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Wednesday, September 30, 2015

Erotica, Emilio Fernandez, 1979

Die Frau heißt Erotica. Sie hat große Brüste. Wenn sie das erste Mal auftaucht, steht sie in einem Motorboot, hat ein blaues Oberteil an und eine dunkelblaue, kronenartig aufragende Kappe auf dem Kopf. Das Motorboot ist ein Fluchtmotorboot, sie wartet auf zwei Männer, die einen Safe knacken. Aber nur einer entkommt mit ihr.

Eine Kreisblende (!) später rennt Erotica fast nackt über den Strand. Sie behängt sich dann mit zwei Tüchern: ein halbdurchsichtiges legt sie um die Hüfte, ein komplett durchsichtiges über die Brüste, nicht um diese zu verbergen, sondern um sie zu akzentuieren, fast schon zu modellieren. Was insbesondere dann, wenn Erotica läuft (was sie häufig tut), sehr gut funktioniert. Der Kopf ist unbedeckt, das Haar offen. Alles flattert, alles bewegt sich. So bewegt sie sich fast durch den gesamten restlichen Film.

Erotica ist die Erotik jenseits der Scham und diesseits der Obszönität. Sie weiß, dass die Männer sie anstarren, wenn sie, mit zwei großen Obstbehältern behängt (zwei weitere Gewichte, zwei weitere bewegliche Elemente: Erotica wird endgültig zu einem physikalischen Phänomen) durch das Dorf läuft, um Besorgungen zu machen. Aber weder will der Film zeigen, dass sie die Blicke verabscheut und vor ihnen flieht, noch, dass sie sie anzieht und genießt. Es geht in den Szenen, die in langen, gleichmäßigen tracking shots fotografiert sind, lediglich um die Attraktion selbst, die die Frau darstellt, um das filmische und soziale Kraftfeld, das um sie herum entsteht.

"Pure" Erotik? Vielleicht... aber nicht im Sinne von ursprünglicher oder gar animalischer Erotik. Eher geht es dem Film darum, ein wissenschaftliches Modell (nicht aber: einen Versuch, soweit ist der Film noch nicht, die Daten, die er sammelt, sind noch nicht zweckgebunden) zu errichten: die Welt und die Menschen einmal nur unter ein, zwei Gesichtspunkten zu betrachten und dann schauen, was dabei herauskommt. Der Film ist hoch kontrolliert, die Menschen, die sich durch ihn bewegen, auch. Erotica stellt die Erotik als eine interindividuelle Bewegungskaskade dar, nicht als einen Trieb. Das zeigt sich auch, erst recht sogar, in den Szenen, die der zentralen Eifersuchtsgeschichte gewidmet sind. Denn der zweite Mann taucht bald wieder auf, erst als Teil einer Strafkolonie, dann als Flüchtender.

Anders als der ein wenig nervöse, fiebrige erste Mann, der auf die Selbstsicherheit Eroticas (wenn man nach dem Drehbuch geht, das aber wirklich nicht die geringste Rolle spielt für das, was der Film eigentlich ist, ist sie seine Frau) nicht eingehen kann, ist der zweite einer, der ihr entspricht. Bei jeder Gelegenheit zieht er sein Hemd aus, präsentiert den braungebrannten, durchtrainierten Oberkörper, der zwar nicht im selben Maße wie der Erotikas physikalisches Spektakel wird, der aber seine eigene Erotik als eine Art physikalisches Potential ausdrückt: jede Bewegung, jede Beugung des Körpers verweist auf eine Kraft, die sich nicht ganz realisieren kann, die aber selbst bei so alltäglichen Handlungen wie dem Austrinken einer Kokosnuss mitbezeichnet wird.

Weite Teile des Films spielen in einer Hütte, die auf einem Felsen am Rand eines Strandes aufgebaut ist. Abgeschieden von der Welt, aber nicht getrennt von ihr. Eine reduzierte Welt: ein Esstisch, eine Hängematte, ein Bett, immer wieder derselbe Blick durch ein Fischernetz hindurch auf den Sandstrand, der die Hütte mit dem Rest der Welt verbindet und den die Figuren immer wieder durchschreiten, in beide Richtungen. Erotica ist ein Film, der die Welt auf einige wenige, quasielementare Körper und deren Begehren, auf einige wenige, quasielementare Gegenstände, sowie schließlich auf die Elemente selbst (tosende Wellen...) reduziert, der aber dennoch alles andere als primitivistisch ist. Zum einen, weil der Film stets spekulatives, effektbewusstes Pulpkino bleibt und also stets darauf achtet, die Spannung zwischen den Körpern aufrecht zu erhalten; zum anderen, weil alles Elementare in einer sie kontrollierenden Form eingefasst bleibt.

Kaum eine Rolle spielen dabei die wenigen Dialoge, die einem weiß machen wollen, dass Erotica den zweiten Mann erst abweisen will, ihm dann aber verfällt. Tatsächlich geht es um Körperkonstellationen, die mit psychologischen Kategorien wie Eifersucht oder selbst Verlangen nicht kompatibel sind. Tatsächlich wird im Film ausnehmend wenig gesprochen. Sehr viele Szenen entfalten sich komplett wortlos, als quasimaterialistisches Körperkino, in dem (sichtbare, nicht blockierte) Blicke und (unsichtbares, zumeist blockiertes) Begehren wie Gewichte oder Magnete in einer physikalischen Versuchsanordnung eingesetzt werden.

Die beiden schönsten Konstellationen: Einmal tauchen die beiden Männer für Erotica im Meer nach Korallenschwämmen. Die Szene wird aus Eroticas Perspektive aufgefaltet: Sie blickt auf die unter dem Wasser schimmernden Männerkörper, sie nimmt, wenn die Männer kurz auftauchen, die Schwämme entgegen, wägt einen gegen den anderen Mann ab. Es geht aber nicht darum, dass sie eine Entscheidung fällt, einen Entschluss fasst, es geht nur darum, sie als abwägende Empfängerin von Begehren zu zeigen. Noch toller eine andere Sequenz: drei Körper bei der Arbeit. Der zweite Mann hat einen gewaltigen Stock in der Hand und zerstampft irgendetwas, Erotica bearbeitet mit einem Messer eine Kokosnuss, der erste Mann knüpft ein Netz. Eine ganze Weile schneidet Fernandez einfach nur zwischen diesen drei Handlungen hin und her. Aber diesmal zeigt er einen Kipppunkt. Die Kokosnuss öffnet sich, die Frau bewegt sich mit ihr nicht zum ersten, sondern zum zweiten Mann, präsentiert sie ihm, der da mit seinem Stab in der Hand posiert. Er nimmt sie ihr ab und trinkt, den Oberkörper expressiv zurückgebogen.

Eine "explizite" Metapher, klar, aber wiederum keine obszöne, weil sie in gewisser Weise den Geschlechtsverkehr nicht andeutet, sondern vollzieht: Nach den Regeln dieses großartigen, völlig wahnsinnigen Films kann Sex kaum anders aussehen. Tatsächlich gibt es in diesem freizügigen und an der Oberfläche von nichts anderem als von sexueller Eifersucht handelnden Film keine einzige "echte" Sexszene.

Auch noch erwähnenswert: Die Frau, Erotica, raucht. Und zwar spektakulärer als jede andere Frau in jedem anderen Film der Filmgeschichte.
















Tuesday, July 27, 2010

In passing

True Blood 1.1+1.2

Alan Ball bleibt mein ganz privates rotes Tuch. Mit American Beauty konnte man mich schon immer jagen, Towelhead ist nur deshalb erträglicher, weil Ball von Anfang an weniger will und deshalb auch weniger falsch machen kann, Six Feet Under hatte ich damals bereits nach einer Folge aufgegeben. True Blood möchte ich mindestens eine Staffel lang eine Chance geben. Aber die Serie macht es mir nicht leicht. Die Episoden ein einziges Grimassieren, das man hinterher nicht einmal mehr so recht nach Personen und individuellen Gesichtszügen aufschlüsseln möchte, Südstaatenlokalkolorit wird mit dem Vorschlaghammer eingeimpft. Auch sonst wird alles, was eventuell in einer Szene drinsteckt, auch ausgesprochen. Keine Geheimnisse, nirgends.
Verglichen mit dieser aufgepimpten Vampirerotik wirkt zumindest der erste Twilight-Film wie eine Abhandlung über reales weibliches Begehren. Nun denn, immerhin: Vielleicht verhält sich die Serie zu Six Feet Under wie Towelhead zu American Beauty: offensiver, naiver Trash statt Qualitäts- und Reflektionsbehauptung.

La mujer sin lágrimas, Alberto B. Crevenna, 1951

"Alles wird gut, wenn Du älter wirst!" meint die Tante (?). "Nein" widerspricht die Mutter (?) und spricht den Säugling direkt an: "nichts wird sich ändern". Das ist der Ende des Prologs eines recht generischen, gleichzeitig äußerst wahnwitzigen mexikanischen Melodrams und eigentlich ist damit schon alles klar. Später ist das Kind ein Mädchen kurz vor der Unabhängigkeit vom Elternhaus und der zweite Satz hat sich bewahrheitet. Es entspannt sich ein erbitterter Schwesternkrieg um einen älteren Mann, der junge Freund des Mädchens möchte auch in den Film rein, hat aber gegen die alten Diven keine Chance. Hyperbolische Alltagshysterie in einer erschreckend unbekannten Nationalkinematografie. Alberto B. Crevenna hat in seinem Leben über 150 Filme gedreht.

Thursday, July 08, 2010

Enamorada, Emilio Fernández, 1946

Wenn man wie ich die mexikanische Revolution fast nur aus amerikanischen und italienischen Western kennt, wird man sich einiges neu überlegen müssen nach diesem Film. Enamorada (siehe auch Bert Rebhandl auf cargo) projiziert nichts von außen auf diese Revolution, er versucht, ein noch sehr junges und offensichtlich kaum verarbeitetes Ereignis möglichst in seiner Gänze mit einer dynamischen Liebesgeschichte zu verkoppeln. Das vielleicht großartigste an der Sache ist, dass am Ende Liebesgeschichte und Revolution sich einander nicht im Weg stehen. Sondern zu beidseitiger Zufriedenheit zu Ende geführt werden.
María Félix gibt die weibliche Hauptrolle und ist außer Rand und Band. Eine Furie, die Ohrfeigen verteilt, mit Feuerwerkskörpern um sich wirft, Pistolen streichelt...

...und sich auch sonst zu wehren weiß:

Emilio Fernández' Regie ist äußerst inspiriert und verzichtet konsequent auf banale Filmrhetorik, fast jede einzelne Szene leistet sich kleine oder größere Extravaganzen. Oft filmt Fernández Menschen in ihrer ganzen Größe und leicht in Untersicht. Auch die Montage ist alles andere als analytisch und unsichtbar, viel eher eindeutig und selbstbewusst formend. Da lässt er eine Einstellung wie die Folgende auch schon mal gefühlt minutenlang ohne Schnitt und Bewegung laufen...

...nur um dann unvermittelt und schockartig zu einer Nahaufnahme in Aufsicht zu wechseln:

Auch María Félix setzt der Film klug ein. Zwar dominiert sie jede Szene, in der sie auftritt, mit Leichtigkeit, aber allzu viel klassische Star-Close-ups bekommt sie gar nicht. Primär ist sie im Film Handelnde, eines der Bewegungszentren, den Blick stillstellen will sie nur selten. In einer der wenigen "echten" Großaufnahmen (im Deleuzschen Sinne) klebt ihr eine adrette Träne unter dem Auge:

Erst gegen Ende, wenn sich der gesamte Film eine Pause, ein musikalisches interlude, gönnt, unternimmt er eine eingehende Studie dieses Stargesichts (mitsamt leicht exaltierten Augenbewegungen):









Der Film beginnt mit seiner Analyse also genau da, wo das konventionelle Melo mit seiner aufhört und sich in weichgezeichneten Hochglanz-Großaufnahmen ergeht.
Meine Lieblingseinstellung aber entstammt der Szene, in der María Félix ihren soon-to-be-Lover in die Luft sprengt. Kurz bevor der durch die Luft fliegt, bringt sie sich in Sicherheit und klettert über eine Mauer. Zurück bleibt - seelenruhig - eine Kuh:

Thursday, March 12, 2009

El imperio de la fortuna, Arturo Ripstein, 1986

Wie Cadena perpetua ist auch El imperio de la fortuna ein Film, der sich nicht nur durch Wiederholungen strukturiert, sondern gleichzeitig auch Wiederholungen artikuliert.
In beiden Fällen handelt es sich um unreine Wiederholungen, um die Vermischung verschiedener temporaler Logiken. Ripstein sperrt seine Figuren nicht einfach in zyklische Gefängnisse, statt dessen konfrontiert er sie mit unfertigem, marodem Fortschritt, mit unvollständigen Dialektiken.
In beiden Filmen vergeht Zeit und in beiden Filmen ist das Problem, dass sich manche Dinge ändern und andere gleich bleiben. Und dass eine Systematik dahinter zu stecken scheint, die bestimmt, welche sich ändern und welche das nicht tun.
In El imperio de la fortuna gibt es zwei Szenen, in denen Dionisio Pinzon, die Hauptfigur des Films, eine Frau verliert, weil er seinen Obsessionen verfallen ist. Im ersten Durchlauf ist die Obsession der Hahn, den er nach dem Hahnenkampf gerettet und wieder aufgepäppelt hat. Während er sich um das verletzte Tier kümmert, stirbt seine Mutter, um Hilfe schreiend, in der gemeinsamen Hütte. Er rollt sie in eine Bastmatte und vergräbt sie am Waldrand. Später, als er durch Hahnenkämpfe zu Geld gekommen ist, möchte er sie wieder ausgraben. Doch er findet die Leiche nicht mehr.
Die nächste Frau, seine eigene diesmal und die Mutter seiner Tochter, verliert er an die Spielsucht.
Es ist durchaus etwas vorwärts gegangen zwischen den beiden Todesfällen. Dionisio ist vom Lumpenproletariat aufgestiegen zum Villenbesitzer und Familienvater. Geschafft hat er das dadurch, dass er sich den Spielregeln angepasst hat, die da lauten: Du sollst betrügen, wo es nur geht. Und alles, was empatiefähig ist, ist auch instrumentalisierbar. Zunächst gilt das für die Hähne, die Dionisio zu Filmbeginn mit naivem, kindlichen Enthusiasmus liebt: Denen werden vor den Kämpfen die Rippen gebrochen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Dionisio muss das lernen: Die Sorge für den einzelnen Hahn ist sinnlos, der Sinn des Hahnenkampfs ist, strukturiertes Leiden der Kreatur in Geld zu verwandeln, der Hahn muss instrumentalisiert werden (all das, nebenbei bemerkt, ganz weit weg von Hellmans Cockfighter).
Eine reine, kraftvolle Empathie wie für den Hahn wird Dionisio nie wieder empfinden können. Seine Leidenschaft für seine spätere Frau, die Caponera ist schon eine, die sich nur noch über Fetische und Ersatzobjekte zu verbinden weiß. Die Caponera ist Sängerin und tritt mit ihrer Band bei den Hahnenkämpfen auf. Von Anfang an verbindet der Film die Hähne und die Caponera in elegischen Plansequenzen. Dionisio findet zur Caponera nur Zugang über die Hähne und den Gesang. Und über Spiegel, in denen sie unverhofft auftaucht.
Diese Plansequenzen wiederholen und variieren sich, wie der Film überhaupt, erst recht in seinem Mittelteil aus recht wenigen Bestandteilen zusammengesetzt ist: Plansequenzen von Hahnenkämpfen, Glücksspiel, die Caponera. Es gibt einige Elemente mit zyklischer Logik und andere mit einer eher dialektischen. Hahnenkämpfe und Gesang gehören zur ersteren, Sex und Tod zur zweiteren. Sex gibt es zweimal im Film. Das erste Mal wild und in Nahaufnahme, das zweite Mal kalt und in der Totalen. Nach dem zweiten Sex vertreibt Dionisio die Caponera, die er bereits soweit instrumentalisiert hat, dass er sie nicht mehr begehren kann, aus seinem Bett.
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Es ist in der Tat eine ähnliche zeitlich / historische Logik am Werk wie in Cadena perpetua. Den Hauptfiguren beider Filme gelingt ein sozialer Aufstieg, ein Fortschritt, der dann wieder eingefangen wird von zyklischen Elementen, die sich der historischen Dialektik verwehren und auf ihren Eigengesetzlichkeiten beharren. Während sich diese Struktur in Cadena perpetua zumindest im Ansatz in eine direkt politische Parabel fügt, bleibt sie im magischen Realismus von El imperio de la fortuna eher abstrakte Struktur. Schuld ist am Ende nicht das Kapital, sondern die Struktur selbst. In beiden Filmen aber wird das Scheitern weder zu Fatalismus, noch zum reinen Vorwurf gegen die Hauptfigur. Vielleicht geht es letzten Endes tatsächlich primär um einen ganz allgemeinen Weltekel, doch zynisch ist an diesen Filmen nichts. Denn der Absturz am Ende verweist eben nur scheinbar auf den Anfang. Der Taschendieb am Ende von Cadena perpetua ist eine andere Art von Taschendieb als der am Anfang. Und wenn Dionisio seinen Film auch nicht überlebt, so ist doch offensichtlich, dass seine Tochter nicht in die Fußstapfen des Vaters treten wird, zumindest nicht, ohne sich dagegen zu wehren. Im Grunde sind es zwei Bildungsromane, die Ripstein da in beeindruckender Lakonie inszeniert und auch, wenn er selber nicht mehr an die Sinnhaftigkeit der Welt glauben mag: Er kann sie seinen Filmen nicht ganz austreiben. Vom sozialen Aufstieg bleibt, quasi als Abfallsprodukt, auch nach dessen Ende die höhere Bewusststeinsstufe. Das ist dann zwar noch lange kein revolutionäres Kino, aber doch immerhin eines, das der Revolution eine kleine Pforte lässt.
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Ebenfalls demnächst im Videodrom

Monday, March 02, 2009

Cadena perpetua, Arturo Ripstein, 1979

Der Tarzan war ein Kleinkrimineller, Taschendieb und Teilzeitzuhälter. Dann sitzt er im Gefängnis ein und als er wieder herauskommt, arbeitet er bei der Bank. Es ist zu vermuten, dass er bei und für diese Bank auch das eine oder andere krumme Ding dreht und vielleicht sogar mehr Unheil anrichtet als zuvor, aber für ihn selbst ist die Festanstellung ein Schritt in Richtung Rechtschaffenheit. Dann taucht ein korrupter Polizist auf und beginnt, ihn zu erpressen.
Bunuel-Schüler (das merkt man fast in jeder Einstellung) Ripstein erzählt seine Geschichte, die sich deutlich am klassischen film noir orientiert, nicht linear, die Zeitebenen werden parallel montiert. Die Übergänge sind nicht markiert, es dauert eine Weile, bis man sich in der Geschichte zurecht findet. Die zeitweilige Verwirrung ist jedoch nicht der Punkt. Es geht eher darum, den Entwicklungsroman auch rhetorisch zu untergraben. Tarzans Geschichte nimmt eine fatalistische Wendung und der Film nimmt diese in seiner Filmsprache schon vorweg. Den Banker-Tarzan unterscheidet vom Kleinkriminellen-Tarzan nur der fehlende Schnurrbart, die jeweiligen Welten, in denen er sich bewegt, unterscheiden sich, wenn es drauf ankommt (unter anderem sind Frauen in beiden nur Verfügungsware, eine Tatsache, zu der sich der Film vielleicht insgesamt doch etwas zu wenig verhält), so gut wie gar nicht. Am Ende wird Arturo wieder dort landen, wo er angefangen hat.
Die eine Szene, die über den Fatalismus hinausweißt, den der Film ansonsten brillant und nicht ohne Humor durchexerziert (running gag ist ein Fußballspiel Mexiko - Deutschland, dessen Ergebnis ebenfalls schon von Anfang an fest steht), findet in Arturos Arbeitsplatz, der Bank, statt. Er sucht dort Hilfe, seine Chefs sollen ihm gegen den korrupten Polizisten beistehen. Minutenlang irrt Arturo durch diese Bank, in der plötzlich niemand mehr zu arbeiten scheint. Anstatt, wie vorher im Film stets, den Aufzug zu benutzen, nimmt er das Treppenhaus und scheint in einer anderen Welt zu landen. Schon im Treppenhaus trifft er auf ein knutschendes Paar, weiter oben auf eine sonderbare Feier. Die meisten Büros sind leer. Tarzan läuft ins Nichts, je aufgeregter er nach seinem Chef fragt, desto indiferrenter werde die Antworten der wenigen Menschen denen er überhaupt noch in der Bank, die davor von - gleichfalls freilich nur scheinbar zielgerichteten - Wichtigtuern bis zum Rand gefüllt war. Hier, in der ihre Funktionalität nicht mehr preisgebenden Architektur des Geldinstituts, bricht Arturo zusammen und findet sich damit ab, dass er in Zukunft wieder Handtaschen stehlen muss. Sein Glaube an die eigene Handlungsmacht, an die Möglichkeit, Herr seines eigenen Schicksals zu werden, verschwindet angesichts einer nicht nur entpersonalisierten, sondern gleichzeitig enträumlichten institutionellen Logik.

Demnächst im Videodrom

Tuesday, February 17, 2009

Rabioso sol, rabioso cielo, Julian Hernandez, 2008 (Berlinale Nachlese 1)

Mein allerletzter Film des regulären Festivals: Eine gut dreistündige schwule Stummfilmoper, ein wahnwitziges Meisterwerk (oder zumindest nahe dran) irgendwo zwischen expressionistischem Stummfilm und Weerasethakul.
Rabioso sol, rabioso cielo beginnt mit einer Frau, die aus einer Autobahnbrücke durch eine Serie kreisrunder Öffnungen in die Stadt Mexico City eintritt. Der Film bleibt zunächst bei dieser Frau. Seine leuchtenden Schwarz-Weiß-Bilder folgen ihr durch ihre eilige, aber nicht zielgerichtete Passage durch die Stadt. Manchmal entfernt sich die Kamera, sucht an der Bushaltestelle oder im Bus selbst nach anderen Passanten, verharrt kurz auf Zufallsgesichtern, kehrt wieder zu ihr zurück. So sehr wie hier wird sich der Film, dem alles Soziologische von Grund auf fremd ist, später nie wieder für die Stadt interessieren. Es wird Nacht, die Kamera fährt immer näher an die Frau heran, schließlich trifft diese einen jungen Mann. In der ersten von vielen im starken Sinne choreografischen Szenen des Films nähern sich die beiden an, sie lauthals lachend, er schweigend und vehement. Leuchtende Körper, illuminiert durch Weichzeichner, rhythmische Blick- und Bewegungsfolgen. Dann haben sie Sex in ihrer Wohnung, in einer einzigen, langen Einstellung in Aufsicht.
Vom Gesicht der Frau am nächsten Morgen schneidet der Film in die Toilette eines Pornokinos. Die nächsten gut eineinhalb Stunden verbringt der Film auf dieser Toilette, im Kino selbst, Ausflüge nach draussen sind selten. Es entspinnt sich ein Reigen schwuler (nichtexpliziter) Sexszenen, die sich ganz langsam zu einer Erzählung um drei Männer fügen: Ein junges Liebespaar (einer davon ist der junge Mann aus der Anfangsszene) und ein Dritter ohne feste Affiliation. Dieser Dritte ist ein obsessiv Suchender, bei dem das Misslingen der Suche schon in dieser selbst angelegt ist und der im Filmverlauf lernen muss, die scheiternde Suche als Wert an sich nicht zu akzeptieren, sondern zu entdecken. Nie macht der Film aus diesem Dritten oder aus einem seiner anderen Figuren einen gebrochenen Helden, auch keinen Aussenseiter. Das Pornokino wird nie zu der Freakansammlung aus Tsai Ming Liangs grandiosen Goodbye, Dragon Inn. Freilich geht es in Letzterem auch nicht um ein Pornokino, insofern ist das ein schlechter Vergleich, wichtig ist aber, dass Hernandez sich für sein Kino nicht als subkulturelles Milieu interessiert (auch nicht im Sinne eines utopischen Ortes der befreiten Sexualität), sondern lediglich als idealen, letztlich kontingenten Schauplatz für sein Kino der Triebe.
Trotz des straighten Sex zu Beginn geht es in Rabioso sol... nicht um fluide sexuelle Identitäten. Der Film ist durch und durch schwul, der Prolog verweist ausschließlich auf das metaphysisch-fantastische Finale (dazu unten mehr) und resultiert in keiner Verqueerung. Hernandez sucht nicht die Ambivalenz, sondern eine Ästhetik des schwulen Begehrens (oder eine schwule Ästhetik des Begehrens?) in Reinform. Er findet diese in einer bedingungslosen Affirmation der Körper und in einer opernhaften Filmsprache, die dem Stummfilm (und zwar den naiven Epen der 10er-Jahre genauso wie dem der deutschen Expressionisten) ebenso nahe ist wie Garrel oder Cocteau.
Hernandez interessiert sich auch da nicht für Brüche und Differenzen, wo er Modernismusmarker einsetzt. Dialoge benötigt der Film gar nicht, Sprache kaum. Letztere findet in den Film als ganz und gar körperloser Voice-Over-Kommentar. Es besteht dieser selten nur aus einer Stimme, meist sind die Stimmen multipel, sie chargieren zwischen materialisiertem Bewusststeinsstrom und Halluzination, sie verfolgen imer das Ziel der Intensivierung. Ziel ist nie die Verfremdung als ein Modus der Abstandnahme von etwas Vorgefundenem, es geht um eine Annäherung an etwas, das entweder nicht unmittelbar gegeben ist, oder zu unmittelbar für realistische Modi der Darstellung.
Auch sonst hält der Film Abstand zwar nicht zur Form, wohl aber zur ästhetischen Haltung der Modernismen. Im Gegensatz zu den Filmen Garrels, mit dem Hernandez den obsessiven Zugriff auf den Schauspielerkörper teilt, bleiben die Protagonisten in Rabioso sol, rabioso cielo strikt handlungsorientiert. Aus der Reduktion der Subjektivität auf das sexuelle Verlangen folgt keine Krise der ersteren. Ganz im Gegenteil findet sie am Ende auf durch und durch romantische Weise (im Happy End, nonetheless) zu sich selbst.

Und Weerasethakul? Eine direkte Bezugnahme auf den Thailänder leite ich aus Armond Whites Syndomes and a Century-Semiverriss ab, in welchem eine solche behauptet wird. Mir scheint aber jenseits dieser nicht unbedingt bombensicheren Quelle eine solche sehr wahrscheinlich. Im Grunde ist Rabioso sol... ein Tropical Malady-Remake. Wie Tropical Malady, so bricht auch Rabioso sol... die schwule Liebesgeschichte (bei Hernandez eine Geschichte mit einem Beteiligten mehr) irgendwann ab. In diesem Fall wird die emphatische Zerstörung des Filmmaterials aus Tropical Malady nur noch symbolisch vollzogen, durch einen roten Farbfleck, der sich auf der Leinwand ausbreitet. Wie bei Weerasethakul folgt auf den Zusammenbruch der repräsentativen Modelle ein neuer Filmabschnitt, der anderen Regeln folgt und in einer anderen Welt spielt.
Bei Hernandez ist diese andere Welt die Welt einer nicht genau spezifizierten, aber deutlich klassisch antik geprägten Mythologie. Kahle Berge, grün leuchtend, anstatt, wie vorher, schwarz/weiß. Männerkörper, die noch mehr leuchten als zuvor. Ein Frauenkörper, der nicht mehr von dieser Welt ist. Wie in Tropical Malady wird die Verbidung zwischen den Filmabschnitten zunächst nur über die identischen Hauptdarsteller hergestellt. Doch noch weniger als bei Weerasethakul ist bei Hernandez diese narrative Konstellation als Erzählexperiment interessant. Der Film erklärt seinen letzten, einstündigen Abschnitt selbst (und das, obwohl er sonst überhaupt nichts erklärt, sondern alles nur zeigt) als mythologische Bearbeitung und Überwindung seiner schematischen Grundkonstellation sexueller Eifersucht und unerfüllter Liebe.
Noch stärker als bei Weerasethakul (der auch viel eher ein klassisch queerer Regisseur ist, obwohl Homosexualität weitaus weniger zentral ist in seinem Werk) geht es vor allem zum zwei unterschiedliche Modi der Erfahrung, der Bezugnahme auf das Körperliche, die sich in den beiden Filmabschnitten - die sich vor allem anderen durch ihre jeweilige Materialästhetik unterschieden - machen lassen.

(Es gibt, nebenbei, noch andere Parallelen zu Weerasethakul: Zum Beispiel heftet sich kleiner, aber unübersehbarer Fetisch an das geschriebene, im Gegensatz zum gesprochenen Wort, außerdem gibt es auch bei Hernandez den - wiederum um ein vielfaches ausgeprägteren - affirmativen Einsatz verkitschter Popmusik.)

Monday, October 13, 2008

In passing

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Cuba, une odyssée africaine, Jihan El-Tahri, 2007

Knapp drei Jahrzehnte post/neokoloniale Verwicklungen in Japan bereitet die Ägypterin Jihan El-Tahri auf und nutzt dabei als Fokus das kubanische Engagement auf dem Kontinent, von Ches unglücklichem Kongoausflug zwecks Unterstützung Kabilas über die logistische Hilfen für Amilcar Cabral in Guinnea-Bissau bis zur massiven militärischen Präsenz im Angola der Achtziger Jahre. Produziert con unter anderem BBC und Arte entwickelt die Regisseurin ihr Material als größtenteils lineares Narrativ, durchzogen von kleinere und größeren Spannungsbögen. Geschichte ist auch in Cuba, une odyssée africaine die Geschichte großer Männer. Aber die Tatsache, dass in diesem Fall die meisten dieser großen Männer keine weißen Männer sind, ist beileibe nicht zu vernachlässigen. Cuba, une odyssée africaine mag kein besonders avanciertes Verständnis von Geschichtsschreibung zugrunde liegen (angesichts der beteiligten Produzenten verwundert das nicht), doch in diesem Fall rechtfertigt das Anliegen die Mittel - unzulässig manipulativ ist der Film ohnehin nicht, technisch bleibt alles dezent, der Voice-Over-Kommentar beschränkt sich aufs Faktische, die Interviewaussagen werden weder eindeutig be-, noch widerlegt.

Die Interviews sind es denn auch, die, neben raren Archivaufnahmen, den besonderen Reiz des Films ausmachen. Zahlreiche Überlebende beider (oder besser: aller denn bei aller Linearität taucht der Film doch tief ein ins Dickicht der postkolonialen Akronyme) Seiten erzählen erstaunlich freimütig über die Vergangenheit, ein ehemaliger CIA-Agent, der zu Zeiten Lumumbas / Mobutus im Kongo stationiert war, äußert sich, per Plastikschlauch mit Sauerstoff versorgt, ganz besonders freimütig.

Am Ende wird von verschiedenen Zeitzeugen und schließlich auch vom Voice-Over-Kommentar gefordert, das kubanische Engagement in Afrika neu zu bewerten, in seinen proklamierten Zielen ernst zu nehmen und gemäß seiner beachtlichen Erfolge zu würdigen. Angesichts der enormen Fülle an solide aufbereitetem Material, das El-Tahri präsentiert, dürfte ein Einspruch gegen diese Forderung schwierig werden.

Le sourire du serpent, Mama Keita, 2007

Fast der ganze Film spielt innerhalb einer Nacht und an einer Bushaltestelle in der industriellen Wüste irgendwo in der französischen Provinz. Dort muss sich die osteuropäische Prostituierte Marion mit dem illegalen afrikanischen Einwanderer Adama zusammentun, um die Nacht zu überstehen. Bald beginnen beide zu ahnen, dass sie nicht alleine sind.

Lange bleiben sie im Ungewissen und auch der Film lässt bis kurz vor Schluss offen, was Wahnvorstellung der drogensüchtigen Marion ist und was nicht. Tolle Einbrüche des Fantastischen in den Low-Budget-Handkamerarealismus des restlichen Flms sind das, wilde Kamerafahrten unterlegt mit effektiven Synthesizerklängen. An dem Film gefällt gerade diese Ambiguität: Einerseits ist Le sourire du serpent durchaus ein Horrorfilm, andererseits verweigert er sich der Dynamik des Genres und funktioniert, trotz Beschränkung von erzählter Zeit und Handlungsraum, eher anekdotisch.

Immer wieder neue Konstellationen entwirft Mama Keita zwischen Marion und Adama, immer wieder neue Bilder gewinnt er der Bushaltestelle und den paar sie umgebenden Straßen ab. Wie sich zwei Ausgestoßene in einer denbar feindseligen Umgebung zueinander verhalten können und was die Klischees des Horrorfilms (unter anderem eine schwarze Katze) dem hinzuzufügen haben, das erprobt der Film in verschiedenen Variationen. Es macht Freude, ihm dabei zuzusehen.

Misterios de ultratumba, Fernando Mendez, 1959

Ein klassischer Horrorfilm aus Mexiko mit einem wilden Plot, dessen Einzelheiten hier nichts zur Sache tun. Es geht um Spiritismus und verrückte Wissenschaftler hauptsächlich. Wichtiger ist der Schauplatz: Misterios de ultratumba spielt über weite Strecken in einer psychiatrischen Klinik.

Diese wird durchzogen von seltsamen Gestalten und wogenden Schatten. Eine Patientin hat einen hysterischen Anfall nach dem nächsten und kann nur beruhigt werden mithilfe einer Spieluhr. Sobald diese erklingt, fängt sie an, selig zu Lächeln und folgt dem Gerät blind und glücklich. Wenn die Spieluhr verstummt, schlägt sie alles kurz und klein.

Die Psychiatrie ist ein Laboratorium aus exaltierten Tönen und exaltierten Schatten. Misterios de ultratumba orientiert sich optisch am expressionistischen deutschen Stummfilm und zwar so deutlich, wie ich es ansonsten noch bei fast keinem Tonfilm gesehen habe (direkte Hommagen a la Guy Maddin ausgenommen). In der mexikanischen Psychiatrie wird jede Szene neu zusammengesetzt aus wilden Tönen und Bildern, die oft miteinander konfligieren und nicht einmal mehr im Ansatz eine vorgängige Welt voraus setzen. Alles wird expressiv, alles hat Bedeutung, jede Motivierung ist möglich (die psychologische, die narrative, die metaphysische) außer der realistischen.

Tuesday, February 12, 2008

Subida al cielo / Ascent to Heaven, Luis Bunuel, 1952

Ein chaotischer, wunderbarer Film von Bunuel. Gleichermaßen weit entfernt vom avantgardistischen Früh- wie vom aufwändig produzierten Spätwerk, ein kleiner Film mitten im populären Kino. Die Autorenambition scheint am Rande durch, in kleinen Details, zu surrealistischen Höhen schwingt Bunuel sich nur einmal, anlässlich einer Traumsequenz, auf.
Ansonsten herrscht kreatives Chaos. Mit Betonung auf Chaos: Vom exotischen Dokudrama, welches der einführende Off-Kommentar verspricht, ist weit und breit keine Spur. Auch das noirige Familienmelo der ersten Viertelstunde verläuft bald im Nichts, beziehungsweise in einer Busfahrt.
Diese macht den Hauptteil des Films aus. Eine Horde wild zusammengewürfelter Gestalten fährt in einem klapprigen Gefährt durch Mexiko. Wer warum wohin will, ist von Anfang an mehr als unklar. Und so verwundert es nicht, dass so gut wie niemand irgendwo ankommt. Nicht einmal der Busfahrer. Der lädt statt dessen seine gesamten Fahrgäste auf die Geburtstagsfeier seiner Mutter ein. Außerdem mit von der Partie: Eine Femme Fatale, die die frisch verheiratete Hauptfigur verführt (was auch niemand wirklich stört, der Held runzelt ein paarmal gequält die Stirn beim Geanken an seine Untreue, als er am Ende wieder nach hause kommt, fällt er dennoch sofort seiner Frau in die Arme), ein wahrscheinlich korrupter und noch wahrscheinlicher reaktionärer Politiker, der einen Traktor mit vorgehaltener Waffe entführt, ein Mann mit Holzbein, über den sich alle lustig machen, als dieses im Schlamm stecken bleibt, Kinder, die über das Holzbein stolpern, Schafe, die über die Kinder stolpern, eine Gruppe Touristen, die eine authentische Siesta erleben möchten und natürlich sofort zu Objekten der Begierde der Femme Fatale werden.
Noch jede Idee bleibt auf halbem Weg stecken, die Abenteuerfilmelemente (Blitz und Donner während der Busfahrt) meint Bunuel noch weniger ernst als alles andere. Doch all die kleinen, nicht auch nur halbwegs ausformulierten Ideen ergeben in ihrer Gesamtheit durchaus einen großen Film.

Thursday, January 24, 2008

Berlinale 2008: Eisenbahnfilme

La frontera infinita, Juan Manuel Sepulveda, 2007

RR, James Benning, 2007

Kurz vor Ende des Films findet La frontera infinita doch noch das große Bild, auf welches Sepulveda vorher schon das eine oder andere Mal aus war: Ein Güterzug setzt sich langsam in Bewegung und beginnt eine langsame, mühselige Fahrt durch das struppig-chaotische Mexiko. Dutzende oder gar Hunderte von Menschen springen auf und in die Waggons, wer kein Platz im Inneren findet, bedeckt sich mit Laub, damit die allgegenwärtige Migra am Zugriff gehindert wird. Bestenfalls im Schritttempo bewegt sich der Zug vorwärts, einem utopischen Ort entgegen, der zwischen sich und diesen Passagieren zur selben Zeit eine Mauer hochzieht.
In der Mitte des Films präsentiert La frontera infinita einen anderen Zug, in einer historischen Aufnahme, die wohl vom Beginn des 20. Jahrhunderts datiert. Ein Personenzug diesmal. Doch, wie der hier urplötzlich auftauchende Voice-Over Kommentar erklärt, ist ein solcher Zug nie für die Mexikaner selbst gedacht, sondern immer für die anderen, die Ausländer, die Kartenbesitzer. Für die Mexikaner bleibt nur der Güterzug, als blinde Passagiere im Warenkreislauf riskieren sie ihr Leben und inbesondere, wie der Film eindrücklich deutlich macht, ihre Gliedmaßen, um der perspektivlosen Gegenwart zu entkommen.
Nicht ganz sicher scheint sich der Film zu sein, wie er sein ehrevolles Projekt in Angriff nehmen soll. Die halbinszenierten Sequenzen zu Beginn funktionieren tendenziell besser, als die späteren genuin dokumentarischen. Wenn etwa einer der Betroffenen seine Kameraden über das Unheil aufklärt, welches die USA über die dritte Welt gebracht haben, kann er doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nirgendwo lieber leben würde als im Land George W. Bushs. In einer anderen Sequenz stehen mehrere potentielle Immigranten hilflos vor einer großen Landkarte, deren positivistisches Raumverständnis mit der konkreten Lebenswirklichkeit der Mexikaner unvereinbar ist.
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Sepulvedas Züge durchqueren Raum, Bennings Züge durchqueren Zeit. Jede Einstellung in RR beginnt mit der Einfahrt/Anfahrt eines Zuges und endet mit der Ausfahrt respektive dem Stillstand eines Schienenfahrzeugs. Kleine Tricks gibt es freilich auch: Einmal fährt ohne jede Vorwarnung ein zweiter Zug im rechten Winkel zum ersten durchs Bild, noch dazu einer mit den identischen Güterwaggons. (EDIT: Stimmt gar nicht, es ist derselbe Zug, die Kamera stand hier - ähnliche Perspektive wie im ersten Bild von oben - und so kommt man da hin) Und richtig heikel wird das Konzept auf dem Rangierbahnhof. Dennoch dienen die Züge primär als letztlich kontingente Zeitmarker. Die einzelnen Waggons sorgen für Mikrounterteilung, wenn sie das Bild verlassen oder ein herausgehobenes Landschaftsmerkmal passieren. Interessanter ist eigentlich, was neben den Zügen passiert, innerhalb des von diesen markierten Zeitfensters. Meistens freilich: Gar nichts. Ein Baum ist ein Baum ist ein Baum. Schmetterlinge werden zu Akteuren, Autos und Motorboote zu Großereignissen. Einmal bellt ein Hund. Manchmal scheint irgendwo ein Radio positioniert zu sein. Daraus tönt es dann stets sehr amerikanisch, manchmal in Text-, manchmal in Musikform. Korrespondierend dazu Amerikafahnen auf Lokomotiven und einmal auch im Hintergrund. Das Themenfeld Amerika-Landschaft-Eisenbahn ist gesetzt, wird aber natürlich in keine Richtung ausformuliert.
Keine Frage: RR hat meditative Qualitäten und ist gleichzeitig ein Spannungsfilm: Wird nicht jeden Moment vielleicht doch Godzilla ins Bild treten und dem harmonischen Rattern und Tuckern ein Ende bereiten? Oder wäre es nicht fabelhaft, wenn nach einer von der Kamera nicht einsehbaren Kurve eine andere Lokomotive ins Bild fahren würde, als die, die vorher zu sehen war? Dennoch mag mir RR, anders als der grandiose 13 Lakes, nicht so recht einleuchten. Vielleicht nur, weil ich zurzeit zu oft tagsüber im Kino sitze. Vielleicht aber auch, weil mir Züge die Raum durchqueren lieber sind.

Monday, November 12, 2007

The Heartbreak Kid, Peter & Bobby Farrelly, 2007

Die amerikanische Komödie zeigt auch weiterhin die Bilder, die der Rest Holly- und Indiewoods auslässt. Sei es in bester Gross-Out-Tradition üppige Schambehaarung samt Intimpiercing während dem Urinieren oder in einer ziemlich unglaublichen Sequenz der Kampf Ben Stillers und einer Gruppe mexikanischer illegaler Immigranten gegen die amerikanische Grenzpolizei. Mann muss sich die Radikalität, die sich in dem Film verbirgt vor Augen halten: In einer Sequenz wird der inzwischen bereits stark heruntergekommene Ben Stiller bei dem Versuch, in einem Eisenbahnwagon die Grenze zu überqueren, humorlos zusammengeschlagen und kurzerhand wieder aus dem Zug geworfen. Gerade weil vieles allzu krude ist in The Heartbreak Kid (aber gleichzeitig nichts so konsequent antirealistisch wie in Zoolander oder Anchorman), gerade weil die mexikanischen Charaktere allesamt Abziebilder der übelsten Sorte sind, brechen in diesen und ähnlichen Sequenzen reale diskurse mit aller Macht in den Film hinein. Das Drehbuch, ein mit jeder Menge over the top Body Humor angereichertes Standart RomKom-Skript, kann und soll den in alle möglichen Richtungen auseinanderstrebenden Film nicht bändigen.
Die Topografie des Films definiert sich nicht etwa durch die verschiedenen Reisen zwischen Amerika und Mexiko, sondern über die Opposition zwischen Bible Belt (People with Guns) und San Francisco. Im ersteren sitzt eine ausdifferenzierte Redneckfamilie, in letzterem Malin Akerman als Lila, hinter deren hippen Fassade alle Abgründe der Gegenkultur auf einmal versammelt sind: Ungenügende Körperpflege, Drogenkonsum, materielle Selbstausbeutung, Sex als Leistungssport, etwas zu euphorische Aneignung von Popkultur etc. Mexiko (eingefürt jeweils durch wunderbare tourismusaffine Montagen, die von Anfang an klar machen, dass es um den amerikanischen Blick auf das Land geht und nicht etwa um dieses selbst - wie überhaupt der Film bei jeder Gelegenheit in stylische Helikoptershots cum Popmusik ausbricht) dient nur als Katalysator.

Sunday, March 18, 2007

El laberintho del fauno, Guillermo del Toro, 2006

Guillermo del Toro gelingt in Pan's Labyrinth ähnlich Erstaunliches wie bereits vor einigen Jahren in The Devil's Backbone. Wiederum verbindet sich auf sonderbare Weise ein realer Geschichtsdiskurs mit einer durchaus genrekonformen Fantasyerzählung, welche diesmal nicht dem Geisterfilm, sondern einer blutigeren Abart des Märchenfilms, durchaus in der Richtung Tim Burton / Terry Gilliam entnommen zu sein scheint. Dass Vergangenheitsaufarbeitung dieser Art - historisierender magischer Realismus? - auch daneben gehen kann, ja auf den ersten Blick fast daneben gehen muss, bewies zuletzt unter anderem Jeunets unerträglicher Un long dimanche de fiançailles. Der Vergleich liegt auch deshalb nahe, da auch Pan's Labyrinth, ähnlich wie The Devil's Backbone nicht davor zurückschreckt, seine Bilder mit einer nostalgisch-warmen Patina zu überziehen. Szenerien, wie durch eine getönte Glasscheibe beobachtet, Fascho-Uniformen, denen eine eigentümlich pittoreske Wirkung zukommt.
Was unterscheidet Del Toro von Jeunet? Auf der Ebene der filmischen Form vielleicht gar nicht so viel. Ein wenig mehr Zurückhaltung bei den Versuchen, eine fiktive Welt zu erschaffen, weniger Establishing Shots, der Verzicht auf ausstattungsausstellende Plansequenzen, der dezentere Einsatz von Musik? Vielleicht insgesamt die Tatsache, dass Del Toro seine fiktive Welt immer deutlich bewußter, reflektierter moduliert, in vielen Sequenzen die Techniken des Continuity System zugunsten einer Technik außer Kraft setzt, die Zeit und Raum der Montage unterordnen und nicht umgekehrt. Jedoch auf sehr subtile Weise, beispielsweise durch "Baumblenden": Die Kamera schwenkt von einer Szenerie auf einen Baum und was auf der anderen Seite desselben zum Vorschein kommt, entspricht nicht der erwarteten Perspektive.
Nie versucht sich der Film an den angeberischen, affirmativen Totalen, den Authentizitätsbekundungen des konventionellen Historiendramas, wie es derzeit auch verstärkt das deutsche Kino heimsucht. Die Artifizialität der Diegese bleibt stets bewußt, ausgestellt. Und doch legt der Film Wert auf historische Zeichen, die jedoch genau in ihrer Zeichenhaftigkeit (als historisch determinierte Zeichen eines fiktionalen Films) lesbar bleiben und keinen Anspruch darauf erheben, in dem Spielfilm fremden Diskursen wie der Historiografie eindringen zu wollen. Keinen Angriff auf das nationale kulturelle Gedächtnis Spaniens hat Del Toro im Sinn.
Fast noch sonderbarer ist der Erfolg des Films in Bezug auf die in das historische Setting eingebundenen Fantasyelemente. Der Übergang zwischen beiden Welten ist oft direkt im Bild präsent, wenn Kreidestriche sich zu einer magischen Tür öffnen oder ein fliegendes Insekt sich in eine Fee verwandelt. Der besondere Reiz dieser Abschnitte (auch wenn mir der Film in dieser Hinsicht nicht ganz so gut gefallen hat wie The Devil's Backbone, der die beiden Ebenen noch etwas sinnvoller in Bezihung setzten konnte) geht wohl nicht zuletzt darauf zurück, dass Del Toro nicht davor zurückschreckt, die onirischen Bilder mithilfe einiger viszeralen Exzesse zu erden. Durchbohrtes Fleisch und jede Menge Insekten (bereits seit dem ziehmlich großartigen Mimic ein fester Bestandteil der Del Toroschen Welt) sorgen dafür, dass die Flucht in die Traumwelt für die kleine Ofelia immer in genuin körperlichen Erfahrungen endet.