und Chiang-Chyis, das Aquarium im Falle Hsiao-Kangs und seiner Mutter) und Erinnerungen. Eine Interaktion, der allerdings die Ebene der Kommunikation verwehrt bleibt – deutlich wird dies vor allem in der Mutter-Sohn Beziehung, die keine gemeinsame Sprache mehr zuzulassen scheint.
Als Reaktion auf diese scheinbare Unmöglichkeit verschiebt Hsiao-Kang seinen eigenen kulturellen Diskurs. Die unterschiedlichen Uhrzeiten sind die symbolischen Repräsentationen einer tatsächlichen Differenz, die jedoch Vergleichbarkeit in einem Maße suggerieren, wie die Wirklichkeit sie, wie What Time Is It There eindrücklich zeigt, nicht einhalten kann. Ziemlich genau in der Mitte des Films befindet sich Hsiao-Kang in einem Raum, der die Beliebigkeit der symbolischen Produktion offenlegt und noch einmal auf den gundlegenden Wiederspruch zwischen Vergleichbarkeit versprechenden Zeichensystemen und ihrer Konfronatation mit einer auf unbeherrschabaren und unvorhersehbaren Differenzen aufgebauten physischen Welt verweisen. Alle Uhren in diesem Kontrollraum zeigen unterschiedliche Zeiten an, einige gar unlesbare oder unmögliche.

Wednesday, February 15, 2006

Zweimal Amerika

One Way Boogie Woogie / 27 Years Later, James Benning, 2005

James Benning, dessen Filme 10 Skies und 13 Lakes bereits heute, ein Jahr danach, Berlinale-Legenden sind, bringt dieses Mal (etwas) leichter verdauliche Kost mit, er selbst verglich den Film im Gespräch mit Mtv. One Way Boogie Woogie aus den späten Siebzigern bietet eine Reihe von Momentaufnahmen aus ich glaube Baltimore, jeweils ungefähr eine Minute lang und jede mit einer Pointe versehen. Diese erschließt sich nicht immer im Bild selbst, manchmal erst im Verhältnis zweier Bilder oder in der Differenz zwischen Bild und Ton. Der Humor, der sich entfaltet, erinnert stellenweise an Tati, nur, dass Benning ungefähr 1000mal lustiger ist. Die Absurditätem des urbanen Alltags finden sich tatsächlich an jeder Straßenecke, vor jeder noch so erbärmlichen Fassade.
Nun hat er den gleichen Film noch einmal gedreht, mit den gleichen Kameraeinstellungen an den gleichen Orten, sogar mit demselben Soundtrack. Hier funktionieren die Bilder vor allem als Markierung einer Differenz, die es nicht gibt. Die warmen Farben des Originals, sind einer sterilen Fernsehoptik gewichen (was wohl auch am veränderten Filmmaterial liegt), sonst hat sich nicht viel geändert. Die Natur scheint wieder etwas Land zurück gewonnen zu haben, wo im ersten Teil kaum eine einzige Pflanze zu sehen war, wuchert es 27 Jahre später hier und da ganz ordentlich. Sonst jedoch bleibt alles öde, auch die Gabelstaplertechnik scheint sich in den letzten Jahrzehnten nicht allzu weit entwickelt zu haben.

Pine Flat, Sharon Lockhart, 2006

Wo Benning straight in Richtung MTV zu schreiten glaubt, übernimmt Lockhart sein altes Terrain, die 10minütige Einstellung für ihren gigantischen Film Pine Flat. Wo Benning sich in seinem neuen Werk ganz auf Urbanität konzentriert, übernimmt sie den Naturbezug seiner vorherigen Filme. Pine Flats Thema ist das Verhältnis von Mensch und Natur einerseits, Filmemacher und Schauspieler andererseits. In beiden Fällen ist diese Beziehung brüchig, Harmonie muss erkämpft werden, da ein Teil dieser Kombination stets versucht, den anderen an sich zu reißen. So in der zweiten einstellung, der besten von allen: ein Mädchen sitzt auf der Wiese und liest in einem Buch, gezählte neun Seiten lang. Um sie herum weht das Gras im Wind, hinter ihr die Zweige der Bäume. Sie jedoch bleibt still, innerlich, gespannt. Auch die Präsenz der Kamera ist immer spürbar. Die Kamera möchte das Mädchen erobern, gefangen nehmen, dieses versucht sich zu entziehen, indem es jeden Blickkontakt, mehr noch, sich jeder Bewegung, die nicht dem Lesen dient, zu enthalten. Einmal funktioniert es nicht, sie kratzt sich am Hals. In diesem Moment bricht das System zusammen, in dem sich Natur, Mädchen und Lockhart befinden, nur um sich im nächsten Moment wieder zu etablieren.
Nicht jede einstellung ist so fantastisch wie diese, in der zweiten Hälfte wird der Film fast zu komplex, da stets mehrere Personen im Bild sind. Dennoch ist Pine Flat sicherlich einer der ganz wenigen wirklich großen Filme dieser Berlinale.

Tuesday, September 13, 2005

Out 1: Spectre, Jacques Rivette, 1972

4 1/2 Stunden dauert Rivettes Meisterwerk und ist dabei keine Sekunde zu lang. 262 Minuten lang eröffnet sich ein Reigen aus Motiven, Personen, Ideen, Träumen und danach kann nichts bleiben wie es einmal war, soviel ist sicher.
Wenn Out 1: Spectre ein Thema hat, ist es wohl Sinnproduktion, bzw. die gleichzeitige Unmöglichkeit und Unvermeidbarkeit derselben. Die einzelnen Motive scheinen sich in den ersten zwei Dritteln des Films langsam zu größeren Mustern zu fügen, wobei die Fiktion den Zuschauer imitiert: wie dieser versuchen die Protagonisten (wie soll man sie sonst nennen?) ihre Umgebung zu strukturieren, wenn nicht zu erklären, so wenigstens zu dynamisieren. Doch selbst wenn dies gelingt, so nur für kurze Zeit, denn wie sich die Geheimbünde, Balzac-Zitate und Theaterproben untereinander und auf die Figuren beziehen, ist, wie das letzte Drittel des Films deutlich macht, eine Frage, die jeden Moment neu gestellt und jeweils unterschiedlich beantwortet werden muss. Nicht nur der improvisierte Produktionsverlauf des Films, auch seine narrative Struktur steht formalistischen Ansätzen diametral entgegen. Rivette erscheint als genaues Gegenstück der Kontrollregisseure von Eisenstein bis von Trier, konzentriert er sich doch auf die äußersten Ränder des Films, die zahlreichen Subtexte und Querverweise und lässt das Zentrum des Films offen nicht nur für seine Mitstreiter sondern auch für den Zuschauer. So lädt ausgerechnet dieser Film, der auf den ersten Blick so in sich selbst ruht wie kaum ein anderer , den Zuschauer zum Dialog ein. Er geht nicht auf dieses zu, sondern weicht zurück und fordert den Willigen auf, näherzutreten und einen der freien Plätze im Gefüge einzunehmen (und von diesen gibt es genug, personalisierte und nicht personalisierte).
Was bleibt nach dem Genuss dieses Meisterwerks? Zumindest zweierlei: erstens möchte ich die Hose der Erpresserin (cooler geht's nicht) und zweitens will ich irgendwann die 13-stündige Version sehen.